Siebzehntes Capitel.
Eine gegen Fünf.

[203] Eine Stunde lang bin ich unter der dunkeln Wölbung von Back-Cup umhergeirrt, zwischen den steinernen Pfeilern und bis zum äußersten Ende der Höhle. Hier hab' ich so viele Male nach einem Ausgange gesucht, nach einer Spalte, einem Riß in der Wand, wohindurch ich hätte schlüpfen und nach dem Ufer des Eilands gelangen können.

Meine Bemühungen sind vergebens gewesen. Bei dem Zustande, in dem ich mich jetzt befinde, wo ich eine Beute unerklärlicher Sinnestäuschungen bin, scheint es mir, als ob diese Wände sich noch verdickten... als ob die Mauern meines Kerkers näher an einander rückten und mich zermalmen müßten...

Wie lange diese Störung meiner Geistesthätigkeit gedauert hat, weiß ich nicht zu sagen.

Ich komme an der Seite von Bee-Hive, vor der Zelle, worin ich weder Ruhe noch Schlaf erhoffen darf, endlich wieder zur klaren Besinnung. Doch schlafen, wenn man geistig so überreizt ist... schlafen, wo ich vor dem Ausgang einer Sachlage stehe, die sich lange Jahre hinzuschleppen drohte!...

Was wird die Lösung des Knotens aber für mich zu bedeuten haben? Was hab' ich zu erwarten von dem auf Back-Cup vorbereiteten Angriff, dessen[203] Erfolg ich nicht dadurch zu sichern vermochte, daß ich Thomas Roch außer Stand setzte, Unheil zu verbreiten?... Seine Kriegsmaschinen sind fertig zum Hinausschleudern, sobald die Schiffe in die gefährdete Zone eingetreten sind, und selbst ohne unmittelbar getroffen zu sein, werden sie zugrunde gerichtet werden.

Doch was auch komme, ich bin verurtheilt, die letzten Stunden dieser Nacht in meiner Zelle zuzubringen. Jetzt muß ich wohl oder übel hineintreten. Mit Anbruch des Tages werd' ich ja sehen, was sich thun läßt. Und ich weiß ja nicht einmal, ob nicht diese Nacht noch Donnerkrachen die Felsen von Back-Cup erschüttern wird... das Krachen des Fulgurator Roch, der die Kriegsschiffe zerschmettert, ehe sie vor dem Eiland Aufstellung nehmen können!

In diesem Augenblick werf' ich einen letzten Blick auf die Umgebung von Bee-Hive. Mir gegenüber strahlt noch ein Licht... ein einziges... das des Laboratoriums, dessen Widerschein auf dem Wasser der Lagune zittert.

Die Ufer sind öde, niemand befindet sich auf dem Hafendamme. Da kommt mir der Gedanke, daß Bee-Hive zur Stunde verlassen sein möge, daß seine Insassen schon nach dem Kampfplatze geeilt wären.

Von unwiderstehlichem Verlangen getrieben, gleite ich längs der Wand hin, statt in meine Zelle zurückzukehren, ich horche und spähe umher, bereit, mich in irgend einem Winkel zu verbergen, wenn sich Stimmen oder Schritte hören ließen.

So komme ich bis zur Mündung des Ganges

Allmächtiger Gott! Hier steht niemand Wache... der Weg ist frei!

Ohne mir zur Ueberlegung Zeit zu nehmen, dringe ich in den dunkeln Schlauch – mehr ist es nicht – ein und taste mich an seiner Wand weiter. Bald weht mir eine frischere Luft ins Gesicht, die salzgeschwängerte Luft des Meeres, die Luft, die mir seit fünf langen Monaten zu athmen nicht gegönnt war, die belebende Luft, die ich mit gierigen Zügen einsauge...

Am andern Ende des Ganges zeigt sich der mit Sternen besäete Himmel. Kein Schatten verhüllt ihn, und vielleicht kann ich jetzt aus Back-Cup entweichen.

Ich werfe mich auf den Leib und krieche langsam, geräuschlos vorwärts.

Als ich mit dem Kopf über die Mündung hinaus bin, sehe ich mich um...

Niemand... niemand!

Am östlichen Fuße des Eilands und damit nach der Seite hinschleichend, wo die Klippen jede Landung unmöglich machen, erreiche ich eine enge Einbuchtung, etwa zweihundert Meter von der Stelle, wo eine Uferspitze sich nach Nordwesten hinausschiebt.[204]

Endlich... bin ich aus dieser Höhle heraus... zwar noch nicht frei, es ist aber doch der Anfang der Freiheit.

Auf der Spitze erkenne ich die Silhouetten einzelner unbeweglicher Wachposten, die selbst wie kleinere Felsblöcke aussehen.

Das Himmelsgewölbe ist klar, und die Sternbilder leuchten in dem starken Glanze, den ihnen die Nachtkälte des Winters verleiht.

Am nordwestlichen Horizonte zeigen sich, gleich einer Funkenlinie, die Positionslichter der Kriegsschiffe.

Nach dem Auftauchen eines fahlen weißen Scheines im Osten urtheile ich, daß es etwa um fünf Uhr morgens sein mag.

Am 18. November. – Schon ist es ziemlich hell geworden und ich werde meine Aufzeichnungen vervollständigen können, indem ich die Einzelheiten von meinem Besuche des Laboratoriums niederschreibe... vielleicht sind das die letzten Zeilen von meiner Hand!

Ich beginne zu schreiben, und je nach der Reihenfolge der Vorgänge bei dem Angriffe, werden sie eine Stelle in meinem Hefte finden.

Der seine und feuchte Dunst, der über dem Meere lagert, verschwindet bald unter der aufspringenden Morgenbrise. Endlich erkenne ich die signalisierten Kriegsschiffe.

Sie liegen, fünf an der Zahl, in einer Linie und kaum sechs Seemeilen entfernt, doch noch außerhalb der Tragweite von Roch's Wurfgeschossen.

Eine Befürchtung ist also zerstreut... die Furcht, daß jene Schiffe, nachdem sie in Sicht der Bermudas-Inseln vorübergekommen wären, ihre Fahrt nach den Gewässern der Antillen und Mexikos fortgesetzt hätten. Nein, sie sind noch da... liegen still... sie warten nur den hellen Tag ab, um Back-Cup anzugreifen.

In diesem Augenblick entsteht auf dem Ufer eine gewisse Bewegung. Drei oder vier der Raubgesellen tauchen zwischen den vordersten Felsblöcken auf. Die Wachposten von der Spitze ziehen sich zurück. Die ganze Bande ist jetzt versammelt.

Sie hat nicht Schutz im Innern der Höhle gesucht, wohl wissend, daß die Schiffe nicht nahe genug herankommen können, um das Eiland mit ihren groben Geschossen zu erreichen.

In der Tiefe der Einbuchtung, wo ich bis an den Kopf versteckt bin, laufe ich keine Gefahr, entdeckt zu werden, und es ist auch nicht anzunehmen, daß[205] jemand nach dieser Seite hin kommt. Immerhin könnte sich noch etwas Unangenehmes ereignen: wenn der Ingenieur Serkö nämlich, oder irgend ein Andrer, sich überzeugen wollte, ob ich mich in meiner Zelle befände, oder wenn sie mich in diese einschließen wollten... Doch, mein Gott, was haben Sie denn von mir zu fürchten?

Um sieben Uhr fünfundzwanzig begeben sich Ker Karraje, der Ingenieur Serkö und der Kapitän Spade nach der Felsenspitze hinaus, von wo sie den nordwestlichen Horizont besichtigen. Hinter ihnen sind die sechs Bocklafetten aufgestellt, in deren Rinnen schon die automobilen Geschosse liegen. Nachdem sie durch die Zündmasse in Brand gesetzt sind, werden sie in langem Laufe hinauszischen bis zu der Zone, wo ihre Explosion die ganze Luftmasse der Umgebung orkanartig aufwühlt.

Um sieben Uhr fünfunddreißig. Ueber den Kriegsschiffen steigen vereinzelt Rauchwolken auf, sie werden sich in Gang setzen und in die Schußweite der erstörungsmaschinen Back-Cups kommen.

Die Banditenhorde stößt ein entsetzliches Freudengeschrei aus... eine Salve Hurrahs... gleich dem Gebrüll von Raubthieren.

Im gleichen Augenblick verläßt der Ingenieur Serkö die Gruppe, in der nur Ker Karraje und der Kapitän Spade zurückbleiben. Er wendet sich nach der Mündung des Ganges und begiebt sich nach der Höhle, aus der er gewiß Thomas Roch holen will.

Wird sich der Erfinder, wenn ihm Ker Karraje befiehlt, seine mörderischen Geschosse nach den Schiffen zu entsenden, wohl an das erinnern, was ich ihm gesagt habe?... Wird ihm das Verbrechen, das er begehen könnte, nicht in aller abschreckenden Entsetzlichkeit vor Augen treten?... Wird er die Stimme des Gewissens hören?... Nein, ich glaube es leider nicht! Warum sollt' ich mich hierüber auch einer Einbildung hingeben?... Ist der Erfinder denn nicht hier zu Hause?... Er hat es ja wiederholt ausgesprochen... er glaubt es. Jetzt will man ihn angreifen... er vertheidigt sich!

Die fünf Fahrzeuge rücken mit mäßiger Schnelligkeit näher heran und steuern auf die Spitze des Eilands zu. Vielleicht hegt man dort an Bord den Gedanken, daß Thomas Roch den Raubgesellen von Back-Cup seine letzten Geheimnisse noch nicht verrathen habe, und in der That war das an jenem Tage noch nicht der Fall, wo ich die kleine Tonne der Strömung in der Lagune anvertraute. Wenn die Commandanten der Kriegsschiffe aber eine Landung am[206] Eiland beabsichtigen, wenn sie sich in die eine Seemeile breite Gefahrenzone wagen, so werden von den Fahrzeugen bald nur noch unförmige Trümmer auf dem Meere treiben!

Richtig, dort kommt Thomas Roch mit dem Ingenieur Serkö. Beim Verlassen des Ganges wenden sie sich der Bocklafette zu, die nach dem führenden Schiffe hin gerichtet ist.

Ker Karraje und der Kapitän Spade erwarten sie an diesem Platze.

Soweit ich es beurtheilen kann, erscheint Thomas Roch sehr ruhig. Er weiß, was er thun wird. Kein Zaudern wird den Unglücklichen, den sein Haß verwirrt, beschleichen können.

Zwischen seinen Fingern glänzt eins der Glasgefäße, das die Zündflüssigkeit enthält.

Seine Blicke richten sich nach dem am wenigsten entfernten Schiffe, das jetzt etwa fünf Meilen von hier herandampft.

Es ist ein Kreuzer von mittler Größe, höchstens von zweitausendfünfhundert Tonnen. Eine Flagge hat er nicht gehißt; aus seiner Bauart glaub' ich aber zu erkennen, daß es ein englisches Schiff ist.

Die vier andern Schiffe halten sich hinter ihm zurück.

Dem Kreuzer fällt offenbar die Aufgabe zu, den Angriff gegen das Eiland einzuleiten.

Wenn seine Geschütze doch Feuer speien wollten, da die Seeräuber ihn noch näher herankommen lassen, und wenn doch das erste ihrer Geschosse jetzt Thomas Roch niederstreckte!

Während der Ingenieur Serkö die Fahrt des Schiffes genau beobachtet, nimmt Thomas Roch hinter der Bocklafette Platz. Diese Lafette trägt drei mit Sprengstoff gefüllte Geschosse, denen ihr Antriebsmaterial eine weite Flugbahn sichern muß, ohne daß es nöthig ist, ihnen eine spindelartige Bewegung zu verleihen, was der Erfinder Turpin für seine giroskopischen Geschosse geplant hatte. Es genügt ja übrigens, daß sie in der Entfernung einiger hundert Meter von dem Schiffe explodieren, um dieses mit einem Schlage zu vernichten.


Der Augenblick ist herangekommen. (S. 207.)
Der Augenblick ist herangekommen. (S. 207.)

Der Augenblick ist herangekommen.

»Thomas Roch!« ruft der Ingenieur Serkö.

Er zeigt dabei mit dem Finger nach dem Kreuzer. Dieser steuert langsam auf die Nordwestspitze zu, von der er jetzt zwischen vier und fünf Seemeilen entfernt sein mag.[207]

Thomas Roch giebt ein zustimmendes Zeichen und deutet durch eine Handbewegung an, daß er bei der Lafette allein sein will.

Ker Karraje, der Kapitän Spade und die Andern weichen gegen fünfzig Schritte zurück.

Dann entkorkt Thomas Roch das in der rechten Hand gehaltne Fläschchen und gießt hintereinander durch die in einer Art Leitstange vorhandene Oeffnung einige Tropfen von der Flüssigkeit, die sich mit dem Treibmaterial vermengen.[208]

Fünfundvierzig Secunden verstreichen – die nöthige Zeit zu einer sich vollziehenden chemischen Veränderung – fünfundvierzig Secunden, während der mein Herz seine Schläge auszusetzen scheint... Jetzt zerreißt ein entsetzliches Pfeifen die Luft; einen sehr langen, etwa hundert Meter hohen Bogen in der Luft beschreibend, zischen die drei Geschosse an dem Kreuzer vorbei.

Haben sie ihr Ziel verfehlt? Ist die Gefahr vorüber?

Nein! Gleich den diskusförmigen Geschossen des Artillerieofficiers Chapel kehren sie wie ein australischer Bumerang auf ihrem Wege zurück.


Ein einziger Körper wurde noch ziemlich unverletzt aufgefunden. (S. 215.)
Ein einziger Körper wurde noch ziemlich unverletzt aufgefunden. (S. 215.)

[209] Fast gleichzeitig wird der Luftraum mit einer Gewalt erschüttert, die etwa der Explosion eines Melinit- oder Dynamitlagers zu vergleichen wäre. Die niedrigeren Schichten der Atmosphäre werden bis nach dem Eiland Back-Cup zurückgeschleudert, so daß dieses in seinen Grundvesten erzittert...

Ich schaue hinaus...

Der Kreuzer ist verschwunden, zerrissen, zertrümmert und versenkt. Es ist die Wirkung des Zalinski'schen Geschosses, doch verhundertfacht durch die Gewalt des Fulgurator Roch.

Da jubeln die Banditen, die sich nach der äußersten Spitze drängen, laut kreischend auf. Ker Karraje, der Ingenieur Serkö und der Kapitän Spade stehen wie versteinert da... sie können kaum glauben, was sie mit eignen Augen gesehen haben.

Thomas Roch kreuzt gelassen die Arme, doch sein Auge leuchtet, sein Gesicht strahlt von innrer Befriedigung.

Ich begreife, wenn ich ihn auch verabscheue, den Triumph des Erfinders, in dem Haß und gestillte Rache sich verschmelzen.

Wenn sich die andern Schiffe heranwagen, wird es ihnen ebenso ergehen, wie dem Kreuzer... es droht ihnen unter denselben Umständen das unvermeidliche Verderben, ohne daß sie ihrem Schicksal entgehen könnten. Nun wohl, schwindet auch meine letzte Hoffnung mit ihnen, so mögen sie doch lieber zurückweichen, aufs hohe Meer hinaus steuern und jeden nutzlosen Angriff unterlassen. Die Seemächte werden sich zur Zerstörung das Eilands schon in andrer Weise verständigen. Sie werden Back-Cup mit einem Gürtel von Kriegsschiffen einschließen, den die Seeräuber nicht zu durchbrechen vermögen, und diese werden in ihrem Schlupfwinkel durch Hunger umkommen, wie Raubthiere in ihrer Höhle.

Und doch – ich weiß es – von Kriegsschiffen darf man nicht verlangen, daß sie zurückweichen sollten, selbst wenn sie dem sichern Untergange entgegengehen. Auch die da draußen werden eines nach dem andern den Kampf aufnehmen, sollten sie auch in den Tiefen des Oceans versinken.

Wirklich werden jetzt schon vielfache Signale zwischen ihnen ausgetauscht. Sehr bald darauf verdunkelt sich der Horizont durch dicke Rauchsäulen, die der Wind nach Nordwesten hintreibt, und die vier Schiffe setzen sich in Gang.

Eines davon, das mit forciertem Zuge fährt, überholt die andern, es sucht eiligst in Schußweite zu kommen, um mit seinen schweren Geschützen Feuer zu geben.[210]

Auf jede Gefahr hin erhebe ich mich aus dem Versteck... ich starre voller Spannung hinaus... erwarte, ohne sie verhindern zu können, eine zweite Katastrophe.

Das Schiff, das zusehends größer erscheint, ist ein Kreuzer von ähnlichem Tonnengehalt wie der erste. Keine Flagge weht an seiner Gaffel und ich kann nicht erkennen, welcher Nationalität er angehört. Offenbar schürt er seine Feuer doppelt, um die gefährdete Zone hinter sich zu lassen, ehe neue Höllenmaschinen gegen ihn geschleudert werden können. Wie könnte er aber deren zerstörender Wirkung entgehen, da sie ihn auch noch von rückwärts her treffen können?...

Thomas Roch hat sich nach der zweiten Lafette begeben, als das Schiff grade über die Stelle hinglitt, an der es, dem ersten folgend, verschlungen werden sollte.

Nichts stört die Ruhe der Atmosphäre, obgleich von der See her dann und wann ein Windhauch kommt.

Plötzlich erschallt Trommelwirbel an Bord des Kreuzers... man hört Hornsignale anschlagen; ihre metallne Stimme dringt bis zu mir...

Ich erkenne ihn, diesen Hörnerklang... den französischen Hörnerklang! Gerechter Gott! Es ist ein Schiff meines Vaterlands, das die andern überholt hat und das ein französischer Erfinder zu vernichten sich anschickt!...

Nein, das darf nicht sein! Ich werde mich auf Thomas Roch stürzen... werde ihm zurufen, daß dieses Schiff ein französisches ist... Er hat es nicht erkannt... wird es nicht erkennen...

In diesem Augenblick erhebt Thomas Roch auf ein Zeichen des Ingenieur Serkö schon die Hand, in der er das Glasgefäß hält...

Jetzt erklingen die Hörner noch lauter... das ist die Begrüßung der Flagge. Ein Flaggentuch breitet sich im Winde aus... die dreifarbige Flagge, deren Blau, Weiß und Roth sich leuchtend vom Himmel abhebt.

Ah, was geht da vor?... Ich verstehe... beim Erblicken der vaterländischen Flagge packt es Thomas Roch wie mit zaubrischer Gewalt. Sein Arm sinkt nach und nach ebenso herab, wie die Flagge langsamemporsteigt, dann wankt er zurück... bedeckt sich die Augen, als wollte er ihnen die Farben der dreifarbigen Flagge verbergen. –

Allmächtiger Gott! Es ist also doch nicht alle Vaterlandsliebe in diesem verwundeten Herzen erstorben, es schlägt ja noch höher beim Anblick der Flagge seines Heimatlandes!...[211]

Meine Erregung ist nicht geringer als die seine. Auf die Gefahr hin, gesehen zu werden – doch was thut das jetzt? – krieche ich längs der Felsen hin. Ich will dort sein, um Thomas Roch zu unterstützen, ihn verhindern, schwach zu werden. Und sollt' ich es mit dem Leben bezahlen, ich muß ihn zum letzten Mal beschwören... beschwören im Namen seines Vaterlands! Ich werde ihm zurufen:

»Franzose, es ist die dreifarbige Flagge, die von diesem Schiffe weht!... Franzose, ein Stück von Frankreich ist's, das dort herankommt!... Franzose, wirst Du sündhaft genug sein, es zu vernichten?...«

Mein Dazwischentreten scheint aber unnöthig zu werden. Thomas Roch verfällt jetzt nicht mehr in jene Krisen, die ihn früher übermannten. Er bleibt Herr seiner selbst!

Und als er sich der Flagge gegenüber sah, da traf es ihn wie eine Erleuchtung... da wich er zurück.

Einige der Piraten eilen herbei, um ihn wieder nach der Lafette zu führen.

Er stößt sie zurück... er wehrt sich...

Ker Karraje und der Ingenieur Serkö laufen auf ihn zu, sie weisen ihn auf das schnell herankommende Schiff hin... befehlen ihm, seine Wurfgeschosse hinauszuschleudern...

Thomas Roch schlägt es ab.

Der Kapitän Spade und die Uebrigen bedrohen ihn schäumend vor Wuth, sie schimpfen... schlagen auf ihn los... sie wollen ihm das Fläschchen entreißen.

Thomas Roch schleudert es zu Boden und zertritt es unter seiner Ferse.

Da erfaßt die Elenden das Entsetzen!... Der Kreuzer ist über die Vordergrenze der Zone hinausgekommen; sie können auf die Geschosse, die es jetzt gegen das Eiland hagelt, nicht antworten... polternd stürzen schon abgesprengte Felsstücke herunter...

Doch wo ist Thomas Roch?... Hat ihn eins der Geschosse getroffen?... Nein... ich sehe ihn zum letzten Male, wie er der Mündung des Ganges zueilt...

Ker Karraje, der Ingenieur Serkö und die Uebrigen folgen ihm, um Schutz im Innern von Back-Cup zu suchen.

Ich selbst mag um keinen Preis in die Höhle zurückkehren und sollte ich auch auf der Stelle getödtet werden! Ich stecke meine letzten Aufzeichnungen zu[212] mir, und wenn die französischen Marinesoldaten an der Felsenspitze landen, dann lauf' ich...

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –


(Schluß der Aufzeichnungen des Ingenieur Simon Hart.)

Quelle:
Jules Verne: Vor der Flagge des Vaterlands. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXIX, Wien, Pest, Leipzig 1897, S. 203-213.
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