Sechzentes Capitel.
Noch einige Stunden.

[192] Wie wirkt diese Nachricht auf mich ein! Von welch' unsagbarer Erregung fühl' ich mich ergriffen!... Endlich wird diese Lage der Dinge ein Ende finden, möge es ein solches sein, wie Civilisation und Menschlichkeit es gebieten!

Bis heute habe ich meine Beobachtungen Tag für Tag niedergeschrieben. Von jetzt ab muß ich damit Stunde für Stunde auf dem Laufenden bleiben. Wer weiß, ob mir das letzte Geheimniß Thomas Roch's nicht doch noch offenbar wird, wenn ich nicht mehr die Zeit habe, das Nöthige darüber niederzuschreiben.... Komm' ich aber bei dem Angriffe ums Leben, so gebe Gott, daß jemand auf meiner Leiche den Bericht über die fünf Monate findet, die ich in der Höhle von Back-Cup zugebracht habe.

Gleich anfangs haben Ker Karraje, der Ingenieur Serkö, der Kapitän Spade und mehrere andre ihrer Leute auf dem äußern Fuße des Eilands Stellung genommen. Was gäbe ich nicht darum, wenn ich ihnen folgen, mich zwischen Felsblöcken verbergen und die draußen gesehenen Schiffe beobachten könnte!

Eine Stunde später kehren Alle nach Bee-Hive zurück, während etwa zwanzig Mann als Wachen zurückgelassen werden. Da zu dieser Jahreszeit die Tage schon recht kurz sind, ist vor morgen nichts zu fürchten. Da es sich nicht um eine sofortige Ausschiffung von Mannschaften handeln kann, ist bei den Vertheidigungsmitteln, die die Angreifer als auf Back-Cup vorhanden vermuthen müssen, nicht daran zu denken, daß sie einen nächtlichen Angriff im Schilde führten.


Mehrere Leute haben am äußern Fuße des Eilands Stellung genommen (S. 192.)
Mehrere Leute haben am äußern Fuße des Eilands Stellung genommen (S. 192.)

[192] Bis zum Abend ist daran gearbeitet worden, die Bocklafetten an verschiednen Punkten des Eilands aufzustellen. Es sind deren sechs, die durch den Gang nach den vorher erwählten Plätzen geschafft wurden.

Nachdem das vollendet war, begab sich der Ingenieur Serkö wieder zu Thomas Roch in dessen Laboratorium. Will er ihn über das Vorgefallne unterrichten... ihm mittheilen, daß ein Geschwader in Sicht von Back-Cup liegt... ihm sagen, daß sein Fulgurator jetzt zur Vertheidigung des Eilands dienen soll?...[193]

Ich weiß nur bestimmt, daß gegen fünfzig Apparate, jeder mit mehreren Kilogramm Sprengstoff und dem Antriebsmaterial, das jenen eine Flugkraft verleiht, die der aller andern Geschosse überlegen ist, geladen bereit stehen, ihr Zerstörungswerk zu beginnen.

Von der Zündflüssigkeit hat Thomas Roch eine Anzahl Fläschchen hergestellt und – ich weiß das nur zu gut – er wird den Seeräubern Ker Karraje's seine Unterstützung nicht versagen.

Während jener Vorbereitungen ist die Nacht herangekommen. Ein Halbdunkel herrscht unten in der Höhle, denn die Lampen von Bee-Hive sind nicht angezündet worden.

Ich gehe langsam und bemüht, keinerlei Interesse an der neuesten Wandlung der Dinge zu verrathen, nach meiner Zelle zurück. Immerhin mag der Verdacht, den ich dem Ingenieur Serkö eingeflößt habe, durch das Erscheinen eines Geschwaders vor Back-Cup neu belebt worden sein.

Noch bleibt es übrigens fraglich, ob die Schiffe die jetzige Richtung beibehalten oder seitwärts von Back-Cup vorübersteuern, um am Horizonte wieder zu verschwinden. Einen Augenblick beherrschte mich diese Ungewißheit. Doch nein, nein! Nach der Beobachtung des Kapitän Spade – ich habe es von ihm selbst gehört – sind die Schiffe bis jetzt wenigstens in Sicht des Eilands geblieben.

Welcher Nation mögen sie angehören?... Haben es die Engländer, in dem Wunsche, die Zerstörung des »Sword« zu rächen, übernommen, diese Expedition auszurüsten oder hätten sich ihnen auch Kreuzerschiffe andrer Mächte angeschlossen?... Darüber weiß ich nichts... kann ich nichts wissen. Doch gleichviel!... Die Hauptsache bleibt es, daß dieses Räubernest zerstört wird, sollte ich auch von seinen Trümmern zermalmt werden, sollte ich wie der heldenhafte Lieutenant Davon und seine brave Mannschaft dabei mit zugrunde gehen.

Die Vorbereitungen zur Abwehr werden unter der Aufsicht des Ingenieur Serkö kaltblütig und methodisch fortgesetzt. Offenbar halten sich die Piraten überzeugt, daß es ihnen, wenn die Feinde die gefährliche Zone überschreiten, gelingen müsse, jene zu vernichten. Ihr Vertrauen zum Fulgurator Roch ist unbegrenzt. Von dem Gedanken beherrscht, daß jene Schiffe gegen sie nichts auszurichten vermögen, kommen ihnen etwaige Schwierigkeiten oder zukünftige Verlegenheiten gar nicht in den Sinn.

Meiner Annahme nach sind die Bocklafetten auf dem nordwestlichen Ufer errichtet und deren Rinnen so gerichtet, daß sie die Fulguratorgeschosse nach[194] Norden, Westen und Süden zu entsenden können. Die Ostseite des Eilands ist bekanntlich durch die Klippen gesichert, die sich bis zu den ersten Bermudas-Inseln hin ausdehnen.

Gegen neun Uhr wage ich es, meine Zelle zu verlassen. Es wird niemand auf mich achten, und vielleicht gelingt es mir, in den Gang zu schlüpfen, das Ufer zu erreichen und mich hinter einem Felsblock zu verbergen. Wenn ich doch bei Tagesanbruch mit draußen wäre!... Und warum sollte mir das jetzt nicht gelingen, wo Ker Karraje, der Ingenieur Serkö, der Kapitän Spade und deren Spießgesellen jedenfalls ihren Posten draußen schon wieder eingenommen haben?

Augenblicklich ist das Uferland der Lagune gänzlich verlassen, der Eingang zum Durchbruche aber von dem Malaien des Grafen d'Artigas bewacht. Ich trete dennoch hinaus und wende mich, ohne vorhergefaßten Plan, dem Laboratorium Thomas Roch's zu. Meine Gedanken beschäftigen sich einzig und allein mit meinem Landsmanne. Ich glaube bestimmt, daß er von der Anwesenheit der Kriegsschiffe nichts weiß. Der Ingenieur Serkö wird jedenfalls erst im letzten Augenblick an ihn mit dem Ansinnen herantreten, jetzt das Werk seiner Rache zu vollbringen.

Dabei fällt mir plötzlich ein, daß ich ja selbst Thomas Roch vorstellen könnte, welche Verantwortung er auf sich laden würde, wenn ich ihn in letzter Stunde darüber aufklärte, welche Art Leute es sind, die für ihre verbrecherischen Zwecke seine Hilfe in Anspruch nehmen...

Ja... den Versuch will ich wenigstens machen. O könnte ich doch in seiner gegen die menschliche Ungerechtigkeit empörten Seele eine patriotische Saite wieder zum Ertönen bringen!

Thomas Roch befindet sich in seinem Laboratorium. Er muß wohl allein sein, denn nie ist jemand dort zugelassen worden, wenn er sich mit den Bestandtheilen des Zünders beschäftigte.

Ich wende mich also dieser Seite zu, und nahe am Ufer der Lagune vorübergehend, überzeuge ich mich, daß der Tug längs des kleinen Hafendammes verankert liegt.

Hier angelangt, erscheint es mir rathsam, zwischen die ersten Pfeilerreihen zu schlüpfen, um nach dem Laboratorium von der Seite her zu kommen, was mir erlauben wird, zu sehen, ob sich bei Thomas Roch noch irgend jemand befindet.

Während ich unter den dunkeln Gewölben weiterschreite, wird ein heller Schein sichtbar, der nach dem andern Ufer der Lagune hin ausstrahlt. Dieses[195] Licht entströmt einer Ampel im Laboratorium und sendet seine Strahlen durch ein schmales Fenster der Vorderseite.

Außer dieser Stelle liegt das südliche Uferland im Dunkeln, während an der gegenüberliegenden Seite Bee-Hive bis zur nördlichen Höhlenwand erleuchtet ist. In der Oeffnung der Decke über der dunkeln Lagune blinken einige Sterne. Der Himmel ist klar, der Sturm hat sich gelegt und keine Luftwirbel dringen mehr ins Innre von Back-Cup ein.

Am Laboratorium angelangt, schleiche ich längs der Wand hin, richte mich dann vorsichtig bis zum Fenster empor und sehe Thomas Roch dahinter.

Er ist allein. Sein hell beleuchtetes Gesicht ist mir zu drei Viertel zugedreht. Wenn seine Züge auch schlaff erscheinen und seine Stirnfalten schärfer ausgeprägt sind, so verräth sein Ausdruck doch eine vollkommene innere Ruhe, eine gänzliche Herrschaft über sich selbst. Nein, das ist nicht mehr der Bewohner des Pavillons Nr. 17, der Geisteskranke des Healthsul-House, und ich frage mich nur, ob er wohl völlig geheilt, ob nicht zu befürchten ist, daß sein Verstand in einer letzten Krisis doch noch verloren geht.

Thomas Roch hat eben zwei Glasgefäße auf ein Wandbrett gestellt und hält ein drittes Fläschchen in der Hand.

Er bringt es in den Lichtschein der Hängelampe und sieht nach, ob die Flüssigkeit darin ganz klar ist.

Einen Augenblick packt mich das Verlangen, in das Laboratorium zu stürzen, die Gläser zu ergreifen, sie zu zertrümmern... Thomas Roch würde dafür aber doch neue Mengen seiner Zündflüssigkeit herstellen können... Nein, es ist besser, ich bleibe bei meinem ersten Vorhaben.

So stoß' ich die Thür auf, trete ein und sage:

»Thomas Roch!«...

Er hat mich weder gesehen, noch gehört.

»Thomas Roch!« wiederhole ich.

Da erhebt er den Kopf, dreht sich um und starrt mich an.

»Ah, Sie sind's, Simon Hart!« antwortet er in ruhigem, fast gleichgiltigem Tone.

Er kennt meinen Namen. Der Ingenieur Serkö hat ihn darüber aufgeklärt daß es nicht der Wärter Gaydon, sondern Simon Hart war, der ihn früher im Healthful-House überwachte.

»Sie wissen also...? erwidre ich.[196]

– Ebenso wie ich weiß, in welcher Absicht Sie einst den Pflegerdienst bei mir übernahmen... Ja, Sie hofften ein Geheimniß zu durchschauen, für das mir niemand den gebührenden Preis zahlen wollte!«

Thomas Roch ist von allem unterrichtet, und vielleicht ist das desto besser im Hinblick auf das, was ich ihm sagen will.

»Nun, es ist Ihnen nicht gelungen, Herr Hart! Und was das hier angeht, setzt er hinzu, während er den Inhalt des Gläschen schüttelt, ist es überhaupt noch niemand gelungen... und wird auch nie gelingen!«

Thomas Roch hatte also, wie ich mir immer dachte, die Zusammensetzung seiner Zündflüssigkeit nicht bekannt gegeben.

Nachdem ich ihm darauf gerade ins Gesicht gesehen hatte, antworte ich:

»Sie wissen also, wer ich bin, Thomas Roch... doch wissen Sie denn auch, bei wem Sie sind?

– Bei mir zu Hause!« ruft er laut.

Ja, das hat ihn Ker Karraje glauben lassen. Auf Back-Cup betrachtet sich der Erfinder als zu Hause. Die in der Höhle aufgehäuften Schätze sind sein Eigenthum... Greift jemand Back-Cup an, so will er ihm sein Gut rauben... und er wird es vertheidigen... er hat das Recht dazu!

»Thomas Roch, nahm ich wieder das Wort, hören Sie mich an...

– Was haben Sie mir zu sagen, Simon Hart?

– Die Höhle, nach der wir Beide verschleppt wor den sind, wird von einer Bande von Seeräubern bewohnt...«

Thomas Roch läßt mich nicht aussprechen – ich weiß nicht einmal, ob er mich verstanden hat – sondern fällt hastig ein:

»Ich wiederhole Ihnen, daß die hier lagernden Reichthümer der Preis für meine Erfindung sind... Sie gehören mir... Man hat mir für den Fulgurator Roch so viel bezahlt, wie ich verlangte... und das hatte man mir überall verweigert... sogar in meinem eignen Vaterlande... das ja auch das Ihrige ist... doch ausplündern lass' ich mich nicht!«

Was sollte ich auf so thörichte Reden erwidern?... Ich fahre also fort und sage:

»Thomas Roch, Sie erinnern sich doch noch des Healthful-House?

– Des Healthful-House... wo man mich eingesperrt und den Wärter Gaydon beauftragt hatte, meine geringsten Worte zu belauschen... mir mein Geheimniß zu stehlen...[197]

– Mir ist niemals in den Sinn gekommen, Thomas Roch, Sie des Nutzens aus Ihrer Erfindung zu berauben... dazu hätt' ich mich nicht hergegeben! Sie waren aber krank... Ihre Geisteskräfte etwas erschüttert... und eine solche Erfindung durfte doch nicht verloren gehen.... Hätten Sie in einem Krankheitsanfalle Ihr Geheimniß vor mir entschleiert, so würde Ihnen den noch die Ehre und der Nutzen daraus bewahrt geblieben sein.

– Wirklich, Simon Hart, antwortet Thomas Roch verächtlich, Ehre und Nutzen... das sagen Sie mir etwas spät!.. Sie vergessen wohl, daß man mich unter dem Vorwande, ich sei geisteskrank, in eine Zelle eingesperrt hatte... ja, unter dem Vorwande; denn ich hatte niemals den Verstand verloren, nicht eine Stunde lang, und das erkennen Sie wohl aus allem, was ich geschaffen habe, seit ich wieder frei bin...

– Frei!... Sie halten sich für frei, Thomas Roch!... Zwischen den Wänden dieser Höhle sind Sie nicht weniger eingesperrt, als Sie es zwischen den Mauern des Healthful-House waren!...

– Wer bei sich zu Hause ist, versetzt Thomas Roch mit einer Stimme, die der Ingrimm schärfer klingen macht, geht aus und ein, wie und wann es ihm beliebt!... Ich brauche nur ein Wort zu sagen, und alle Thüren öffnen sich mir... Diese Wohnung ist mein Eigenthum!... Der Graf d'Artigas hat sie mir mit allem, was darin ist, selbst abgetreten. Weh' denen, die es wagten, sie anzugreifen! Ich habe Mittel in der Hand, sie zu vernichten, Simon Hart!«

Bei diesen Worten bewegt der Erfinder das Glasgefäß, das er in der Hand hält, fieberhaft hin und her.

Da rufe ich ihm zu:

»Der Graf d'Artigas hat Sie betrogen, Thomas Roch, Sie ebenso, wie viele Andre... Unter diesem Namen verbirgt sich einer der schlimmsten Verbrecher, die je auf dem Stillen und dem Atlantischen Ocean gehaust haben!... Er ist ein Bandit... mit schwerster Schuld beladen... es ist der berüchtigte Ker Karraje...

– Ker Karraje!« wiederholt Thomas Roch.

Ich vermag nicht zu entscheiden, ob dieser Name auf ihn einen besondern Eindruck macht, ob er sich an den erinnert, der ihn trägt. Jedenfalls seh' ich aber, daß dieser Eindruck sich schnell wieder verwischt.

»Ich kenne keinen Ker Karraje, sagt Thomas Roch, der den Arm nach der Thür zu ausstreckt, wie um mich hinaus zu weisen. Ich kenne nur den Grafen d'Artigas.[198]

– Thomas Roch, nehm' ich zu einem letzten Versuche noch einmal das Wort, der Graf d'Artigas und Ker Karraje sind einunddieselbe Person!... Hat dieser Mann Ihr Geheimniß gekauft, so geschah das in der Absicht, sich Straflosigkeit für seine Schandthaten zu sichern und solche nur desto leichter begehen zu können. Ja... er ist der Anführer dieser Seeräuber...

– Seeräuber, unterbricht mich Thomas Roch, dessen Erregung so zunimmt, daß er ganz außer sich geräth, Seeräuber wären die, die mich auch hier in meiner Zurückgezogenheit zu bedrohen wagten, die das mit dem »Sword« schon einmal versucht haben – Serkö hat mir alles mitgetheilt – die mir aus meinem Wohnsitz rauben wollten, was mir gehört und nur der entsprechende Preis für meine Erfindung ist...

– Nein, nein, Thomas Roch, das sind die, die Sie in der Höhle von Back-Cup gefangen halten, die Ihre Fähigkeiten zur eignen Vertheidigung benützen wollen und die sich Ihrer entledigen werden, wenn sie erst im vollen Besitz Ihres Geheimnisses sind!«

Thomas Roch unterbricht mich hier nochmals. Er scheint von dem, was ich ihm sage, nichts zu verstehen; er verfolgt nur seine Gedanken, nicht die meinigen... den ihn beherrschenden Gedanken an Rache, den der Ingenieur Serkö in ihm nur noch mehr großgezogen hat und in dem sein ganzer Haß zusammenfließt.

»Die Räuber, fährt er fort, das sind die Leute, die mich abgewiesen haben, ohne mich hören zu wollen... die mich ungerecht behandelten... mich durch Geringschätzung und abschlägige Antworten erdrückt, die mich von Land zu Land getrieben haben, während ich ihnen die Superiorität, die Unbesieglichkeit, die Allmacht anbot!«

Es ist die alte Geschichte des Erfinders, auf den niemand hören will, dem gleichgiltige oder neidische Personen die Mittel zur Ausführung seiner Erfindung verweigern, die nicht den Preis anlegen wollen, dessen er sie werth hält.... Ich kenne sie, kenne auch alles, was zuweilen Uebertriebenes über diesen Gegenstand geschrieben worden ist.


Der Erfinder bewegt das Glasgefäß fieberhaft hin und her. (S. 198.)
Der Erfinder bewegt das Glasgefäß fieberhaft hin und her. (S. 198.)

Auf jeden Fall ist es jetzt nicht der richtige Augenblick, mit Thomas Roch weiter zu verhandeln. Ich sehe nur, daß meine Beweisgründe keinen Eindruck machen auf diese erschütterte Seele, auf dieses Herz, worin Enttäuschungen so viel Haß aufgehäuft haben, auf diesen Unglücklichen, der von Ker Karraje und seinen Helfershelfern betrogen wird. Durch Nennung des wahren Namens des[199] Grafen d'Artigas, dadurch, daß ich ihn über diese Verbrecherrotte und ihren Anführer aufklärte, hoffte ich, ihn der Beeinflussung durch dieselben zu entreißen, ihm das schändliche Ziel zu zeigen, worauf sie ihn hindrängten.... Ich habe mich getäuscht! Er glaubt mir nicht. Doch ob d'Artigas oder Ker Karraje, was thut's?...

Ist er, Thomas Roch, nicht der Herr von Back-Cup?... Ist er nicht der Besitzer all der Schätze, die zwanzig Jahre lange Mord- und Raubzüge hier angehäuft haben?[200]

Durch eine solche moralische Entartung entwaffnet und außer Stande, diese tief verletzte Natur, diese der Verantwortlichkeit für ihre Thaten unbewußte Seele irgendwie mit Erfolg zu treffen, weiche ich langsam nach der Thür des Laboratoriums zurück. Es bleibt mir nichts anders übrig, als davon zu gehen. Was da kommen soll, wird kommen, da es nicht in meine Macht gegeben war, die entsetzliche Lösung des Knotens, die uns in wenigen Stunden bedroht, zu verhindern.

Thomas Roch sieht mich übrigens gar nicht mehr. Er scheint vergessen zu habe, daß ich hier bei ihm stehe, ebenso wie er vergessen hat, was eben zwischen[201] uns gesprochen wurde. Er geht wieder an seine Arbeit, ohne darauf zu achten, daß er nicht allein ist.


Die ganze Bande ist jetzt versammelt. (S. 205.)
Die ganze Bande ist jetzt versammelt. (S. 205.)

Es bleibt mir nur ein Mittel übrig, die bevorstehende Katastrophe zu verhindern... ich müßte mich auf Thomas Roch stürzen... ihn außer Stand setzen, schaden zu können... ihn niederschlagen... tödten... Ja, ihn tödten! Das ist mein Recht... meine Pflicht.

Waffen hab' ich zwar nicht, doch dort auf dem Regale liegen Werkzeuge... ein Meißel, ein Hammer. Wer hindert mich, dem Erfinder den Schädel zu zertrümmern?... Ist er todt, so zerbrech' ich die Flaschen und seine Erfindung ist mit ihm gestorben. Dann können die Schiffe herandampfen, können ihre Mannschaften auf Back-Cup landen... das Eiland zusammenschießen!... Ker Karraje und seine Spießgesellen werden bis zum letzten ausgerottet... Kann ich vor einem Morde zurückschrecken, der endlich die Bestrafung für so viele Verbrechen ermöglicht?...

Ich nähere mich dem Regale... Da liegt der stählerne Meißel... schon will ich ihn ergreifen...

Da wendet Thomas Roch sich um.

Es ist zu spät, ihn niederzuschlagen... ohne Kampf ginge das nicht ab... ein Kampf bedeutet aber Geräusch... Sein Rufen würde gehört werden... In der Nähe sind noch einige Piraten... Ich höre sogar Schritte, die im Sande knirschen... Jetzt gilt es zu entfliehen, um mich hier nicht überraschen zu lassen...

Ein letztes Mal will ich nur versuchen, in dem Erfinder die Gefühle der Vaterlandsliebe zu erwecken.

»Thomas Roch, sag' ich zu ihm, es sind Kriegsschiffe in Sicht... sie kommen, um diesen Schlupfwinkel zu zerstören... vielleicht führt eins derselben die Flagge Frankreichs...«

Thomas Roch sieht mich an. Er wußte noch nicht, daß Back-Cup angegriffen werden sollte, und ich hab' es ihm mitgetheilt.... Die Falten seiner Stirn vertiefen sich... in seinen Augen flammt es auf...

»Thomas Roch, würden Sie es über sich gewinnen, auf die Flagge Ihres Vaterlands, auf die dreifarbige Fahne zu feuern?«

Der Halbirre erhebt den Kopf, schüttelt ihn nervös und macht dann eine wegwerfende Bewegung.

»Wie?... Ihr Vaterland...[202]

– Ich habe kein Vaterland mehr, Simon Hart! ruft er laut. Der abgewiesene Erfinder kennt kein Vaterland mehr!... Da, wo er Zuflucht findet, da ist sein Vaterland!... Man will sich meines Eigenthums bemächtigen... ich werde es vertheidigen... und wehe denen, die die Hand danach erheben!«

Damit eilt er nach der Thür des Laboratoriums und stößt sie heftig auf:

»Hinaus! Hinaus mit Ihnen!« ruft er mir so laut zu, daß man ihn am Ufer vor Bee-Hive hören muß.

Ich habe keine Secunde zu verlieren und entfliehe aus dem Bannkreise des erzürnten Erfinders.

Quelle:
Jules Verne: Vor der Flagge des Vaterlands. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXIX, Wien, Pest, Leipzig 1897, S. 192-203.
Lizenz:

Buchempfehlung

Lohenstein, Daniel Casper von

Epicharis. Trauer-Spiel

Epicharis. Trauer-Spiel

Epicharis ist eine freigelassene Sklavin, die von den Attentatsplänen auf Kaiser Nero wusste. Sie wird gefasst und soll unter der Folter die Namen der Täter nennen. Sie widersteht und tötet sich selbst. Nach Agrippina das zweite Nero-Drama des Autors.

162 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon