Siebentes Kapitel.
Der Dreimaster »Alert«.

[80] Der »Alert«, ein dreimastiges Barkschiff von vierhundertfünfzig Tonnen, stammte, wie schon erwähnt, aus den Werften von Birkenhead; er war mit Kupfer beschlagen und verbolzt und im Bureau Veritas unter Klasse 1 eingetragen.[80] Am Gaffeltaue die britische Flagge führend, bereitete er sich zu seine dritten Fahrt vor.

Nachdem er bei den zwei ersten Reisen über den Atlantischen Ozean gesegelt, um die Südspitze von Afrika gekommen war und den Indischen Ozean durchkreuzt hatte, sollte er jetzt für Rechnung der Mrs. Kathlen Seymour auf dem Wege nach den Antillen von Anfang an nach Südwesten steuern.

Der »Alert«, bei großer Segelfläche ein guter Läufer, hatte unter allen Verhältnissen alle die vortrefflichen Eigenschaften der schnellen Klipper und brauchte[81] zur Zurücklegung der Strecke von Irland bis zu den Antillen voraussichtlich nicht mehr als drei Wochen, wenn er durch Windstillen keine Verzögerung erlitt.

Von seiner ersten Fahrt an hatte der »Alert« als Befehlshaber den Kapitän Paxton gehabt, als zweiten Offizier den Leutnant Davis und als Besatzung neun Mann, die zur Führung eines Segelschiffes von sei nem Tonnengehalt ausreichten. Bei der zweiten Fahrt, von Liverpool nach Kalkutta, war hierin keine Veränderung eingetreten.


Man trieb das Boot bis zur andern Seite der Landspitze. (S. 80.)
Man trieb das Boot bis zur andern Seite der Landspitze. (S. 80.)

Dieselben Offiziere, dieselbe Mannschaft, die er vorher gehabt hatte, sollte er auch bei dieser Fahrt von Europa nach Amerika behalten. Der Kapitän Paxton verdiente das weitgehendste Vertrauen, er war ein vortrefflicher, ebenso kenntnisreicher, wie gewissenhafter Seemann, der der Mrs. Kathlen Seymour in wärmster Weise empfohlen worden war. Die jungen Preisträger der Antilian School und ihr gelehrter Begleiter fanden an Bord des »Alert«, auf dem für diese Fahrt noch besondere Vorrichtungen getroffen waren, alle Bequemlichkeit und Sicherheit, die deren Eltern ihnen nur wünschen konnten. Die Hin- und Rückreise sollte ja auch in der schönen Jahreszeit erfolgen und die Abwesenheit der Pensionäre der Antilian School nicht zweiundeinhalb Monate überdauern.

Leider stand der »Alert« jetzt nicht mehr unter dem Befehle des Kapitäns Paxton. Seine Mannschaft war auf dem Ankerplatz in der Farmarbucht ermordet worden. Das Fahrzeug befand sich in der Gewalt der Seeräuberrotte von der »Halifax«.

Beim ersten Morgenlichte besichtigten Harry Markel und John Carpenter das Schiff, dessen sie sich bemächtigt hatten, genauer im einzelnen. Auf den ersten Blick erkannten sie seine nautischen Eigenschaften: die Feinheit der Formen, die günstige Gestalt der Wasserlinie, die passende Erhöhung des Vorder- und die angemessene Senkung des Hinterteils, die Höhe seiner Masten, das weite Ausladen der Raaen und die Tiefe seiner Eintauchung, die es gestattete, eine sehr große Segelfläche zu führen. Wäre es ihm möglich gewesen, noch am vergangenen Abend gegen neun Uhr abzufahren, so hätte es, selbst bei ganz schwacher Brise, in der Nacht den Sankt-Georgskanal noch hinter sich gebracht und bei Tagesanbruch wäre es schon dreißig Seemeilen von der irischen Küste entfernt gewesen.

Am Morgen zeigte sich der Himmel noch immer mit niedrig stehenden Wolken oder vielmehr mit Nebelmassen bedeckt, die schon ein mäßiger Wind in[82] wenig Minuten zerstreut hätte. Dunst und Wasser gingen kaum drei Kabellängen vom »Alert« völlig ineinander über. Ob sich bei dem Fehlen des Windes dieser Nebel durch die weiter aufsteigende Sonne auflösen würde, das war mindestens zweifelhaft. Da ein Abfahren einmal unmöglich war, mußte es Harry Markel vorziehen, daß die Dunstmassen sich nie bis jetzt erhielten und das Schiff auf seinem Ankerplatze unsichtbar blieb.

Das sollte jedoch nicht zutreffen. Gegen sieben Uhr und ohne daß auch nur eine Spur von Land- oder Seewind auftrat, wurden die Dunstmassen unter der Einwirkung der Sonnenstrahlen durchsichtiger, was einen warmen Tag versprach, der von keiner Brise gekühlt wurde. Bald lag dann die ganze Bai völlig frei da.

Zwei Seemeilen von der Farmarbucht wurde bald das Panorama des Hafens von Queenstown und darauf, weiter im Hintergrunde, die erste Häuserreihe der Stadt sichtbar. Vorn im Hafen lagen da und dort Segelschiffe vor Anker, die ebenfalls aus Mangel an Wind nicht in See gehen konnten.

So lange der »Alert« von dem dichten Nebel umhüllt wurde, liefen Harry Markel und seine Leute dadurch, daß sie auf dem Schiffe blieben, keinerlei Gefahr. Doch wäre es, sobald die Luft klarer wurde, nicht ratsamer gewesen, davon wegzugehen und sich auf dem Lande zu verbergen? Binnen ein oder zwei Stunden hatten sie ja zu erwarten, die Passagiere des »Alert« empfangen zu müssen, da diese nach dem, was sie noch in der Stadt gehört hatten, am vorigen Abend in Queenstown angekommen waren. Würde es auch noch Zeit sein, wenn sie jetzt den Hintergrund der Bucht zu erreichen suchten, weiter ins Land hinein zu entkommen?

John Carpenter, Corty und die andern hatten sich um Harry Markel gedrängt und erwarteten jeden Augenblick dessen Anordnung, Proviant in das Boot zu schaffen. Mit wenigen Ruderschlägen hätten sie eine flache Strandstelle im Hintergrunde der Bucht erreicht.

Auf eine bezügliche, vom Obersteuermann gestellte Frage antwortete Harry Markel aber nur:

»Wir sind und bleiben an Bord!«

Die Leute, die ihm voll vertrauten, fragten nicht weiter: Harry Markel hatte jedenfalls guten Grund, in dieser Weise zu sprechen.

Auf der Bai wurde es allmählich etwas lebhafter. Zwar keine Segelschiffe, doch mehrere Dampfer begannen mit dem Aufwinden der Anker. Fünf oder[83] sechs Dampfschaluppen glitten von dem einen zu dem andern hin, steuerten in den Hafen ein oder daraus hervor und ließen einen langen Streifen weißschäumenden Kielwassers hinter sich. Keine davon näherte sich jedoch der Farmarbucht. An Bord des »Alert« war nichts zu befürchten.

Gegen acht Uhr freilich wurde es notwendiger, auf seiner Hut zu sein.

In die Bai war ein Dampfer eingelaufen, der sich gerade vor der Farmarbucht befand, als er nach Steuerbord beidrehte, als suche er einen Ankerplatz in der Nachbarschaft des »Alert«. Wollte er das wirklich, statt an einem der Piere vor Queenstown anzulegen, so bedeutete das, daß er sich wahrscheinlich nur einige Stunden, höchstens wenige Tage aufzuhalten denke. Jedenfalls kamen dann aber Boote aus dem Hafen an ihn heran, und das konnte für Harry Markel und seine Leute die schlimmsten Folgen haben.

Das betreffende Schiff, das die britische Flagge an der Gaffel führte, war einer der großen Lastdampfer, die nach den englischen Kolonien Steinkohlen befördern und von da Getreide oder Nickelerz wieder mitbringen.

Es war an der Landspitze vorüberfahrend näher herangekommen und bewegte sich nur langsam weiter. Harry Markel fragte sich, ob es jetzt vielleicht stoppen oder ob es beidrehen werde, um in die Farmarbucht einzulaufen.

Die »Concordia« – man konnte am Vorderteile diesen Namen erkennen – steuerte offenbar nicht in gerader Linie auf den Hafen von Queenstown zu. Das Schiff näherte sich vielmehr dem »Alert« und hielt kaum eine halbe Kabellänge von diesem an. Dennoch schien es nicht so, als wenn es sich an derselben Stelle festlegen wollte.

Was beabsichtigte der Kapitän der »Concordia« also mit diesem Manöver? Hatte er den »Alert« erkannt, vielleicht an dessen Heck den Namen gelesen? Stand er zum Kapitän Paxton in irgend welcher Beziehung und wollte er ihm vielleicht etwas mitteilen?... Ließ er etwa gar ein Boot klar machen und kam selbst an Bord des Dreimasters?

Begreiflicherweise mußten diese Möglichkeiten Harry Markel, John Carpenter, Corty und die andern aufs tiefste beunruhigen. Offenbar wäre es besser gewesen, das Schiff im Dunkel der Nacht zu verlassen, da es doch einmal nicht abfahren konnte, und besser, sich auf dem Lande zu zerstreuen und eine Gegend aufzusuchen, die mehr Sicherheit bot, als die Umgebung von Queenstown, wo die Konstabler eifrig nach den Entflohenen spähten.

Jetzt war es dazu zu spät.[84]

Harry Markel beobachtete jedenfalls die Vorsicht, sich nicht auf dem Vorderkastell zu zeigen, er hielt sich vielmehr an der Tür des Deckhauses auf, wo er auch durch die Schanzkleidung mehr verdeckt wurde. In diesem Augenblicke ertönte die Stimme eines Matrosen von der »Concordia« nach dem »Alert« herüber.

»Ohe!... ›Alert‹! Ist der Kapitän an Bord?«

Auf diese Frage gab Harry Markel nicht sogleich Antwort. Allem Anscheine nach wollte die »Concordia« mit dem Kapitän Paxton sprechen.

Gleich darauf kam aber durch das Sprachrohr die weitere Frage:

»Wer befehligt den › Alert‹?«

Die eben Angekommenen kannten von dem Dreimaster also nur den am Heck angebrachten Namen, wußten aber nicht, wer das Schiff führte.

Einigermaßen konnte sich Harry Markel also beruhigen. Da ein längeres Stillschweigen hätte Verdacht erwecken können, stellte er nach Besteigung des Vorderkastells nun selbst einige Fragen:

»Wer ist Befehlshaber der ›Concordia‹?

– Der Kapitän James Brown, antwortete dieser in eigener Person von der Kommmandobrücke aus, wo man ihn an seiner Uniform erkannte.

– Was wünscht der Kapitän Brown? fragte Harry Markel weiter.

– Wißt Ihr, ob der Preis des Nickelerzes in Cork jetzt gestiegen oder gefallen ist?

– Sage ihm, er sei gefallen, dann schert er sich seiner Wege, raunte Corty dem andern zu.

– Gefallen! rief Harry Markel hinüber.

– Um wieviel?

– Drei Schilling sechs Pence... soufflierte Corty.

– Um drei Schilling sechs Pence, wiederholte Harry Markel.

– Dann ist hier kein Geschäft zu machen, erwiderte James Brown. Ich danke Kapitän!

– Bitte... gern geschehen.

– Hätten Sie etwas in Liverpool auszurichten?

– Nein.

– Glückliche Reise dem › Alert‹!

– Gute Fahrt der › Concordia‹!«

Nach Empfang dieser Mitteilung, deren Zuverlässigkeit der Leser ja selbst beurteilen kann, wendete der Dampfer wieder, um aus der Farmarbucht herauszukommen.[85] Sobald er die Landspitze erreicht hatte, gab er Volldampf und schlug einen nordöstlichen Kurs nach Liverpool ein.

Da machte John Carpenter die sehr naheliegende Bemerkung:

»Zum Dank dafür, daß wir ihn so prompt über den Preis des Nickelerzes unterrichtet haben, hätte der Kapitän der ›Concordia‹ uns wahrlich ins Schlepptau nehmen und uns aus dieser verwünschten Bai heraushelfen können.«

Hätte sich jetzt auch die erwünschte Brise erhoben, so wäre es doch zu spät gewesen, sie zu benutzen. Zwischen Queenstown und dem Hafeneingange herrschte schon ein lebhafter Verkehr. Fischerboote glitten hinaus und herein, und mehrere davon waren beschäftigt, ihre Angelschnüre an der Rückseite der Landspitze und wenige Kabellängen von dem Schiffe auszulegen. Harry Markel und seine Genossen ließen sich aus Vorsicht so wenig wie möglich sehen. Wäre der »Alert« jetzt abgesegelt, ohne seine Passagiere zu erwarten, die ja jede Stunde kommen konnten, so mußte dieses unerklärliche Verhalten unbedingt verdächtig erscheinen. Am ratsamsten war es noch immer, nicht vor der nächsten Nacht – wenn es dann überhaupt möglich war – von hier abzufahren.

Die Sachlage war natürlich eine recht beunruhigende; der Zeitpunkt nahte, wo der Mentor und seine jungen Reisegefährten an Bord des »Alert« kommen mußten.

Wie wir wissen, war die Abreise von Mrs. Kathlen Seymour in Übereinstimmung mit dem Direktor der Antilian School auf den 30. Juni festgesetzt worden. Patterson würde gestern Abend angekommen sein und sich gewiß um keine Stunde verspäten. Als pünktlicher und gewissenhafter Mann gönnte er sich jedenfalls nicht einmal so viel Zeit, Cork und Queenstown im Fluge zu besichtigen, obwohl er noch keine der beiden Städte kannte. Nach einer ruhig verbrachten Nacht, in der er sich von den Anstrengungen der langen Fahrt erholte, würde er sich – das durfte man wenigstens annehmen – zur richtigen Stunde erheben, seine Gesellschaft wecken und sich nach dem Hafen begeben. Hier erfuhr er dann den Ankerplatz des »Alert«, und an einem Boote, alle dahin überzuführen, konnte es ja nicht fehlen.

Solche Gedanken drängten sich Harry Markel jetzt ganz unwillkürlich auf, obgleich er gar nicht wußte, wes Geistes Kind der Herr Patterson wäre Während er immer darauf achtete, sich nicht auf dem Vorderkastell sehen zu lassen, aus Furcht, von den Fischern bemerkt zu werden, behielt er doch die Bai immer scharf im Auge. Mit dem Fernrohr in der Hand beobachtete Corty[86] durch die Fenster der Achterkajüte sorgsam alle Vorgänge im Hafen, dessen zwei Seemeilen entfernte Kais und Gebäude er genau erkennen konnte. Der Himmel war völlig klar geworden; die Sonne stieg an dem ganz reinen Horizonte empor, von dem sie alle Nebelmassen verscheucht hatte. Vom Wind spürte man aber gar nichts, nicht einmal draußen an der Seeseite, und die Zeichen der Semaphore meldeten völlige Ruhe auf dem glatt daliegenden Meere.

»Nun ja, rief John Carpenter unmutig, ein Gefängnis an Stelle des anderen! Da wäre das von Queenstown auch nicht schlechter gewesen!... Aus dem haben wir wenigstens entweichen können, doch hier...

– Nur Geduld!« schnitt Harry Markel seine weitere Rede ab.

Kurz vor halb elf Uhr erschien Corty wieder an der Tür des Deckhauses.

»Ich glaube ein Boot, etwa mit zehn Personen darin, gesehen zu haben, das eben den Hafen verlassen hat.

– Das wird die Schaluppe sein, die unsere Passagiere bringt!« rief der Obersteuermann.

Harry Markel und er begaben sich sofort in die gemeinschaftliche Kajüte und richteten ihre Fernrohre nach dem von Corty erwähnten Boote.

Bald war es nicht mehr zweifelhaft, daß dieses, von der Ebbeströmung unterstützt, auf den »Alert« zusteuerte. Es wurde von zwei Matrosen fortgetrieben, während ein dritter am Steuer saß. In der Mitte und im Hinterteile hatten zehn Personen Platz genommen, zwischen denen noch Reisesäcke und große Pakete lagen.

Alles deutete also darauf hin, daß das die Passagiere des »Alert« waren, die sich an Bord begeben wollten.

Jetzt nahte der entscheidende Augenblick, der das ganze Gebäude Harry Markels zum Zusammenbruch zu bringen drohte.

Alles hing nur noch davon ab, ob Patterson oder einer der jungen Leute den Kapitän Paxton schon persönlich kannte. Das war ja ziemlich unwahrscheinlich, und auf diese Unwahrscheinlichkeit hatte Harry Markel seine weiteren Pläne gegründet. Immerhin war noch zu bedenken, ob der Kapitän Paxton auch den Seeleuten aus dem Hafen nicht bekannt wäre, den dreien, die jetzt das Boot führten, und was würden diese sagen, wenn er sich etwa für Paxton ausgäbe?

Freilich kam hierbei in Betracht, daß der »Alert« zum ersten Male im Hafen von Queenstown, oder vielmehr in der Bai von Cork ankerte. Sein[87] Kapitän hatte sich zwar unbedingt ans Land begeben müssen, um die Formalitäten zu erfüllen, die jedem ein- oder ausfahrenden Schiffe durch das Seegesetz auferlegt sind, es ließ sich jedoch ohne zu kühne Voraussetzung annehmen, daß die Matrosen im Boote mit ihm in Queenstown nicht in Berührung gekommen wären.

»Auf jeden Fall, sagte John Carpenter am Schlusse des Gesprächs, das er mit seinen Kameraden über dieses Thema geführt hatte, auf jeden Fall lassen wir die Leute ruhig an Bord steigen!

– Das ist wohl das gescheiteste, meinte Corty, wir wollen auch behilflich sein, das Gepäck herauszuschaffen.

– Jeder an seinen Posten!« befahl Harry Markel.

Zunächst gebrauchte er aber noch die Vorsicht, das Boot verschwinden zu lassen, das sie am Tage vorher gestohlen und zur Fahrt nach der Farmarbucht benutzt hatten. Wollten sie noch entfliehen, so genügten ihnen die Boote vom »Alert«. Einige Axtschläge zertrümmerten das Boot, dessen Bruchstücke schnell versanken.

Sofort begab sich dann Corty nach dem Vorderdeck und stellte sich bereit, eine Fangleine auszuwerfen, wenn das andere Boot dicht heran wäre.

»Nun, jetzt gilt's, einer Gefahr entgegenzutreten, sagte John Carpenter zu Harry Markel.

– Wir haben schon so mancher getrotzt, und das wird auch nicht die letzte sein, John.«

Inzwischen glitt das Boot immer nahe am Ufer weiter, so daß es scharf um die Landspitze einbiegen mußte, die die Farmarbucht vor dem Wellengange schützt. Jetzt war es nur noch gegen hundert Toisen entfernt; man konnte seine Insassen schon einzeln erkennen.

Die Ungewißheit mußte nun in wenigen Minuten gehoben sein. Verlief alles so, wie Harry Markel dachte und lebhaft wünschte, kam das Verschwinden des Kapitäns Paxton nicht an den Tag, so würde er je nach den Umständen handeln. Nachdem er die Stipendiaten der Mrs. Kathlen Seymour nach Gebühr und ebenso begrüßt hätte, wie es durch den Kapitän Paxton geschehen wäre, wollte er sich mit deren Unterbringung beschäftigen, und das nahm voraussichtlich den ganzen Tag in Anspruch, so daß diese nicht daran denken würden, das Schiff zu verlassen. Bedachte Patterson freilich, daß der »Alert« bei der herrschenden Windstille doch nicht absegeln konnte, so verlangten er unddie jungen Leute vielleicht, noch einmal nach Queenstown zurückbefördert zu werden, da sie vorher keine Zeit gehabt hatten, die Handelsviertel oder die Teile am Hafen zu besichtigen. Da sie jetzt dazu Muße fanden, lag ja ein solcher Vorschlag ziemlich nahe.

Das war aber mit wirklicher Gefahr verknüpft, die möglichst vermieden werden mußte. Nachdem seine Passagiere das Schiff betreten hatten, kehrte das Boot, worauf sie hierher gekommen waren, doch gleich nach dem Hafen zurück. Dann mußte ihnen also ein Boot vom »Alert« zur Verfügung gestellt und diesem zwei oder drei der Leute Harry Markels mitgegeben werden.

Dabei war aber zu befürchten, daß die Konstabler nach vergeblicher Durchsuchung der Schenken im Hafenviertel ihre Nachsuchung in den Straßen und auf den Kais fortsetzten. Wurde auch nur einer der Entwichenen erkannt, so war ja alles verloren. Sofort würde eine Dampfschaluppe mit einer Abteilung Polizisten nach der Farmarbucht gesendet werden, diese nahmen den »Alert« wieder in Beschlag und die ganze Bande fiel unrettbar in ihre Hände.


Der Hafen von Queenstown.
Der Hafen von Queenstown.

Waren die Passagiere also einmal an Bord, so würde ihnen nicht erlaubt werden, davon noch einmal wegzugehen, selbst wenn die Verzögerung der Abfahrt sich noch auf mehrere Tage erstreckte, und... wer konnte wissen, ob es Harry Markel nicht in der nächsten Nacht gelänge, sich ihrer ebenso zu entledigen, wie er den Kapitän Paxton samt seinen Leuten beiseite geschafft hatte.

Harry Markel richtete an seine Helfershelfer noch einige ermahnende Worte. Sie sollten vor allem daran denken, daß sie nicht mehr die aus dem Gefängnis von Queenstown entwichene Mannschaft der »Halifax« wären, sondern die Matrosen des »Alert«... das wenigstens für diesen Tag. Sie sollten wohl auf sich acht geben, kein unkluges Wort fallen lassen, als ehrbare Seeleute »in straffer Haltung« auftreten, wie John Carpenter sich ausdrückte, um der freigebigen Mrs Kathlen Seymour Ehre zu machen. Alle begriffen auch die Rolle, die sie zu spielen hatten.

Inzwischen und bis zu der Minute, wo das Boot wieder abstieß, hätten sie sich möglichst zurückzuhalten, am besten ganz im Deckhause zu bleiben. Der Obersteuermann und Corty würden schon genügen, das Gepäck heraufzuschaffen und den Passagieren ihre Räume anzuweisen. Das Frühstück, und zwar ein guter Imbiß, den die Kambüse des »Alert« liefern würde, sollte in der gemeinschaftlichen Kajüte aufgetragen werden. Das hatte Ranyah Cogh zu besorgen, und der nahm sich vor, seine Kochkunst ins beste Licht zu setzen.[91]

Der Zeitpunkt war nun gekommen, ebenso zu handeln, wie es der Kapitän Paxton und seine Leute getan hätten. Das Boot war nur noch wenige Toisen entfernt, und da es doch nicht anging, daß sich gar niemand gezeigt hätte, die Passagiere zu empfangen, begab sich Harry Markel nach der Falltreppe an Steuerbord.

Selbstverständlich hatte er dazu die Uniform des unglücklichen Kapitäns angelegt, und seine Gefährten trugen alle die Kleidung, die sie im Volkslogis gefunden hatten.

Jetzt riefen die Matrosen im Boote den »Alert« an, und Corty warf eine Leine hinunter, die mit einem Haken gefangen und dann mehr nach vorne zu befestigt wurde.

Tony Renault und Magnus Anders kletterten den andern voran die Strickleiter hinauf und sprangen auf das Deck. Ihre Kameraden folgten ihnen, dann kam die Reihe an Horatio Patterson, dem John Carpenter zuvorkommend half, durch die Öffnung in der Schanzkleidung das Schiff zu betreten.

Dann wurde das Gepäck heraufgeschafft, was nur wenige Minuten beanspruchte, da es nur aus einfachen, nicht zu schweren und nicht zu umfangreichen Reisesäcken und einer Anzahl einzelner Pakete bestand.

Die Matrosen des Bootes kamen nicht an Bord. Da sie ihre Bezahlung unter Hinzufügung eines reichlichen Trinkgeldes von Herrn Patterson schon vorher erhalten hatten, stießen sie sofort wieder ab und ruderten nach dem Hafen zurück.

Da verbeugte sich der immer korrekte Horatio Patterson leicht und sagte:

»Herr Kapitän Paxton?...

– Der bin ich, mein Herr,« antwortete Harry Markel.

Patterson machte eine zweite, besonders höfliche Verbeugung und setzte hinzu:

»Herr Kapitän Paxton, ich habe die Ehre, Ihnen die Pensionäre der Antilian School vorzustellen und Ihnen gleichzeitig die Versicherung meiner unbegrenzten Hochachtung zu entbieten...

– Unterzeichnet Horatio Patterson,« flüsterte der Spaßvogel Tony Renault seinem Nebenmanne Louis Clodion ins Ohr, und dann begrüßte er mit allen seinen Kameraden den Kapitän des »Alert« in höflichster Weise.[92]

Quelle:
Jules Verne: Reisestipendien. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXIII–LXXXIV, Wien, Pest, Leipzig 1904, S. 80-89,91-93.
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