Zwölftes Kapitel.
Die drei nächsten Tage.

[366] Die über einem von zerrissenen Dunstmassen begrenzten Horizonte aufsteigende Sonne verkündigte keine durchgreifende Veränderung der Atmosphäre. Der aus Westen kommende Wind schien sogar Neigung zu haben, etwas aufzufrischen.

Die Wolken stiegen übrigens bald bis zum Zenit empor, und ohne Zweifel blieb das Wetter den Tag über bedeckt und regnerisch. Der Regen aber hatte vielleicht eine Abschwächung der Brise zur Folge, die von einigen heftigen Windstößen unterbrochen werden mochte... ein Umstand, den Will Mitz besonders fürchtete.

Mußte der »Alert« bis zum Abend lavieren, so war anzunehmen, daß er den Antillen nur um weniges näher kommen würde. Das stellte also eine Verzögerung in Aussicht, deren Dauer sich nicht abschätzen ließ, und gewiß war es höchst beklagenswert, daß der Ostwind nicht achtundvierzig Stunden länger angehalten hatte.

Als das Schiff unter dem Befehle Harry Markels Barbados verließ, hatte es der Passatwind in seiner Fahrt aufgehalten, andernfalls wäre es schon hundert Seemeilen weiter draußen auf dem Atlantischen Meere gewesen, und jetzt mußte es wieder gegen den Westwind aufkreuzen, um nach den Antillen zurückzukehren.[366]

Gegen sechs Uhr morgens gesellte sich Louis Clodion wieder zu Will Mitz.

»Nun... nichts neues? fragte er.

– Gar nichts, Herr Clodion.

– Ist denn noch keine Aussicht auf einen Umschlag des Windes?

– Das kann ich nicht sagen; doch wenn er nicht stark auffrischt, können wir wenigstens die jetzige Segelfläche beibehalten.

– Das bedeutet für uns aber eine Verzögerung, nicht wahr?

– Nun ja, eine kleine. Darum braucht sich indes niemand zu beunruhigen, und wir kommen trotzdem am Ziele an. Übrigens rechne ich auch darauf, einem Schiffe zu begegnen.

– Das hoffen Sie?

– Gewiß.

– Wollen Sie nun nicht ein wenig ausruhen?

– Nein, ich fühle mich nicht ermüdet. Sollte ich später ein Bedürfnis zu ruhen empfinden, dann werden ein oder zwei Stunden Schlaf für mich genügen.«

Wenn Will Mitz so wie jetzt sprach, geschah es, weil er die Passagiere nicht beunruhigen wollte. Im Grunde aber konnte er sich einer gewissen Besorgnis doch nicht erwehren. Wenn er das Meer schärfer beobachtete, schien es ihm, als ob »es etwas fühlte«, da es stärker bewegt war, als es dem jetzigen Winde entsprach.

Möglich war es ja immerhin, daß weiter im Westen rauhes Wetter herrschte. Im Juni oder Juli hätte solches nicht länger als vierundzwanzig, höchstens achtundvierzig Stunden angehalten; jetzt, zur Zeit der Äquinoctien, konnte es aber ein bis zwei Wochen fortdauern. Gerade zu dieser Jahreszeit sind ja die Antillen wiederholt von den schrecklichsten Zyklonen verheert worden.

Aber selbst wenn der Wind nicht zum Sturme ausartete, konnten die jungen Leute doch voraussichtlich die Anstrengungen einer Tag und Nacht nicht aussetzenden Tätigkeit kaum aushalten.

Gegen sieben Uhr erschien Patterson auf dem Verdeck, trat an Will Mitz heran und schüttelte ihm die Hand.

»Nun... immer noch kein Land zu sehen? fragte er.

– Leider keines, Herr Patterson.

Es liegt aber doch in dieser Richtung? setzte er nach Westen zeigend hinzu.[367]

– Ja... gewiß.«

Mit dieser immerhin tröstlichen Antwort mußte sich Patterson begnügen, wenn ihn seine überreizte Phantasie auch beträchtliche Verzögerungen ahnen ließ. Wenn das Schiff nun überhaupt nicht nach Barbados oder einer anderen Insel Antiliens käme, wenn es weit aufs Meer hinaus verschlagen oder von einem Sturme überrascht würde, was sollte dann aus seinem »Kapitän« und seiner »Besatzung« werden?... Der arme Mann sah sich schon nach den äußersten Grenzen des Weltmeeres verschlagen, an eine menschenleere Küste Afrikas geworfen und Monate, vielleicht Jahre lang verlassen. Er gedachte seiner Gattin, die, in dem Glauben, Witwe geworden zu sein, um ihn gewiß lange trauern und weinen würde... Ja, solche peinigende Gedanken stiegen in ihm auf, und weder bei Horaz noch bei Virgil fand er einen Trostspruch für seinen Schmerz. Er dachte sogar gar nicht mehr daran, Tony Renaults merkwürdiges lateinisches Citat zu übersetzen.

Am Vormittag trat keine Änderung der Windrichtung ein. Zu Mittag entschloß sich Will Mitz, wieder zu lavieren. Da der Seegang jetzt aber stärker war, konnte der »Alert« nicht durch einfaches Halsen wenden, sondern mußte dazu über Stag segeln.

Als das Manöver endlich gelungen war, legte sich Will Mitz, von der Anstrengung übermannt, auf dem Hinterkastell nahe dem Kompaßhäuschen nieder, während Louis Clodion das Steuer führte.

Kaum hatte er eine Stunde geschlafen, als er durch Rufe vom Vorderdeck her, wo Roger Hinsdale und Axel Wickborn auf Ausguck standen, schon wieder geweckt wurde.

»Ein Schiff!... Ein Schiff in Sicht!« wiederholte der junge Däne, während er die Hand nach Osten ausstreckte.

Wirklich zeigte sich auf dieser Seite ein Schiff, das den gleichen Kurs wie der »Alert« einhielt. Es war ein Dampfer, von dem man vorläufig nur den Rauch sah. Er fuhr sehr schnell und bald erhob sich auch sein Rumpf über den Horizont. Aus seinen beiden Schornsteinen wirbelten dicke, schwarze Wolken, er mochte also sehr scharfe Feuer haben.

Die Aufregung unter den jungen Leuten bei der Annäherung dieses Schiffes kann man sich wohl leicht vorstellen. Vielleicht wurde dadurch das Ende einer Lage herbeigeführt, die sich durch die Andauer widriger Winde schon ernstlich verschlimmert hatte.[368]

Alle Fernrohre richteten sich auf den Dampfer, dessen Bewegungen keiner aus dem Auge ließ.

Will Mitz achtete vorzüglich auf die Richtung, der er nach Westen hin folgte. Er überzeugte sich dabei aber, daß jener, wenn er seinen Kurs beibehielt, den des »Alert« nicht kreuzen und wenigstens in der Entfernung von vier Seemeilen an ihm vorüberfahren würde. Er beschloß deshalb sich treiben zu lassen, um dem Schiffe so nahe zu kommen, daß seine Signale bemerkt werden könnten. Man braßte also die Raaen der beiden Marssegel und des Focksegels, ließ auch die Schoten des Briggsegels und der Klüversegel nach, und der »Alert« drehte danach um mehrere Viertel in den Wind.


Nun ging es an die gefährliche Arbeit. (S. 373.)
Nun ging es an die gefährliche Arbeit. (S. 373.)

Eine halbe Stunde später war der Dampfer noch drei Meilen entfernt. Nach dessen Form und Größe mußte es ein französisches oder englisches transatlantisches Paketschiff sein. Luvte es jetzt nicht weiter an, so müßten die beiden Fahrzeuge bald miteinander in Verbindung treten können.

Auf Anordnung des jungen Seemanns hißte Tony Renault am Fockmaste die blau und weiße Lotsenflagge, und gleichzeitig stieg an der Gaffel des Besanmastes die britische Flagge empor.

Eine Viertelstunde verging. Der »Alert«, der jetzt Rückenwind hatte, konnte nichts weiter tun, sich noch mehr dem Dampfer zu nähern, der von ihm immer drei Meilen im Norden entfernt blieb. Da sie auf ihre Signale keine Antwort erhalten hatten, holten Roger Hinsdale und Louis Clodion zwei Gewehre aus der Kajüte und gaben mehrere Schüsse ab. Da der Wind nach dem Dampfer zu stand, konnten sie auf diesem vielleicht gehört werden.

Harry Markel, John Carpenter und die übrigen hatten ohne Zweifel erraten, was da vorging, der Dreimaster hatte seinen Kurs gewechselt und rollte mehr als vorher, wo er scharf am Winde segelte. Dann krachten an Bord auch noch mehrere Gewehrschüsse.

Jedenfalls war also ein Schiff in Sicht, mit dem der »Alert« sprechen wollte.

Da sie sich nun verloren glaubten, verdoppelten die Gefangenen ihre Bemühungen, aus dem Frachtraum zu entkommen, und donnerten mit aller Gewalt an die Wände des Volkslogis und an die Deckluken. Dabei brüllten sie vor Wut. Übrigens hätte Will Mitz dem ersten, der etwa sichtbar wurde, gleich eine Kugel in den Kopf gejagt.

Leider nahm der so froh begrüßte Zwischenfall für den »Alert« ein klägliches Ende. Auf dem Dampfer hatte man weder die Signale gesehen, noch[371] die Schüsse gehört. Eine halbe Stunde später lag dieser schon fünf bis sechs Meilen weit entfernt und verschwand dann bald unter dem Horizonte.

Will Mitz ließ wieder gegen den Wind anlaufen und aufs neue einen Schlag nach Südwesten machen.

Den ganzen Nachmittag lavierte dann der »Alert«, ohne merkbar vorwärts zu kommen. Das Aussehen des Himmels war etwas bedrohlicher geworden. Im Westen ballten sich immer mehr Wolken zusammen, der Wind frischte auf, das Meer wurde unruhiger und dann und wann schäumten schon die Wellen zum Vorderkastell hinaus. Ließ der Wind nicht bald nach, so konnte Will Mitz die bisherige Richtung nicht länger einhalten, ohne die Segelfläche zu verkleinern. Er wurde allmählich unruhiger, bemühte sich aber, es niemand merken zu lassen. Louis Clodion und Roger Hinsdale, die gesetztesten der Passagiere, fühlten jedoch recht gut mit, was in ihm vorging. Als sie ihn ansahen und mit dem Blicke fragten, wendete Will Mitz den Kopf zur Seite.

Die herankommende Nacht drohte recht schlimm zu werden. Man mußte eiligst zwei Reffe in die Marssegel und eines in das Fock- und Briggsegel schlagen. Diese für eine improvisierte Mannschaft schon am hellen Tage schwierige Arbeit wäre im Dunkeln kaum auszuführen gewesen. Jetzt galt es vor allem, so zu manövrieren, daß man nicht überrascht würde und sich in der steifen, mit Sturmwindstößen einhergehenden Brise halten könnte.

Was wäre auch aus dem »Alert« geworden, wenn er noch weiter nach Osten hinaustrieb? Wohin konnte ihn ein Sturm verschlagen, der voraussichtlich mehrere Tage dauerte?... Und kein Land in der Nähe, höchstens weiter draußen im Nordosten die gefährlichen Bermudasinseln, wo der Dreimaster schon ein schweres Wetter durchgemacht hatte, das ihn damals zwang, vor dem Sturme zu fliehen. Sollte er jetzt gar über den ganzen Atlantischen Ozean verschlagen und etwa auf die Risse der afrikanischen Küste geworfen werden?

Es blieb also nichts übrig, als das Schiff, gleichviel ob scharf am Winde oder diesem gerade entgegen, in der Nähe der Antillen zu halten. Nach Vorübergang des Sturmes gewann ja der Passat jedenfalls wieder die Oberhand und der »Alert« konnte dann die wenigen verlorenen Tage wieder einbringen.

Will Mitz erklärte, was nun zu tun sei. Da die Segel oft wie ein Geschützdonner anschlugen, wollte man sich zuerst mit dem kleinen, und dann mit dem großen Marssegel beschäftigen. Magnus Anders, Tony Renault, Louis Clodion und Axel Wickborn sollten Will Mitz nach den Raaen folgen, doch[372] wohl achtgeben, daß sie sich tüchtig festhielten, und wenn dann die Leinwand herangezogen wäre, sollten die Seisinge darüber gebunden werden.

Nach dem Wiederhinabsteigen sollten alle an die Trissen gehen und die Raaen fest anziehen.

Albertus Leuwen und Hubert Perkins war einstweilen das Steuer anvertraut, und Will Mitz erklärte ihnen, wie sie es handhaben sollten.

Nun ging es an die gefährliche Arbeit. Mit großer Mühe wurde das kleine Marssegel zweimal gerefft, und nachdem es von unten her gehißt war, scharf gegen den Wind eingestellt.

Dasselbe geschah mit dem großen Marssegel. Wegen des Briggsegels brauchte man den Besanmast nicht zu erklettern, sondern man hatte nur seinen unteren Teil um den Gickbaum zu wickeln.

Was das Focksegel betraf, begnügte man sich, es aufzugeien, um es sofort wieder entfalten zu können, im Fall der Wind gegen Morgen schwächer würde.

Mit dieser Beseglung rauschte der »Alert« nun über den Ozean hin. Zuweilen neigte er sich so stark zur Seite, daß das Wasser heraufschäumte und das Verdeck weithin überschwemmte. Am Steuer stehend, richtete Will Mitz mit starker Hand und von einem oder dem andern der jungen Leute unterstützt, das Schiff wieder auf.

In dieser Weise ging es die ganze Nacht weiter, und Will Mitz glaubte, vor Sonnenaufgang keinen neuen Schlag – zum Lavieren – machen zu müssen.

Während Will Mitz das Deck bis zum Anbruch des Tages nicht verließ, hatten die jungen Leute einander nach je vier Stunden abgelöst und sich dann für einige Stunden zum Ausruhen niedergelegt.

Sobald der Horizont an der Windseite übersehbar wurde, prüfte ihn Will Mitz aufmerksamen Blickes. Nur von dorther drohte eine Gefahr. Der Anblick des Himmels befriedigte ihn leider nicht im mindesten. War der Wind im Laufe der Nacht auch nicht noch stärker geworden und hatte er nur als steife Brise angehalten, so war doch auch kein Zeichen einer bevorstehenden Besserung zu entdecken. Im Gegenteil drohten noch heftige Regengüsse und schwere Sturmböen, die noch weitere Vorsichtsmaßregeln erforderten. Vielleicht wurde es gar nötig, ganz beizulegen und das Schiff den Wogen gerade entgegen zu stellen. Statt vorwärts zu kommen, würde der »Alert« sich dann freilich von den Antillen nur noch mehr entfernen.[373]

Bald brach nun der Sturmwind los, daß die Marssegel klatschten und in Fetzen gerissen zu werden drohten. Patterson konnte die Kajüte natürlich nicht verlassen, die andern aber blieben, in Wachsleinwandjacken und den Südwester auf dem Kopfe, auf dem Verdeck, um Will Mitz stets zur Hand zu sein. Das in Strömen herabstürzende Wasser singen sie in Baljen auf, um an solchem keinen Mangel zu leiden, wenn der vor dem Sturme fliehende »Alert« noch viel weiter aufs Meer hinaus verschlagen würde.

Am Vormittag gelang es Will Mitz mit unerhörter Anstrengung, einen Schlag nach Südwesten zu erzwingen, was ihn wenigstens in der Breite der Antillen, und seiner Schätzung nach auf der Höhe von Barbados im mittleren Teile des Archipels hielt.

Er hoffte schon, die zweimal gerefften Marssegel, das Brigg- und das große Klüversegel auch weiter beibehalten zu können, als der Wind am Nachmittage an Stärke zunahm und etwas nach Nordwesten schralte.

Der »Alert« neigte sich manchmal so weit zur Seite, daß das Ende der großen Raa die Wellenkämme streifte und er große Mengen von Wasser übernahm.

Harry Markel und seine Leute unten mußten sich sagen, daß es oben schlecht stehe und dem Schiffe vom Sturm so arg mitgespielt werde, daß Will Mitz die Herrschaft darüber verlieren müsse. Wenn es zerstört zu werden drohe, werde man sich schon noch an sie wenden müssen.

Sie täuschten sich, und wenn der »Alert« zerstört würde, sollte er eher mit Mann und Maus verschlungen werden, als den Verbrechern nochmals in die Hände fallen!

Will Mitz erlahmte auch unter diesen grauenvollen Verhältnissen nicht, und es schien, als ob die jungen Passagiere die Gefahr nicht sehen wollten.

Allen Befehlen kamen sie mit ebensoviel Mut wie Geschicklichkeit nach, wenn es sich darum handelte, die Segelfläche zu verringern.

Das große Marssegel wurde, ebenso wie das Briggsegel, eingezogen und festgebunden. Der »Alert« lief nur noch unter dem kleinen Marssegel, das zweimal gerefft wurde, eine Arbeit, die durch das Vorhandensein doppelter Raaen auf dem Schiffe erleichtert wurde. Am Vorderteile ließ Will Mitz nur ein Klüversegel, und am Hinterteile, am Besan, ein dreieckiges Sturmsegel stehen, das fest genug war, auch den stärksten Winddruck auszuhalten. Und noch immer alles ringsum öde und leer! Kein Schiff zu sehen! Obendrein[374] wär' es ja auch ganz unmöglich gewesen ein solches anzulaufen, da man jetzt kein Boot aufs Meer setzen konnte.

Will Mitz sah bald ein, daß er darauf verzichten mußte, gegen den Sturm anzukämpfen. Es verbot sich unbedingt, scharf dagegen anzusegeln oder sich ihm gerade gegenüber zu stellen. Der »Alert« hatte aber »Flucht vor sich«, wie die Seeleute sagen, und lief nicht Gefahr, an eine Küste zu treiben, von der er nicht wieder hätte loskommen können. Vor ihm lag ja der ganze Atlantische Ozean, und in kurzer Zeit trennten ihn wahrscheinlich mehrere tausend Seemeilen von Westindien.

Bei luvwärts gelegtem Steuer drehte das Schiff unter dem furchtbarsten Schwanken, und nachdem es in die Richtung der Wellen gekommen war, schoß es mit Rückenwind pfeilschnell dahin.

Das ist aber besonders gefährlich, wenn ein Schiff nicht noch schneller läuft als die Wellen und dann immer einen Schwall von Wasser übernimmt. Die Handhabung des Steuers wird ebenfalls sehr gefährlich, und die dabei stehenden Leute müssen sich anseilen, um nicht über Bord gespült zu werden.

Trotz ihres Widerspruches veranlaßte Will Mitz die jungen Leute, sich in die Kajüte zurückzuziehen. Er werde sie schon rufen, wenn er ihrer bedürfte.

Und in der Kajüte, deren Wände knarrten und krachten, auf den Bänken zusammengekauert, wiederholt durchnäßt von dem Wasser, das vom Verdeck aus hereinsprudelte, sowie darauf beschränkt, sich mit Schiffszwieback und Konserven zu sättigen, verbrachten die jungen Leute den 25. September, den schrecklichsten Tag. den sie bisher erlebt hatten.

Dann kam die Nacht mit ihrer Finsternis und dem entsetzlichsten Getöse ringsumher. Der Orkan wuchs zu unvergleichlicher Heftigkeit an. Da drängte sich jedem die Frage auf, ob der »Alert« ihm wohl noch vierundzwanzig Stunden widerstehen, ob man nicht gezwungen sein werde, die Masten zu kappen, wenn das überhaupt gelang, um ihn vor dem Kentern zu bewahren, oder ob er nun nicht bald werde in die Tiefe gerissen werden.

Will Mitz stand jetzt allein am Steuer. Mit Gewalt bekämpfte er seine Müdigkeit und hielt den »Alert« bei den furchtbaren Schwankungen, die ihn quer gegen die Wellen zu werfen drohten.

Gegen Mitternacht bäumte sich eine Sturzwelle fünf bis sechs Fuß hoch über die Schanzkleidung auf und schlug mit solcher Gewalt auf das Deck, daß dieses zu bersten drohte. Weiter riß sie das am Heck hängende kleine Boot weg[375] und zertrümmerte alles, was sie traf, mehrere Baljen ebenso, wie die am Großmaste befestigten Wassertonnen. Dann riß sie das zweite Boot aus seinen Davits und schleuderte es weit aufs Meer hinaus.

Nun war nur noch ein einziges Boot übrig, das, in dem die Passagiere das erstemal zu entfliehen versucht hatten. Auch das hätte ihnen jetzt nichts nützen können, da es doch von dem Wogenschwalle im ersten Augenblick verschlungen worden wäre.

Bei den Stößen, die das Schiff bis zu den Mastspuren erzittern machten, stürmten Louis Clodion und einige andere wieder auf das Verdeck hinaus.

Da übertönte aber noch die Stimme des jungen Seemannes das Geheul des Sturmes.

»Zurück!... Zurück! rief er.

– Ist denn keine Aussicht mehr auf Rettung? fragte Roger Hinsdale.

– O, mit Gottes Hilfe doch noch, antwortete Will Mitz. Aber er allein kann uns jetzt retten!«

In diesem Augenblick ließ sich ein kreischendes Geräusch vernehmen. Eine weißliche Masse flatterte gleich einem Riesenvogel zwischen der Takelage. Das kleine Marssegel war von seiner Raa abgerissen worden und nur noch seine Leiken waren davon übrig.

Der »Alert« war hiermit in der Hauptsache ohne Segel, und da auch sein Steuer nicht mehr wirkte, wurde er, ein Spiel des Windes und der Wellen, mit entsetzlicher Geschwindigkeit nach Osten hin fortgerissen.

In welcher Entfernung von den Antillen mochte sich nun der »Alert« beim Tagesgrauen befinden? Da er vor dem Sturme hatte fliehen müssen, war diese gewiß auf mehrere hundert Seemeilen zu schätzen. Und wenn jetzt auch der Wind nach Osten umschlug und man Reservesegel setzen konnte, mußten doch viele Tage vergehen, ehe diese Strecke wieder zurück gelegt werden konnte.

Der Sturm schien indes nachlassen zu wollen. Der Wind räumte auch so unvermittelt, wie man das nur in Tropengegenden beobachtet hat.

Will Mitz schien anfänglich erstaunt über das Aussehen des Himmels. In den letzten Stunden war der Horizont im Osten reingefegt worden von den dicken Wolkenmassen, die ihn seit dem vorigen Tage bedeckt hatten.

Louis Clodion und seine Kameraden erschienen wieder auf dem Verdeck. Der Sturm schien offenbar seinem Ende nahe. Das Meer war freilich noch gewaltig[376] aufgeregt und es mochte wohl kaum ein Tag hinreichen, die jetzt noch mit weißem Schaum bedeckten, brodelnden Wellen zu beruhigen.

»Ja... ja... endlich erlöst!« sagte Will Mitz.

Voll Vertrauen und neuer Hoffnung hob er dabei die Hände gen Himmel, und die jungen Leute folgten dankerfüllt seinem Beispiele.

Jetzt galt es, sofort den geraden Weg nach Westen wieder einzuschlagen. Wo das Land auch lag, es mußte doch gefunden werden. Übrigens war der »Alert« ja nur von der Zeit an weiter hinausgetrieben worden, wo er bei[377] der Unmöglichkeit, noch länger zu kreuzen, hatte vor dem Sturme fliehen müssen.

Gegen Mittag war der Wind so weit gemäßigt, daß ein Schiff die Reffe losbinden und seine Marssegel nebst den unteren Segeln führen konnte.

Gleichzeitig mit dem Abflauen lief er mehr nach Süden um und begünstigte damit die Fahrt des »Alert«.


Gegen Mitternacht bäumte sich eine Sturzwelle hoch über die Schanzkleidung. (S. 375.)
Gegen Mitternacht bäumte sich eine Sturzwelle hoch über die Schanzkleidung. (S. 375.)

Daraufhin wurden nun das kleine und das große Marssegel, das Brigg- und das Focksegel sowie die Klüversegel von neuem gehißt.

Damit verstrich die Zeit bis fünf Uhr nachmittags, denn es war keine leichte Arbeit, für das vom Sturm zerrissene Segel ein neues einzulegen, das man der Segelkoje auf dem Hinterdeck entnommen hatte.

In diesem Augenblick hörte man aus dem Frachtraume gellende Schreie, und gleichzeitig dröhnten Schläge gegen die Luken und die Wände des Volkslogis, als wollten Markel und seine Spießgesellen noch einmal einen Durchbruch nach außen zu erzwingen sachen.

Die jungen Leute eilten nach ihren Waffen und hielten sich bereit, sie gegen jeden zu gebrauchen, der etwa sichtbar werden würde.

Fast gleichzeitig rief aber auch Louis Clodion:

»Feuer im Schiffe!«

Wirklich drang schon aus dem Inneren Rauch empor, der bald das Deck einhüllte.

Jedenfalls hatten – wahrscheinlich aus Unvorsichtigkeit – einige von Brandy und Gin berauschte Gefangene verschiedene Frachtstücke in Brand gesetzt. Schon hörte man das Holzwerk im Raume knisternd und krachend zerspringen.

War diese Feuersbrunst noch zu löschen?... Vielleicht... wenn man die Luken öffnete und den Frachtraum überschwemmte. Damit wäre aber Harry Markel mit seiner Bande befreit worden und hätte sich des »Alert« wieder bemächtigen können. Statt die Flammen zu unterdrücken, hätten die Schurken die Passagiere abgeschlachtet und ins Meer geworfen.

Inmitten zunehmenden Geschreis wälzten sich immer dickere Rauchwolken über das Verdeck, dessen ausgepichte Fugen schon auseinander zu weichen anfingen. Gleichzeitig donnerten einige Explosionen, mehr unter dem Vorderteile, wo verschiedene Tonnen mit Alkohol lagerten. Die Gefangenen mußten in dem von der Luft abgeschlossenen Frachtraum schon halb erstickt sein.[378]

»Will, Will!« riefen John Howard, Tony Renault und Albertus Leuwen, indem sie diesem die Arme entgegenstreckten.

Es schien fast, als ob sie ihn um Erbarmen für Harry Markel und dessen Leute anflehen wollten.

Doch nein... das Wohl aller duldete hier keine Schwäche, kein menschliches Mitleid!

Außerdem war auch kein Augenblick zu verlieren gegenüber einer Feuersbrunst, die man nicht mehr bewältigen konnte und die in kurzer Zeit das ganze Schiff zu verzehren drohte. Jetzt galt es nur noch, den »Alert« zu verlassen, dessen frühere Besatzung mochte mit ihm zu Grunde gehen.

Das zweite Boot und die sonst am Heck hängende Jolle waren vom Sturm entführt worden; nur das an Steuerbord untergebrachte große Boot war noch übrig.

Will Mitz warf einen Blick auf das Meer, das sich schon etwas beruhigt hatte. Dann sah er auf den von züngelnden Flammen umringten »Alert«... noch ein Blick auf die von Schreck erstarrten jungen Leute, und dann rief er:

»Sofort... alle ins Boot!«

Quelle:
Jules Verne: Reisestipendien. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXIII–LXXXIV, Wien, Pest, Leipzig 1904, S. 366-369,371-379.
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