Sechstes Kapitel.
Als Herren an Bord.

[68] Der Streich war gelungen. Der erste Teil des Dramas hatte sich mit all seinem entsetzlichen Schrecken und infolge tollkühnster Waghalsigkeit schnell abgespielt.

Früher der der »Halifax«, war Harry Markel jetzt der Herr des »Alert«.

Niemand hätte eine Ahnung von dem hier Vorgefallenen haben, niemand ein Verbrechen zur Anzeige bringen können, das in einem der verkehrsreichsten Häfen Großbritanniens, am Eingange zur Bai von Cork begangen worden war, wo so viele Fahrzeuge vor Anker gehen, die die Verbindung Europas mit Amerika unterhalten.

Jetzt hatten die Mordgesellen die englische Polizei nicht mehr zu fürchten, an Bord des »Alert« suchte diese sie gewiß nicht. Jetzt hinderte sie nichts[68] mehr, ihre Seeräubereien auf den entfernten Gewässern des Großen Ozeans wieder aufzunehmen. Sie brauchten nur die Anker aufzuwinden, nach dem offenen Meer zuzusteuern und in wenigen Stunden hatten sie dann den Sankt-Georgskanal hinter sich liegen.

Kamen freilich die Pensionäre der Antilian School an, um sich am Morgen des nächsten Tages einzuschiffen, so lag der »Alert« nicht mehr an seinem Ankerplatz und man würde vergeblich in der Bai von Cork und im Hafen von Queenstown nach ihm sachen.

Wie hätte man sich sein Verschwinden wohl erklären sollen?... Welche Mutmaßungen wären da gehegt und erwogen worden? Wären der Kapitän Paxton und seine Mannschaft vielleicht gezwungen gewesen, unter Segel zu gehen, selbst ohne die angemeldeten Passagiere abzuwarten? Doch aus welchem Grunde? Schlechtes Wetter konnte es nicht gewesen sein, das den »Alert« genötigt hätte, die Farmarbucht zu verlassen. Der Seewind machte sich kaum in der Einfahrt zur Bai bemerkbar... Die Segelschiffe lagen auch alle regungslos still. Nur einige Dampfer waren seit achtundvierzig Stunden ein- oder ausgelaufen. Noch am vorigen Abend hatte man den »Alert« an seiner Stelle liegen sehen, und anzunehmen, daß er in der Nacht angesegelt worden und infolge eines solchen Zusammenstoßes untergegangen sei, ohne daß auch nur ein Trümmerstück von ihm zu entdecken wäre, das war doch gar zu unwahrscheinlich.

Es lag also die Annahme nahe, daß die Wahrheit nicht so schnell und vielleicht überhaupt niemals an den Tag kommen werde, wenn nicht eine von den Leichen an den Strand getrieben wurde und das Geheimnis des furchtbaren Blutbades entschleierte.

Für Harry Markel blieb es immerhin wichtig, den Ankerplatz in der Farmarbucht baldigst zu verlassen, den »Alert« also bei Tagesanbruch von seiner früheren Stelle weggeführt zu haben. Begünstigten ihn dann die Verhältnisse beim Austritte aus dem Sankt-Georgskanal, so würde er, statt nach Südwesten in der Richtung nach den Antillen, einen Kurs nach Süden einschlagen, und Harry Markel gedachte in diesem Falle darauf zu achten, daß der »Alert« niemals in Sicht eines Landes käme und sich so weit wie möglich von dem gewöhnlichen Wege entfernte, den die nach dem Äquator segelnden Schiffe fast alle einhalten. Dann mußte der Vorsprung, den er hatte, ihn dagegen sichern, wieder aufgebracht zu werden, wenn man etwa einen Aviso zu seiner[69] Aufsuchung absendete. Übrigens konnte vorläufig kein Mensch auf den Gedanken kommen, daß der Kapitän Paxton mit seinen Leuten nicht an Bord des von Mrs. Kathlen Seymour gemieteten Schiffes wäre. Warum er ausgelaufen sei, das würde sich ja später zeigen, und zunächst erschien es gewiß angezeigt, wenigstens einige Zeit auf die Aufklärung des seltsamen Vorfalls zu warten.

Harry Markel hatte ohne Zweifel also die günstigsten Aussichten. Seine neun Mann mußten vollkommen für die vorkommenden Arbeiten auf dem »Alert« ausreichen. Alle waren ja, wie erwähnt, tüchtige Seeleute, die ihrem Kapitän ein unbegrenztes und auch verdientes Vertrauen entgegenbrachten.

Alles stimmte also überein, den Erfolg des verbrecherischen Unternehmens zu sichern. War das Schiff nach einigen Tagen in der Bai von Cork nicht wieder erschienen, so mußte das Seeamt glauben, daß es nach der aus unbekannten Gründen erfolgten Abfahrt im Atlantischen Meere mit Mann und Maus untergegangen sei. Jedenfalls konnte niemand der Gedanke kommen, daß sich die aus dem Gefängnisse von Queenstown entwichenen Häftlinge seiner bemächtigt haben könnten. Die Polizei setzte gewiß ihre Nachforschungen fort und dehnte diese auch auf die Umgebung der Stadt aus. Die ganze Grafschaft wurde voraussichtlich strengstens überwacht und das Land weithin mit Steckbriefen überschwemmt. Kurz, niemand würde daran zweifeln, daß die Verbrecherbande bald wieder hinter Schloß und Riegel käme.

Nur eines machte deren Lage doch etwas bedenklicher: die Unmöglichkeit, sofort abfahren zu können.

Das Wetter hatte sich nicht geändert und schien auch keine Neigung zu haben, bald umzuschlagen. Noch immer der feuchte Nebel, der aus niedrigen Luftschichten herabrieselte. Die unbeweglichen Wolken schienen sich zur Meeresfläche herabsenken zu wollen. Zuweilen konnte man nicht einmal den doch so hellen Lichtschein des Leuchtturmes am Eingange der Bai wahrnehmen. Bei der tiefen Finsternis versuchte es gewiß kein Dampfer, hinaus oder herein zu kommen. Jeder hätte sich damit großen Gefahren ausgesetzt, da nicht einmal die Leuchtfeuer der Küste und des Sankt-Georgskanals zu erkennen waren. Segelschiffe aber mußten draußen einige Seemeilen von der Küste schon wegen der Windstille liegen bleiben. Das Meer »fühlte nichts«, wie die Seeleute sagen. Kaum bewegte sich die Oberfläche der Bai von der langsam eindringenden Flutwelle, kaum plätscherte das Wasser hörbar am Vordersteven des »Alert«, und das am Hinterteile angeseilte Boot rührte sich nicht von der Stelle.[70]

»Nicht einmal Wind genug, meine Mütze zu füllen!« rief John Carpenter und begleitete seine Worte mit einem gemeinen Fluche.

An ein Abfahren war also nicht zu denken. Träge hingen die Segel an den Masten herunter und das Schiff wäre mit dem Flutstrome höchstens nach dem Hafen von Queenstown getragen worden.

Beim Wechsel der Gezeiten führt das vom hohen Meere eindringende Wasser gewöhnlich etwas Wind herbei, und obgleich ein solcher jetzt eine widrige Richtung gehabt hätte, würde ihn Harry Markel doch benutzt haben, lavierend aus der Bai hinaus zu kommen. Der Obersteuermann kannte die Wasserverhältnisse hier so genau, daß die Fahrt des Schiffes unbehindert geblieben wäre, und einmal draußen, mußte es dem »Alert« schon möglich werden, jeden schwachen Windhauch auszunutzen. Wiederholt stieg John Carpenter nach einer der Marsen (Mastkörbe) hinauf, vielleicht hielt nur die von einem steilen, hohen Ufer eingeschlossene Bucht den Wind noch zurück. Nein... vergeblich; der Wimpel am Großmast blieb so schlaff hängen wie bisher.

Alle Hoffnung war jedoch noch nicht verloren, selbst wenn sich vor Tagesanbruch kein Wind erhob. Nach Mitternacht trat wieder der Gezeitenwechsel ein. Mit dem dann einsetzenden Ebbestrome konnte Harry Markel ja versuchen, nach dem offenen Meere zu gelangen. Mit Hilfe der Boote, worin die gesamte Mannschaft Platz nehmen und rudern mußte, konnte der »Alert« ja fortgeschleppt und bis zur Bai hinaus gebracht werden. Harry Markel und John Carpenter hatten an diese Aushilfe gewiß auch schon gedacht. Was geschah aber, wenn das Fahrzeug draußen noch immer in eine Windstille geriet? Fanden die Passagiere das Schiff nicht mehr an seinem Platze, so kehrten sie natürlich zum Hafen zurück, und dort erfuhr man von ihnen, daß der »Alert« abgefahren sei. Dann suchte man ihn jedenfalls in der Bai. Und wenn nun das Hafenamt eine Dampfschaluppe hinausschickte, die es etwa jenseits der Rochespitze einholte? Da wären Harry Markel und seine Leute ja der schlimmsten Gefahr ausgesetzt. Das still liegende Fahrzeug wäre erkannt, bestiegen und durchsucht worden. Dann wurden alle verhaftet und die Polizei erfuhr von dem blutigen Auftritte, der dem Kapitän Paxton und seiner Mannschaft das Leben gekostet hatte.

Es war also augenscheinlich mit einer wirklichen Gefahr verbunden, jetzt abzufahren, da der »Alert« nicht sicher war, draußen auch weiter fortzukommen; freilich lag kaum eine kleinere Gefahr darin, in der Farmarbucht noch länger[71] zu verweilen. Zu dieser Jahreszeit hielten Windstillen nicht selten gleich mehrere Tage hintereinander an.

Jedenfalls mußte ein Entschluß gefaßt werden.

Erhob sich im Laufe der Nacht gar kein Wind und war es also ganz unmöglich, abzusegeln, so blieb Harry Markel und seinen Genossen nichts anderes übrig, als das Schiff wieder zu verlassen, sich im Boote nach dem Hintergrunde der Bucht zu flüchten und sich auf dem Lande in der Hoffnung zu zerstreuen, daß die Bemühungen der Polizei erfolglos sein würden. Später einmal konnte dann vielleicht ein ähnlicher Handstreich unternommen werden. Vielleicht konnten sie auch, in einem Einschnitt des hohen Ufers versteckt, das Wiederaufleben des Windes abwarten und mit Anbruch der Nacht doch noch wieder an Bord zurückkehren. Trafen freilich die Passagiere am kommenden Morgen an dem verlassenen Schiffe ein, so begaben sie sich unzweifelhaft nach Queenstown zurück, und von da schickte man dann Leute aus, den »Alert« zu besetzen und ihn in den Hafen zurück zu schleppen.

Das waren die verschiedenen Fragen, die Harry Markel, der Obersteuermann und Corty eingehend erörterten, während die übrigen auf dem Vorderkastell beisammen saßen.

»Verwünschter Wind! rief John Carpenter wiederholt, wenn man ihn nicht braucht, hat man davon zu viel, und wieder gar keinen, wenn man ihn wie jetzt so dringend nötig hat!

– Und wenn die Flut keinen mitbringt, sagte Corty, dann wird mit dem Eintritt der Ebbe etwas Landwind kommen.

– Aber das Boot, das morgen früh schon seine Ladung Passagiere hierher bringen soll... müßten wir denn diese abwarten?

– Ja, wer weiß, John, wie sich das gestaltet.

– Übrigens sind es zusammen nur zehn, erklärte John Carpenter, und dazu nach dem, was in den Zeitungen zu lesen war, sehr junge Leute mit ihrem Lehrer. Sapperment, wir sind doch mit der Mannschaft des »Alert« fertig geworden, da kann es doch kein so großes Kunststück sein...«

Corty schüttelte mit dem Kopfe, wenn er auch John Carpenters Gedankengang nicht mißbilligte. Er glaubte jedoch hinzusetzen zu müssen:

»Was in der Nacht leicht genug gewesen ist, wird das nur nicht am hellen Tage sein. Die Passagiere könnten auch von Personen aus dem Hafen begleitet werden, von Leuten, die den Kapitän Paxton persönlich kannten. Wassollen wir zur Antwort geben, wenn diese dann fragen, warum er nicht an Bord sei?

– O, man sagt ihnen, er hätte sich ans Land begeben, erwiderte der Obersteuermann, sie fahren dann mit ihrem Boote nach Queenstown zurück, und später...«

Hier in der ziemlich ganz verlassenen Farmarbucht und zu einem Zeitpunkte, wo gerade kein anderes Schiff in Sicht war, mußten die Elenden ja ihre Passagiere ohne Zweifel bald überwältigen können, und vor diesem neuen Verbrechen schreckten sie gewiß nicht zurück. Patterson und seine jungen Begleiter wären ermordet worden, ehe sie an eine Verteidigung denken konnten... ganz wie es der Besatzung des »Alert« ergangen war.

Seiner Gewohnheit gemäß ließ Harry Markel die Leute reden. Er überdachte, was in dieser sehr bedrohlichen Lage notwendig wäre, in die sie durch die Unmöglichkeit, in See zu gehen, versetzt waren. Zögern würde er ja auf keinen Fall, vielleicht empfahl es sich aber doch, noch bis zum nächsten Abend, etwa noch zwanzig Stunden, zu warten. Dabei bestand freilich noch eine erschwerende Tatsache: der Kapitän Paxton war jedenfalls einem oder dem andern persönlich bekannt, und wie hätte man sein Fernsein an dem Tage, ja in der Stunde, die für die Abreise bestimmt war, irgendwie glaubwürdig erklären sollen?


Queenstown.
Queenstown.

Nein, das wünschenswerteste blieb es doch, daß ein aufspringender Wind gestattete, die Segel zu benutzen und sich im Laufe der Nacht so einige zwanzig Seemeilen von Irland zu entfernen. Offenbar hatten sie, wie das Volk sagt, Pech, sich der Verfolgung durch die Polizei nicht sofort entziehen zu können.

Alles in allem blieb aber doch nichts anderes übrig, als sich in Geduld zu fassen. Noch war es nicht elf Uhr, und ein Umschlag der atmosphärischen Verhältnisse vor Sonnenaufgang ja recht wohl möglich, obwohl Harry Markel und seine Leute trotz ihrer Erfahrungen über den Witterungsverlauf noch keine Anzeichen dafür wahrnahmen. Der anhaltende Nebel verursachte ihnen eine gerechtfertigte Unruhe. Er deutete auf eine völlig elektrizitätslose Atmosphäre, auf eine »verrottete Witterung«, wie die Seeleute sagen, von der nichts zu hoffen ist und die sich zuweilen gleich auf mehrere Tage ausdehnt.

Doch wie gesagt, hier gab es nichts anderes, als das weitere abzuwarten, und darauf beschränkte sich auch die Antwort Harry Markels. Zur gegebenen Zeit würde man darüber schlüssig werden, ob es angezeigt sei, den »Alert«[75] zu verlassen und nach einer geeigneten Uferstelle der Farmarbucht zu gehen, um von da aus in das Hinterland zu flüchten. Für jeden Fall versorgten sich die Raubgesellen gleich mit Nahrungsmitteln, nachdem sie sich schon das Geld aus dem Schreibtische des Kapitäns und aus den Reisesäcken der Matrosen angeeignet hatten. Auch die vorgefundenen Kleidungsstücke der Matrosen sollten angelegt werden, da sie nicht so leicht Verdacht erregen konnten als die der Verbrecher, die aus dem Queenstowner Gefängnis entwichen waren. Mit Geld und sonstigen Bedürfnissen reichlich ausgestattet, durften sie vielleicht hoffen, die Nachsuchungen der Polizei zu vereiteln, sich nach einem andern Hafen Irlands begeben und von da nach einem andern Erdteil in voller Sicherheit entkommen zu können.

Vor der letzten Entscheidung mußten also noch fünf bis sechs Stunden vergeben. Harry Markel und seine von der Polizei gehetzte Bande waren schon zum Zusammenbrechen ermüdet gewesen, als sie den »Alert« überrumpelten. Außerdem kamen sie fast um vor Hunger. Sobald sie sich des Schiffes bemächtigt hatten, war es deshalb ihre erste Sorge gewesen, sich Nahrung zu verschaffen.

Der von ihnen, dem diese Aufgabe fast selbstverständlich zufiel, war Ranyah Cogh. Dieser zündete eine Laterne an, durchsuchte die vor dem Fockmaste gelegene Küche und die Vorratskammer an der gemeinschaftlichen Kajüte, nach der er durch eine Treppenkappe hinunterging. Übrigens versprach der Inhalt des Frachtraumes, der mit allen Bedürfnissen für die Hin- und Rückreise ausgestattet war, für die Fahrt des »Alert« nach dem Großen Ozean alles Notwendige zu bieten.

Ranyah Cogh hatte es leicht genug, nicht nur den Hunger seiner Genossen zu stillen, sondern auch ihren Durst: Brandy, Whisky und Gin gab es in hinreichender Menge.

Alle sättigten sich nun zur Genüge, und dann gab Harry Markel, der sich auch an dem Essen beteiligt hatte, John Carpenter und den übrigen Befehl ihre Kleidung gegen die der Matrosen auszutauschen, deren Leichen noch auf dem Decke lagen. Dann könnten sie sich irgendwo, nötigenfalls in der Hauptkajüte, zum Schlaf niederlegen, aus dem sie geweckt werden sollten, wenn es möglich wäre, die Segel zu hissen.

Harry Markel dachte gar nicht daran, sich Ruhe zu gönnen. Ihm lag es zunächst am Herzen, einen Einblick in die Schiffspapiere zu nehmen, der ihm voraussichtlich nach allen Seiten von Nutzen sein mußte. Er begab sich[76] also nach der Kabine des Kapitäns, zündete die Lampe an und öffnete alle Schubladen mit den Schlüsseln, die er den Taschen des unglücklichen Paxton entnommen hatte. Nachdem er daraus verschiedene Schriftstücke hervorgeholt hatte, setzte er sich mit derselben Kaltblütigkeit an den Tisch, von der er im Laufe seines abenteuerlichen Lebens schon so viele Beweise geliefert hatte.

Die verschiedenen Schriftstücke waren, wie nicht anders zu erwarten, in bester Ordnung, da ja die Abfahrt am nächsten Morgen stattfinden sollte. Das Durchfliegen der Mannschaftsrolle belehrte ihn, daß alle Matrosen, zwölf an der Zahl, bei der Überrumplung des »Alert« anwesend gewesen waren Er konnte also sicher sein, daß nicht der eine oder andere an Bord zurückkehren würde, der zu jener Stunde sich in Erfüllung eines Auftrages oder mit Landurlaub in Queenstown befunden hätte. Nein: die Leute waren bis auf den letzten Mann abgeschlachtet worden.

Aus dem Ladungsverzeichnis ersah Harry Markel, daß das Schiff an getrocknetem Fleisch, Dörrgemüsen, Zwieback, an eingesalzenen Nahrungsmitteln, an Mehl u. dergl. für mindestens drei Monate ausgestattet war, und diese Zeit mußte auf jeden Fall genügen, den Großen Ozean zu erreichen. Das Geld im Kassenschranke der Kabine belief sich in runder Summe auf sechshundert Pfund Sterling (12.000 Mark).

Für Harry Markel hatte es ferner ein begreifliches Interesse, die bisherigen Reisen des Kapitän Paxton mit dem »Alert« kennen zu lernen, da es ihm darauf ankam, bei seinen späteren Fahrten keinen der Häfen zu berühren, die der Ermordete früher angelaufen hatte und wo er dem oder jenem gewiß bekannt sein mußte. Harry Markel faßte eben jede Möglichkeit ins Auge und er war nicht der Mann dazu, irgend welche Vorsichtsmaßregel zu vernachlässigen. Die Durchsicht der betreffenden Bücher gab ihm auch den erwünschten Aufschluß.

Der »Alert« war ein erst drei Jahre altes Fahrzeug und in Birkenhead in der Werft von Simpson & Cie. erbaut. Er hatte erst zwei Reisen nach Indien gemacht, dabei die Häfen von Bombay, Ceylon und Kalkutta angelaufen und war dann unmittelbar nach Liverpool, seinem Heimathafen, zurückgekehrt. Da er nach den Gewässern des Großen Ozeans niemals gekommen war, konnte Harry Markel wegen des Feldes seiner geplanten Raubzüge völlig beruhigt sein. Schlimmsten Falles hätte er sich ja auch für den Kapitän Paxton ausgeben können.[77]

Aus dem von dem Kapitän geführten Reisejournal ging ferner hervor, daß er niemals die Antillen – weder die französischen oder englischen, noch die holländischen, dänischen oder schwedischen – besucht hatte. War er von Mrs. Kathlen Seymour erwählt worden, die Stipendiaten der Antilian School dahin zu befördern, und war der »Alert« für diese Reise gechartert worden, so war das auf die besondere Empfehlung eines in Liverpool ansässigen Korrespondenten geschehen, der sich für das Schiff und für den Kapitän verbürgte.

Gegen halb ein Uhr, wo Harry Markel nach dem Auslöschen der Lampe die Kabine wieder verließ, bestieg er das Vorderkastell. Hier trat ihm John Carpenter entgegen.

»Noch immer windstill? fragte er.

– Noch immer, antwortete der Obersteuermann, und auch keine Aussicht auf eine Änderung des Wetters!«

In der Tat rieselte auch jetzt noch der Nebel aus den niedrig hängenden, den Himmel bedeckenden Wolken nieder, wie vorher war es auf der Bai totenstill, eine Ruhe, die von keinem Plätschern der Strömung unterbrochen wurde. Jetzt war eben die Zeit des sogenannten Geviertscheines, wo die Gezeiten zu dieser Jahreszeit nur ziemlich schwach auftreten. Auch die Flutwelle schritt nur langsam durch die Hafeneinfahrt nach Cork hin vor und reichte nicht weiter als zwei Seemeilen im Bette des Lees hinaus.

Der nächste Wechsel des Wasserstandes mußte um drei Uhr früh eintreten und mit ihm wieder die Ebbeströmung bemerkbar werden.

John Carpenter hatte gewiß Ursache genug, über die Widerwärtigkeiten, durch die sie hier zurückgehalten wurden, zu schimpfen. Mit der Ebbe und nur einer Handvoll Wind, mochte er wehen, woher er wollte, hätte der »Alert« unter Segel gehen, die Landspitze an der Farmarbucht umschiffen und die Hafeneinfahrt erreichen können. Selbst wenn man dabei ein paarmal hin- und herlavieren mußte, hätte er bei Tagesanbruch schon weit draußen vor der Bai von Cork sein können. Doch nein... noch lag er hier vor seinem Anker, unbeweglich wie eine Boje oder ein toter Körper. An ein Abfahren unter diesen Verhältnissen war gar nicht zu denken.

Es galt also nur, sich zu bezähmen und vorläufig ohne die Hoffnung auf eine Änderung, wenn die Sonne über die Uferhöhen der Farmarbucht emporstieg. Wiederum vergingen zwei Stunden. Weder Harry Markel noch John Carpenter oder Corty hatten daran gedacht, sich niederzulegen, während[78] ihre Genossen, meist auf dem Vorderdeck längs der Schanzkleidung ausgestreckt, in tiefem Schlummer lagen. Das Aussehen des Himmels änderte sich nicht. Die Wolken blieben an derselben Stelle stehen. Strich auch dann und wann ein schwacher Lufthauch von der Seeseite herein, so erstarb er doch sofort wieder, und nichts deutete darauf hin, daß eine Brise, sei es vom Meere, sei es vom Lande her, aufspringen würde.

Um drei Uhr siebenundzwanzig Minuten, als schon ein fahler Lichtschein über dem östlichen Horizonte stand, stieß das von der Ebbeströmung erfaßte Boot, das noch an der Leine hing, leicht gegen den Rumpf des »Alert«, der sich nun ebenfalls vor seinem Anker drehte und das Heck der Seite des Meeres zuwendete.

Vielleicht kannte man hoffen, daß das Sinken des Wassers ein wenig Nordostwind herbeiführen würde, der es dem Schiffe dann ermöglicht hätte, seinen Ankerplatz zu verlassen und in den Sankt-Georgskanal zu gelangen. Diese Hoffnung täuschte jedoch. Die Nacht verging, ohne daß es möglich wurde, den Anker einzuziehen.


Ranyah Cogh zündete eine Laterne an, durchsuchte die Küche und die Vorratskammer. (S. 76.)
Ranyah Cogh zündete eine Laterne an, durchsuchte die Küche und die Vorratskammer. (S. 76.)

Jetzt wurde es aber dringend nötig, sich der Leichen zu entledigen. Vorher wollte John Carpenter sich nur überzeugen, daß diese nicht durch einen Wasserwirbel in der Farmarbucht zurückgehalten würden. Corty und er bestiegen deshalb das Boot, erkannten aber mit Befriedigung, daß die Strömung nach dem Landvorsprünge der Bucht zu verlief. Die Ebbe nahm das Wasser in dieser Richtung mit.

Das Boot kehrte zurück, legte sich mittschiffs dicht an den Rumpf des Fahrzeugs, und einer nach dem andern wurden die toten Körper darin niedergelegt.

Um ganz vorsichtig zu sein, trieb man das Boot bis zur andern Seite der Landspitze, gegen die sie sonst hätte die Strömung tragen und vielleicht am Strande liegen lassen können.

Dann versenkten John Carpenter und Corty die Leichen eine nach der andern in das stille Wasser, und zwar so behutsam, daß man kaum ein Plätschern hörte. Zuerst versanken die Kadaver, dann stiegen sie wieder zur Oberfläche auf, und von der Ebbeströmung erfaßt, trieben sie hinaus in die Tiefen des Weltmeeres.[79]

Quelle:
Jules Verne: Reisestipendien. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXIII–LXXXIV, Wien, Pest, Leipzig 1904, S. 68-73,75-80.
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