Dreizehntes Kapitel.
Aufs Geratewohl hinaus.

[379] Diesmal handelte es sich nicht mehr darum, ein Schiff aufzusuchen, das einige Kabellängen oder wenige Seemeilen entfernt läge. Jetzt galt es nur, ein über und über brennendes Schiff zu verlassen. Mit der unsicheren Hoffnung, auf dem weiten Meere von einem anderen Fahrzeuge aufgenommen zu werden, sollte ein gebrechliches Boot allen etwaigen Gefahren zu trotzen versuchen.

Will Mitz traf in größter Eile alle Vorbereitungen zur Abfahrt und half das letzte Boot über Bord zu schaffen und aufs Wasser zu setzen.[379]

Im Frachtraum ertönte das Wut- und Angstgeschrei der zum Tode Verurteilten. Unaufhörlich hämmerten und rüttelten sie an den Luken und der Treppenkappe des Volkslogis. Es war auch nicht ausgeschlossen, daß die Gefangenen die Hindernisse doch noch durchbrechen oder sich durch eine Öffnung am Schiffsrumpfe ins Meer stürzen und dann wieder das Deck erklimmen könnten.

Was die Ursache der Feuersbrunst betraf, so mochte diese darin zu suchen sein, daß ein Faß mit Alkohol geborsten war und Morden oder ein anderer, der nicht recht bei Sinnen war, den Inhalt aus Unvorsichtigkeit entzündet hatte. Jetzt loderte das Feuer schon im ganzen Frachtraume vom Vorderteile bis zu der Scheidewand, die diesen vom Hinterteile trennte. Selbst wenn diese Wand nicht durchbrannte, mußte das Schiff doch soweit zerstört werden, daß von ihm nur noch verkohlte Trümmer auf dem Wasser umherschwammen.

Als das Boot niedergefiert und längs der Schiffswand angeseilt war, ließ Will Mitz alles hineinschaffen, was bei einer vielleicht längeren Irrfahrt gebraucht werden konnte. Louis Clodion und Albertus Leuwen, die schon hinuntergestiegen waren, reichte man zwei Kisten mit Konserven und Schiffszwieback aus der Kambüse zu, ferner das letzte Fäßchen Alkohol, zwei Tönnchen Süßwasser, einen tragbaren Kochofen, zwei Säcke Steinkohle, eine kleine Menge Tee, einige Waffen nebst Munition, und endlich wurden noch verschiedene Geräte aus der Küche und der Zeugkammer ins Boot verladen.

Gleichzeitig schafften Tony Renault und die anderen dessen Ausrüstung herbei, nämlich einen Mast mit Trissen, ein Segel mit der dazugehörigen Stange, ein Klüversegel, vier Ruder, ein Steuer, einen Kompaß und eine Übersichtskarte der Antillen. Dazu kamen noch mehrere Angelschnüre, da ja der Fall eintreten konnte, den vorhandenen Proviant durch den Fischfang zu ergänzen.

Nun stieg Patterson als erster in das Boot ein. Der arme, durch so viel Ungemach ganz zusammengebrochene Mann dachte nicht mehr an seine Trigonocephale, die von den Flammen vernichtet werden sollte, und auch nicht mehr an die unübersetzbaren Worte des lateinischen Citates. Ihn erfüllte nur die Angst, sich dem Meere in einem Boote anvertrauen zu müssen, in das Will Mitz noch Kleidungsstücke zum Wechseln, Wachsleinwandjacken, Decken und eine Presenning hinabwarf, mit der man eine Art Zelt oder Schutzplane herstellen konnte.

Diese Vorbereitungen waren binnen einer Viertelstunde beendet, während sich das Geschrei unten verdoppelte und die Flammen schon an den Masten und der Takelage emporzüngelten.[380]

Jeden Augenblick fürchtete man einen aus dem brennenden Raume Entwichenen auftauchen zu sehen, ein halb verbranntes Gespenst, das sich aus der Glut gerettet hätte.

Es war jetzt die höchste Zeit, den »Alert« zu verlassen. Nichts war vergessen worden, doch rief Niels Harboe, als Will Mitz eben als letzter einsteigen wollte:

»Aber die Prämien... das Geld?

– Ja, antwortete Will Mitz, das Geld ist das von unserer Wohltäterin. Das müssen wir mitnehmen, sonst geht es verloren mit dem Schiffe, von dem nichts übrig bleiben wird.«

Nach der Kajüte zurückeilend, ergriff er das Packet mit dem Gelde, das in der Kabine des Mentors niedergelegt worden war. Dann kletterte er gewandt über die Reling, ließ sich ins Boot hinab und rief:

»Abstoßen!«

Das Seil wurde losgeworfen und das Boot entfernte sich in der Richtung nach Westen.

Kaum war es davongefahren, da erfolgte eine Explosion infolge des Druckes der im Frachtraume übermäßig erhitzten Luft. Sie war so heftig, daß der aus seiner Spur gehobene Fockmast mit der ganzen Takelage des Vorderteiles nach Backbord umstürzte. Gleichzeitig neigte sich der »Alert« sehr stark zur Seite, richtete sich aber sofort wieder auf, so daß das Wasser, das die Flammen vielleicht gelöscht hätte, nicht in das Innere des Schiffes einströmen konnte.

Noch wurde keiner der Leute Harry Markels auf den Verdecke sichtbar. Entweder waren sie bereits erstickt oder sie hatten sich durch den Rauch und die Flammen noch nicht Bahn brechen können.

Es war jetzt halb sechs Uhr abends, der Wind wehte so gleichmäßig, daß man das Segel des Bootes hissen konnte, das bei dessen Auffrischen ja leicht wieder zu bergen war. Tony Renault setzte es also ebenso wie das Klüversegel bei. Will Mitz bediente das Steuer, die Ruder wurden aus den Pflöcken gehoben und hereingenommen. Um die größtmögliche Schnelligkeit noch ohne Gefährdung der Sicherheit zu erreichen, ließ man die Schote des Segels etwas nach und das Boot glitt nun geschwind auf der Oberfläche des Meeres hin.

Will Mitz befand sich erst eine halbe Meile von dem »Alert« entfernt, als auch dessen beide anderen Maste umbrachen, nachdem das Feuer deren Wanten und Pardunen zerstört hatte. Das jetzt einem Ponton ähnliche Schiff[381] neigte sich tief zur Seite, richtete sich diesmal aber nicht wieder auf. Nach und nach drang immer mehr Wasser durch die Schanzkleidung ein. An der höher stehenden Seite zeigten sich jetzt mehrere Leute, darunter auch Harry Markel, und noch einmal flammte ein wütender Blick in seinen Augen auf, als er das Boot so fern sah, daß es auf keine Weise erreicht werden konnte.

Endlich senkte sich der »Alert« weiter und verschwand bald in der Tiefe. Gott hatte die Piraten vom »Halifax« gerichtet, die der irdischen Gerechtigkeit entgangen waren. Von dem Fahrzeuge war nichts mehr übrig, als unförmige Stücke der Maste, die hier- und dorthin trieben.

Als die jungen Passagiere den »Alert« untergehen sahen, bemächtigte sich ihrer eine tiefe Erregung, so daß sich aller Augen mit Tränen füllten.

Hatte sich der Sturm nun auch schon seit zwölf Stunden gelegt, so war die Lage jetzt doch kaum minder gefährlich.

Das vom Bug bis zum Heck dreißig Fuß lange und in der Mitte fünf Fuß breite Boot reichte zwar für die elf Insassen aus, da es aber kein Verdeck hatte, bot es nicht den geringsten Schutz gegen Regen und Wind und konnte sich gar zu leicht mit Wasser füllen.

Will Mitz breitete deshalb zwischen dem Maste und dem Hintersteven die Presenning von einem Rande zum anderen so aus, daß sie, von einigen Spieren gehalten, ein Dach bildete, worunter drei Personen Platz fanden.

Louis Clodion und Roger Hinsdale bemühten sich gleichzeitig, dem Kompaß und den Kisten mit Zwieback und Konserven auf dem Boden des Fahrzeuges einigen Schutz zu beschaffen.

Der mitgenommene Proviant reichte, von der Ausbeute durch Fischfang abgesehen, gut für zehn Tage, und an Süßwasser war für eine Woche genug vorhanden, wenn inzwischen auch kein Regenfall eine Ergänzung des Vorrates lieferte.

War nun zu erwarten, daß man in dieser Zeit auf ein Land, auf die Antillen oder die Bermudasinseln traf?

Nein, das wohl kaum. Der »Alert« war mehr nach Südosten zu aufs offene Meer und damit nur weiter von den Bermudasinseln verschlagen worden. Will Mitz beabsichtigte auch, eher nach einer der Inseln Antiliens oder nach der festländischen Küste von Brasilien, Venezuela oder Guyana zu steuern.

Mehr Hoffnung setzte er jedoch noch darauf, durch ein ihm begegnendes Schiff gerettet zu werden. So war also die Lage der Dinge am Abend des 26. Septembers. Die Nacht kam heran und bald mußte es ganz dunkel werden.[382]

Nach Sonnenuntergang hatte der Himmel sein freundliches Aussehen behalten; nur ein schwacher Nebelschleier lag auf dem Wasser, Wolken zeigten sich dagegen weder im Osten noch im Westen. Das Meer glättete sich noch weiter, so daß jetzt nur eine lange Dünung bemerkbar war. Dazu wehte ein mäßiger Passat, der das Segel beizubehalten erlaubte. Da gerade Neumond war, würde es in der Nacht zwar recht dunkel bleiben, dafür schimmerte aber im Norden der Polarstern wenige Grade über dem Horizonte.

Anfangs hatten sich Louis Clodion und seine Kameraden zu rudern erboten, wobei sie sich Stunde für Stunde ablösen wollten; Will Mitz bedeutete sie aber, daß das jetzt unnötig sei und daß sie ihre Kräfte für dringendere Fälle sparen sollten.

»Der Wind ist stetig, sagte er, und verspricht das auch noch längere Zeit zu bleiben. Zum Rudern wird es Zeit sein, wenn eine Windstille eintritt, wo wir darauf halten müssen, von der Stelle zu kommen, um bald einem Schiffe zu begegnen.

– Sagen Sie, Will, fragte Roger Hinsdale, wie weit sind wir jetzt wohl von dem nächsten Lande entfernt?

– Mindestens vierhundert Seemeilen.

– Und wie viel kann unser Boot bei mittlerer Windstärke zurücklegen? setzte Louis Clodion hinzu.

– In vierundzwanzig Stunden etwa sechzig Meilen.

– Dann hätten wir also sechs bis sieben Tage lang zu segeln? sagte Albertus Leuwen.

– Jawohl, bestätigte Will Mitz, wenn wir nicht vorher an Bord eines Schiffes Aufnahme gefunden haben.«

Das wäre freilich die glücklichste Lösung gewesen und auch die, auf die am meisten zu rechnen war.

»Auf jeden Fall, Will, nahm Louis Clodion wieder das Wort, schonen Sie uns nicht! Wir stehen Ihnen zur Verfügung, sobald der Wind zu schwach werden sollte.

– Das weiß ich, liebe junge Herren, antwortete Will Mitz, und ich verzweifle auch keineswegs daran, Sie noch alle retten zu können. Es ist aber nutzlos, sich ohne Notwendigkeit anzustrengen. Strecken Sie sich im Boote unter der Presenning aus und schlafen Sie ruhig. Wenn ich Sie brauche, werd' ich Sie schon wecken. Ich hoffe übrigens, die Nacht werde ganz ruhig verlaufen.[383]

– Sie wünschen also nicht, daß einer von uns an der Schote des Segels bleibt? ließ sich Axel Wickborn vernehmen.


Diese Vorbereitungen waren binnen einer Viertelstunde beendet. (S. 380.)
Diese Vorbereitungen waren binnen einer Viertelstunde beendet. (S. 380.)

– Das ist nicht unbedingt nötig, Herr Axel, ich werde schon alles besorgen. Ich wiederhole Ihnen, wenn der Wind gänzlich aufhören und das uns zwingen sollte, nach den Rudern zu greifen, so rufe ich Sie. Folgen Sie mir nur: hüllen Sie sich in die Decken und schlafen Sie bis morgen früh!«


In den Augen Harry Markels flammte ein wütender Blick auf. (S. 382.)
In den Augen Harry Markels flammte ein wütender Blick auf. (S. 382.)

Die jungen Leute taten, was Will Mitz empfohlen hatte. Zwei von ihnen schlüpften unter die Plane, wo Patterson lag, die anderen streckten sich, so gutes an ging, auf den Bänken aus, und bald schliefen alle an Bord. Will Mitz, der nun allein im Hinterteile stand, hielt mit der einen Hand das Steuer und war mit der anderen bereit, die Schoten des Segels und des Klüvers anzuziehen oder nachzulassen. Eine kleine, vor ihm stehende Laterne beleuchtete den Kompaß, so daß er es sehen konnte, wenn das Boot aus dem richtigen Kurse wich.

So vergingen die langen Stunden, ohne daß Will Mitz auch nur eine Minute die Augen zugetan hatte. Zu viele Gedanken, zu viele Sorgen erfüllten den wackeren jungen Seemann. Sein unerschütterliches Vertrauen auf Gott ließ ihn aber nicht verzweifeln. Er stand jetzt am Heck des Bootes ebenso, wie vergangene Nacht auf dem Hinterkastell des »Alert«, und lenkt das eine ebenso mit fester Hand, wie er den andern gelenkt hatte. An die Stelle des festen Fahrzeuges, das ihn und seine Begleiter vorher trug, war jetzt ein gebrechliches Boot getreten, mit einem Proviantvorrat, den eine Woche erschöpfen mußte, ein Boot, worin sie allen Zufälligkeiten der Schiffahrt, allen Gefahren des Meeres preisgegeben waren.

Da die Brise leicht und regelmäßig blieb, hatte Will Mitz keine Ursache, seine kleine Welt zu wecken. Dann und wann richtete sich davon wohl einer auf und fragte, wie es stände.

»Alles gut... alles nach Wunsch«, antwortete er dann ruhig.

Dann streckten sich die Frager wieder in ihre Decken gehüllt aus und überließen sich einem friedlichen Schlummer.

Mit dem Morgenrote waren alle auf den Füßen, selbst Patterson, der unter dem Schutzdache hervorkroch und sich im Vorderteile des Bootes niedersetzte.

Der Tag versprach schön zu werden. Die Sonne erhob sich über einem von leichtem Nebel verdeckten Horizonte, den ihre ersten Strahlen davon befreien mußten. Ein leichtes Wellenkräuseln lag auf der Meeresfläche und wie schmeichelnd klatschte das Wasser an die Längswand des Bootes.

Seiner Gewohnheit entsprechend machte sich Tony Renault sofort an die Zubereitung des Frühstückes, wie er das auf dem »Alert« immer getan hatte, und sorgte für Tee, den er auf dem tragbaren Ofen kochte. Dann entnahm er einer Kiste den nötigen Schiffszwieback und auch ein wenig Brandy, der dem Trinkwasser beigemischt wurde.

Jetzt wandte sich Roger Hinsdale an Will Mitz.[387]

»Nun müssen Sie aber schlafen, sagte er, das ist notwendig, vor allem, wenn Sie die nächste Nacht wieder am Steuer bleiben wollen.

– Ja, es ist unbedingt nötig,« setzte Louis Clodion hinzu.

Will Mitz ließ die Blicke über den Horizont schweifen, und da er das Meer so ruhig und den Wind so stetig sah, antwortete er:

»Gut; ich werde zwei Stunden schlafen«

Damit überließ er das Steuer an Magnus Anders, nachdem er ihm noch einige Anweisungen gegeben hatte, und dann begab er sich unter das Schutzdach.

Zwei Stunden später erschien er, seinen Worten getreu, schon wieder und trat an das Heck des Bootes.

Sobald er sich hier überzeugt hatte, daß dieses richtig steuerte, beobachtete er aufmerksam den Himmel und das Meer.

Der Zustand der Atmosphäre hatte sich nicht geändert. An reinem Himmel stieg die Sonne dem Zenit entgegen. Die Temperatur wäre, im Verein mit der Spiegelung der Sonnenstrahlen auf dem Wasser, recht unerträglich gewesen, wenn die frische Seeluft sie nicht einigermaßen gemildert hätte.

Soweit man aber auch sehen konnte, nirgends zeigte sich weder die weiße Silhouette eines Segels, noch die schwarze Rauchsäule eines Dampfers. Vergeblich durchmaßen die Fernrohre die ungeheure Kreisfläche.

Zu dieser Jahreszeit befahren gewöhnlich zahlreiche englische, französische, amerikanische oder deutsche Schiffe die Meeresteile zwischen den Bermudasinseln im Norden und dem Archipel von Westindien im Westen. Nur selten vergeht da ein Tag, wo nicht Schiffe einander begegnen.

Will Mitz fragte sich jetzt auch, ob der Sturm den »Alert« nicht viel weiter hinaus, als er es annahm, und bis in eine Entfernung verschlagen habe, die vielleicht erst in zwei bis drei Wochen zu durchmessen war. Dann würde der Proviant aber lange vorher schon erschöpft sein, und bezüglich der Nahrung wären sie ausschließlich auf den Ertrag des Fischfangs, ihren Durst zu löschen aber auf den gelegentlichen Regen angewiesen gewesen.

Diese beunruhigenden Gedanken behielt Will Mitz jedoch für sich und heuchelte vielmehr eine Vertrauensseligkeit, die ihn doch mehr und mehr verließ.

Der Morgen verging ohne jede Veränderung der Sachlage, nur war noch eine Art Leesegel beigesetzt worden, wodurch der Rückenwind den Lauf des Bootes noch etwas beschleunigte.[388]

Das zweite, etwas reichlichere Frühstück bestand aus Schiffszwieback, Dörrfleisch und konserviertem Gemüse, das nur aufgewärmt zu werden brauchte, und als Getränk gab es dazu noch Tee. Patterson gewöhnte sich an die jetzige Lage und aß schon mit einigem Appetit. Die jungen Leute entwickelten einen wahren Heißhunger, Will Mitz krampfte sich aber das Herz zusammen, wenn er die Leiden bedachte die bei einer größeren Verzögerung der Fahrt allen noch bevorständen.

Am Nachmittage lieferten die nachgeschleppten Angelschnüre einige Fische, die, in Seewasser abgekocht, die Abendspeisekarte vervollständigten.

Dann kam die Nacht. Vor Sonnenuntergang war noch kein Segel zu sehen gewesen. Will Mitz, der bis zum Morgen am Steuer bleiben wollte, nötigte Louis Clodion und dessen Kameraden, wie in der letzten Nacht ruhig zu schlafen.

Am nächsten Tage, am 28. September, frischte der Wind, der zwischen Untergang und Aufgang der Sonne etwas schwächer geworden war, nach und nach wieder auf, so daß das Leesegel im Laufe des Vormittags wieder eingezogen werden mußte. Das Boot schnitt bei seiner Geschwindigkeit ziemlich tief ins Wasser ein und es wurde immer schwieriger, gelegentliche Gierschläge zu vermeiden. In der Voraussicht, daß, es nötig werden würde, die Segelfläche noch mehr zu verkleinern, gönnte sich Will Mitz nicht einmal zwei Stunden Schlaf.

Der Wind schien um so mehr stetig zu bleiben, als der tiefblaue Himmel jetzt vollständig wolkenlos war. Obgleich die Sonne nach dem Äquinoctium einen kürzeren Tagesbogen beschrieb, erzeugten ihre schrägen Strahlen doch noch eine sehr starke Hitze. Dabei mußte an Süßwasser möglichst gespart werden, da der schon zur Hälfte erschöpfte Vorrat an solchem nur durch Regenfälle ergänzt werden konnte. Das Wasser konnte also nur noch in Rationen abgegeben werden, doch nahm das jeder ohne zu klagen hin.

An diesem Tage erschien gegen drei Uhr nachmittags im Nordosten wieder ein langer Rauchstreifen, der die Hoffnung erweckte, einem Schiffe zu begegnen.

Leider sollte die Hoffnung nur kurz sein. Wohl tauchte bald ein großer Dampfer auf, doch vom Boote in der Entfernung von zehn Seemeilen. Seine Aufmerksamkeit zu erregen erwies sich als unmöglich, und Will Mitz überzeugte sich auch, daß der Dampfer ihren Weg nicht kreuzen werde. Nach einer Stunde[389] hatte dieser das Boot auch schon weit überholt, und bald sah man von ihm nur noch die letzten, vom Winde weitergetragenen Rauchwirbel.

Vor dem Abendessen singen Tony Renault, Hubert Perkins und Albertus Leuwen noch einige Fische, die wie vorher zubereitet wurden. Jetzt mußte man auch schon mit dem Kohlenvorrat sparsam umgehen.

Am nächsten Tage ging die Fahrt fast ganz unter gleichen Verhältnissen weiter, nur war der Wind etwas mehr nach Norden umgeschlagen, so daß man die Schoten anziehen und nun mit Seitenwind segeln mußte.

Die Geschwindigkeit des Bootes wurde dadurch zwar nicht verändert, es legte sich aber wiederholt so stark auf die Seite, daß sein Rand in gleicher Ebene mit dem Wasser lag.

Will Mitz blieb am Steuer und sorgte dafür, daß es kein Wasser übernahm, während Tony Renault die Schote nach Bedarf nachschießen ließ.

Am meisten beunruhigte es Will Mitz, daß die jungen Leute seine Besorgnis, die er doch immer zu verbergen suchte, zu erraten und zu teilen anfingen.

Vor allen schien der minder ausdauernde Patterson sich nicht mehr so aufrecht zu halten, wie bisher. An der Seekrankheit litt er zwar nicht, dagegen schüttelte ihn ein leichtes Fieber mit wahrhaft verzehrendem Durste. Diesen zu befriedigen, war jeder gern bereit, ihm seine schon knapp bemessene Wasserration abzutreten. Was hätte man auch beginnen sollen, wenn er schwerer erkrankte und etwa gar delirierte... eine naheliegende Befürchtung, da er schon jetzt ganz unzusammenhängende Worte murmelte.

Auch Axel Wickborn und Hubert Perkins wurden zuweilen von einer solchen Schwäche befallen, daß sie sich nicht mehr auf den Bänken halten konnten. Ihr blasses Gesicht, ihre hohlen Augen und etwas irren Blicke verrieten, daß es mit ihrer Kraft zu Ende war, und man mußte ihnen neben Patterson ein Lager bereiten.

Die Nacht vom 28. zum 29. September brachte Will Mitz noch mehr Angst und Sorge. Roger Hinsdale, Tony Renault und Magnus Anders, die bisher die größte Energie bewiesen hatten, schienen das Schicksal der Erstgenannten teilen zu sollen. Obendrein zeigte der Wind, der bis jetzt der Fahrt des Bootes günstig gewesen war, entschieden Neigung abzuflauen.

Am meisten zu fürchten war jetzt eine Windstille, deren Ende niemand absehen konnte. Das gab neue Verzögerungen, wo der Proviant sich doch[390] jeden Tag verminderte und das Trinkwasser, von dem nur noch wenige Pinten übrig waren, bald gänzlich fehlen mußte.

Das Boot hatte den »Alert« am Abend des 26. verlassen. Seit vier Tagen irrte es nun aufs Geratewohl auf dem öden Meere umher, und als Louis Clodion fragte, wie viele Meilen es nach Westen hin wohl zurückgelegt haben möchte, antwortete Will Mitz:

»Vielleicht hundertfünfzig...

– Hundertfünfzig Meilen, rief John Howard, und wir sehen noch immer kein Land!

– Liegt denn überhaupt kein Land nach dieser Seite?« murmelte Niels Harboe.

Will Mitz war um eine Antwort verlegen. Land gab es in jener Richtung, doch in welcher Entfernung, ließ sich unmöglich abschätzen.

Waren jetzt Lebensmittel noch für einige Tage vorhanden, so mußte das Trinkwasser schon nach achtundvierzig Stunden zu Ende gehen, wenn inzwischen kein Regen kam.

Bei dem durchweg heiteren Himmel war darauf leider wenig Aussicht. Der nach Norden umgeschlagene Wind brachte nicht das kleinste Wölkchen. Das Boot trieb dabei auch mehr nach Süden ab, und da konnte es nicht auf die amerikanische Küste treffen, denn nach dieser Seite lag vor ihm der ungeheure Ozean bis hinunter zum antarktischen Meere.

In der Nacht vom 29. zum 30. September legte sich der Wind noch weiter und bei Tagesanbruch schlug das schlaff hängende Segel gegen den Mast.

Mit Verzweiflung im Blicke starrten auch die Mutigsten auf die Wasserwüste hinaus.

Selbst Will Mitz konnte, die Hände faltend, nur noch die Vorsehung um Hilfe anrufen:

»Herr, mein Gott, flehte er, erbarme dich unser!«

Der Tag verging ohne jede Veränderung und trotz der glühenden Hitze mußte unausgesetzt gerudert werden. Dazu waren nur noch vier, Louis Clodion, Tony Renault, John Howard und Magnus Anders, einigermaßen fähig. Von den Strapazen erschöpft und vom Fieber gepackt, lagen ihre Kameraden auf dem Grunde des Bootes, und nun sollte es ihnen obendrein an Trinkwasser fehlen...[391]

Will Mitz bewahrte sich jedoch seine Tatkraft, um auch seine jungen Begleiter zu ermutigen. Er verließ nur das Steuer, wenn er selbst zum Ruder griff. Vergebens hoffte er auf den Wiedereintritt des Windes. Die wenigen Wolken am Horizont lösten sich stets sofort wieder auf. Das Segel hing ganz schlaff herunter und wurde nur nicht abgenommen, weil es wenigstens einigen Schutz gegen die brennenden Sonnenstrahlen gewährte.

In dieser Weise konnte es nicht mehr lange fortgehen.

Schon in der Nacht vom 1. zum 2. Oktober singen einige der armen jungen Leute an, irre zu reden. Sie weinten... riefen nach ihrer Mutter, und wenn Will Mitz sie nicht scharf im Auge behalten hätte, wären sie, eine Beute der schrecklichsten Wahnvorstellungen, wohl ins Meer gesprungen.

Endlich kam der Tag... sollte es für den und jenen von ihnen vielleicht der sein, der sie von ihren Leiden für immer erlöste?

Plötzlich ertönte ein Ausruf, ein Freudenschrei, der über Louis Clodions Lippen kam:

»Ein Schiff in Sicht!«

Quelle:
Jules Verne: Reisestipendien. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXIII–LXXXIV, Wien, Pest, Leipzig 1904, S. 379-385,387-392.
Lizenz:

Buchempfehlung

Schlegel, Dorothea

Florentin

Florentin

Der junge Vagabund Florin kann dem Grafen Schwarzenberg während einer Jagd das Leben retten und begleitet ihn als Gast auf sein Schloß. Dort lernt er Juliane, die Tochter des Grafen, kennen, die aber ist mit Eduard von Usingen verlobt. Ob das gut geht?

134 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon