XII.

[144] Der 1. Juni war endlich angebrochen, dieser so ungeduldig herbeigesehnte Tag, dieses bedeutungsvolle Datum! Endlich waren wir so weit! Noch wenige Stunden und der Trauungsakt wurde in der Kathedrale von Ragz vollzogen.

Nach dem ungestörten Verlauf der Audienz beim Gouverneur war bei uns auch die letzte Spur von Furcht verschwunden, welche die Erinnerung an die unaufgeklärten Zwischenfälle, die sich vor etwa zwölf Tagen abgespielt, zurückgelassen haben konnten.

Ich erhob mich frühzeitig. Aber wie große Eile ich auch an den Tag legte, Markus war noch schneller gewesen. Ich war noch nicht mit dem Ankleiden fertig, als er zu mir ins Zimmer trat.

Er war schon für die Feier gekleidet und strahlte vor Glück, kein Schatten verdüsterte den seligen Ausdruck seiner Züge. Er umarmte mich gerührt und ich drückte ihn an mein Herz.

»Myra, sagte er, hat mir aufgetragen, Dir in Erinnerung zu bringen...

– Daß heute der große Tag ist, ergänzte ich lachend. Nun, sage ihr, nachdem ich die festgesetzte Stunde der Audienz beim Gouverneur gestern nicht vergessen habe, werde ich auch heute die bestimmte Zeit nicht versäumen. Ich habe gestern meine Uhr nach dem Glockenturm gerichtet. Aber Du, Markus, nimm Dich vor dem Zuspätkommen in acht! Du weißt, daß Deine Gegenwart unumgänglich notwendig ist und man ohne Dich nichts anfangen könnte!«

Er eilte fort und ich beendete rasch meine Toilette, obwohl es erst neun Uhr morgens war.


»Ach, lieber Bruder, wie glücklich ich bin!« (S. 146.)
»Ach, lieber Bruder, wie glücklich ich bin!« (S. 146.)

Wir wollten uns im Hause des Doktors versammeln. Von dort aus sollten die Wagen uns in die Kirche bringen. Um meine Pünktlichkeit ja recht leuchten zu lassen, erschien ich lange vor der angesetzten Zeit; ein reizendes Lächeln der Braut belohnte mich – und ich wartete im Salon.

Nach und nach erschienen dieselben Persönlichkeiten, welche gestern der Zeremonie im Regierungspalast beigewohnt hatten, alle, wie am Vorabend,[144] in den reichsten Festgewändern. Die beiden Offiziere hatten an ihren glänzenden Uniformen des Regiments der Militärgrenze Orden und Medaillen befestigt.

Myra Roderich – aber warum sage ich nicht Myra Vidal, nachdem die beiden Verlobten durch den Ausspruch des Gouverneurs schon auf ewig verbunden waren – Myra trug ein weißes Seidenkleid mit langer Schleppe, das mit Orangenblüten bestickt war; sie sah entzückend aus. Neben ihr lag das prächtige Brautbukett und auf ihren blonden Haaren ruhte der hochzeitliche[145] Kranz, von dem in weichen Falten der weiße Spitzenschleier herabhing. Es war derselbe Kranz, den ihr mein Bruder gebracht hatte; sie wollte keinen anderen tragen.

Als sie mit ihrer Mutter den Salon betrat, kam sie auf mich zu und reichte mir die Hand. Ich drückte sie herzlich, brüderlich. Die Freude, das Glück leuchtete aus ihren Augen.

»Ach, lieber Bruder, rief sie, wie glücklich ich bin!«

So blieb von den bösen, vergangenen Tagen, den traurigen Erfahrungen, welche diese liebenswürdige Familie zu erleiden gehabt, keine trübe Erinnerung zurück.

Selbst Hauptmann Haralan schien alles vergessen zu haben und zum Beweise dessen drückte er mir die Hand und sagte:

»Nein!... Denken wir nicht mehr daran!«

Das Programm des Tages, das allgemeinen Beifall gefunden hatte, war folgendes: Um dreiviertel auf zehn Uhr Abfahrt nach der Kathedrale, wo der Gouverneur, die Autoritäten und bedeutenden Männer der Stadt das Brautpaar empfangen sollten. Nach der Messe und Unterzeichnung des Trauscheines in der Sakristei zum heiligen Michael – Vorstellung und Entgegennahme der Glückwünsche. Rückfahrt zum Festmahl, das ungefähr fünfzig Personen zählen sollte. Am Abend großer Empfang bei Dr. Roderich, wofür fast zweihundert Einladungen ergangen waren.

Die Wagen wurden in der gleichen Reihenfolge benützt wie am Vortage; den ersten bestiegen die Braut, Herr und Frau Roderich und Herr Neuman; den zweiten Markus und wir drei Zeugen. Nach der Trauung sollten Markus und Myra Vidal, auf immer vereint, im ersten Wagen zurückfahren. Die übrigen geladenen Gäste wurden gleichfalls mit Wagen zur Kirche geführt.

Wie bestimmt, setzten sich die Wagen eine Viertelstunde vor zehn Uhr in Bewegung. Das Wetter war herrlich, am Himmel erstrahlte die Sonne in all ihrer Pracht. Auf den Straßen eilten zahlreiche Menschen der Kathedrale zu. Alle Blicke suchten den ersten Wagen. Blicke der Bewunderung und Sympathie trafen die strahlende Braut und Markus empfing, wie ich zu meiner Freude bemerkte, auch seinen Tribut der herzlichen Teilnahme. Aus den Fenstern blickten lächelnde Gesichter und von allen Seiten kamen die freundlichsten Grüße, so daß man kaum Zeit fand, alle zu bemerken.[146]

»Wahrhaftig, sagte ich, ich werde nur angenehme Erinnerungen an Ragz mitnehmen!

– Die Ungarn ehren in Ihnen Frankreich, das sie lieben, Herr Vidal, antwortete Leutnant Armgard, und sie sind glücklich über diese Verbindung, wodurch ein Franzose in die Familie Roderich eintritt.«

Als wir uns dem Platze näherten, mußten die Pferde im Schritt gehen, da das Vorwärtskommen der angestauten Menschenmenge halber sehr schwierig wurde.

Von den Türmen der Kathedrale ertönte fröhliches Geläute, das der frische Ostwind herbeitrug, und nun mischte auch das Glockenspiel des Rathausturmes seine hellen Töne in die ernstere Sprache der ehernen Zungen von St. Michael.

Es war genau zehn Uhr und fünf Minuten, als unsere beiden Wagen vor den Stufen hielten, die zu dem weit geöffneten Kirchenportal hinanführten.

Dr. Roderich stieg zuerst aus, dann seine Tochter, welche seinen Arm nahm. Herr Neuman führte Frau Roderich. Wir stiegen gleichfalls aus und folgten Markus durch die lange, von Neugierigen gebildete Gasse, die sich den ganzen Kirchenplatz entlang hinzog.

Jetzt brausten mächtige Orgeltöne durch die heiligen Hallen und unter den Klängen der vollen Akkorde betrat der Hochzeitszug die Kirche.

Markus und Myra näherten sich den zwei nebeneinanderstehenden Betstühlen vor dem Hochaltar. Hinter ihnen nahmen die Eltern und die Zeugen die ihnen bestimmten Sitze ein.

In den Kirchenstühlen des Chores sah man den Gouverneur von Ragz, den Magistrat, die Offiziere der Garnison, den Amtmann und die Gemeindevertreter, die ersten Beamten der Administration, die Freunde der Familie, die Häupter der Industrie und des Handels. Auch den Damen, welche in glänzendem Schmucke erschienen waren, hatte man Plätze reserviert, die alle bis auf den letzten besetzt waren.

Hinter dem Gitter des Chores (einem Meisterwerk der Schmiedekunst aus dem 13. Jahrhundert) drängte sich eine vielköpfige Menge. Diejenigen, welche sich nicht so weit nähern konnten, standen in den Seitenschiffen und bis hinaus auf die Stufen vor dem Hauptportal. Ob wohl einige der Anwesenden in diesem Augenblicke an jene Vorgänge dachten, welche die[147] Stadt vor wenigen Tagen in Aufruhr versetzt hatten? Ob ihnen wohl der Gedanke kam, diese Vorgänge könnten sich heute in der Kathedrale wiederholen? Gewiß nicht; denn nachdem dieselben vielfach als Teufelswerk bezeichnet worden waren, konnten sie sich unmöglich in einer Kirche, an geweihter Stelle abspielen. Wird die Macht der Höllengeister nicht an der Pforte des Heiligtums gebrochen? An der rechten Seite des Chores wurde jetzt eine Bewegung bemerkbar, die Leute traten zurück, um dem Erzpriester, dem Diakon, dem Subdiakon, den Kirchendienern und den Chorknaben einen Weg zu öffnen.

Der Erzpriester blieb vor den Stufen des Altares stehen, verbeugte sich und begann den »Introitus«, während die Assistenz die Verse des »Confiteor« sprach.

Myra kniete auf dem Kissen ihres Betstuhles; sie hatte das Haupt gesenkt und war in Andacht versunken. Markus stand daneben und seine Blicke wichen nicht von ihr.

Die Messe wurde mit all der Pracht zelebriert, wel che die katholische Kirche bei feierlichen Gelegenheiten zu entfalten pflegt. Das Orgelspiel wechselte mit dem Vokalgesang des »Kyrie« ab und jetzt machte der Jubel des »Gloria in Excelsis« das hohe Gewölbe erzittern.

Hie und da wurden leichte Geräusche der unruhig werdenden Menge vernehmbar. Stühle wurden gerückt, Sitze niedergeklappt und dazwischen ertönten die Schritte der Aufsichtsorgane, welche darüber wachten, daß ein Gang in der ganzen Länge des Hauptschiffes frei blieb.

Gewöhnlich war das Innere der Kathedrale von jenem leisen Dämmerlicht erfüllt, in welchem die Seele so leicht frommen Gefühlen zugänglich wird. Durch die alten Glasfenster, auf denen die Silhouetten biblischer Persönlichkeiten in warmen Farben erscheinen, durch die schmalen Spitzbogenfenster, die aus der ersten Epoche stammen, durch die Seitenlichter dringt eine ungewisse Helle. Wenn der Himmel auch nur wenig bedeckt ist, bleiben das große Schiff und die Apsis in Dunkelheit gehüllt und diese mystische Finsternis wird noch wirkungsvoller durch die Lichtpunkte an den Enden der langen Altarkerzen.

Heute war dem nicht so! Die klare Sonnenkugel vergoldete mild die Ostfenster der Kirche und die Rosette des Querschiffes. Ein Strahlenbündel fiel durch eine Nische der Apsis voll auf die Kanzel an einem der Pfeiler[148] des Schiffes und schien das gequälte Gesicht des Riesen zu beleben, welcher die schwere Last auf seinen gigantischen Schultern trägt.

Als das Glöcklein ertönte, erhoben sich die Andächtigen; aber dem momentanen Geräusche folgte augenblicklich vollkommene Stille, als der Diakon das Evangelium des heiligen Matthias intonierte.

Darauf wandte sich der Erzpriester mit einer kurzen Ansprache an das Brautpaar. Er redete leise, mit der schwachen Stimme eines Greises, dessen Haupt von weißen Haaren umrahmt ist. Seine Worte waren einfach und ungesucht und mußten Myras Herz tief rühren. Er lobte ihre häuslichen Tugenden. die ganze Familie Roderich, ihre Wohltätigkeit für die Armen und ihre unerschöpfliche Güte. Er segnete diese Verbindung eines Franzosen mit einer Ungarin und rief den Schutz des Himmels auf das junge Paar herab.

Nach beendeter Ansprache wandte sich der Erzpriester wieder dem Altare zu und betete das Offertorium und der Diakon und Subdiakon stellten sich ihm zur Seite.

Wenn ich Schritt für Schritt die Einzelheiten dieser Hochzeitsmesse schildere, geschieht es darum, weil sie sich alle unverwischbar meinem Geiste eingeprägt haben und die Erinnerung daran meinem Gedächtnis unauslöschlich verblieben ist.

Nun erhob sich auf dem Sängerchor eine prachtvolle Stimme, von einem Quartett der Saiteninstrumente begleitet! Ein in ganz Ungarn berühmter Tenor sang die Hymne der Opferung.

Jetzt verließen Markus und Myra ihre Plätze und traten vor die Stufen des Altares und nachdem der Subdiakon ihr reiches Almosen erhalten hatte, berührten sie mit ihren Lippen, wie im Kusse, die Patene, die ihnen der zelebrierende Priester reichte. Dann schritten sie nebeneinander zu ihren Plätzen zurück. Niemals, nein, niemals noch hatte Myra so strahlend schön, so vom Glück verklärt ausgesehen!

Dann wurde für die Kranken und Armen gesammelt. Der Kirchendiener schritt voran und junge Mädchen glitten durch die Reihen des Chores und des Schiffes, und man hörte das Rauschen der Kleider, das Rücken der Stühle, das Murmeln der Menschen, während die Geldstücke klingend in die Tasche fielen.

Endlich wandte sich der Erzpriester, von seinen Assistenten begleitet, an das Brautpaar; er blieb dicht vor ihnen stehen.[149]

»Markus Vidal, begann er mit seiner zitternden Stimme, die aber von allen vernommen wurde, so still war es in der Kirche geworden, – sind Sie gewillt, Myra Roderich zur Gattin zu nehmen?

– Ja, antwortete mein Bruder.

– Myra Roderich, sind Sie gewillt, Markus Vidal zum Gatten zu nehmen?

– Ja«, hauchte Myra.

Ehe nun der Erzpriester die bindenden Worte sprach, empfing er die Eheringe aus der Hand meines Bruders und segnete sie; eben wollte er den einen der jungen Frau an den Finger stecken...

In diesem Augenblicke ertönte ein Schrei, ein Schrei der Todesangst und des höchsten Schreckens.

Und ich sah – und Tausende andere sahen es mit mir: –

Der Diakon und der Subdiakon wichen schwankend zurück, wie von einer unsichtbaren Hand gestoßen; der Erzpriester schien mit zitternden Lippen, irrem Blick und entsetzensbleichen Zügen mit einem unsichtbaren Feinde zu ringen und sank schließlich in die Knie....

Unmittelbar nachher – denn all diese Vorgänge spielten sich mit der Schnelligkeit des Blitzes ab, so daß niemand dazwischen treten, sie nicht einmal begreifen konnte – wurden mein Bruder und Myra angegriffen und fielen auf die Steinplatten hin....

Darauf flogen die Eheringe durch die Luft; einer von ihnen traf heftig mein Gesicht....

Und in diesem Augenblick vernahm ich – und Tausende hörten es wie ich – von einer schrecklichen Stimme, die wir nur zu gut erkannten, es war Wilhelm Storitz' Stimme, die Worte:

»Fluch den Vermählten!... Fluch!...«

Bei diesen entsetzlichen Worten, die aus einer anderen Welt zu kommen schienen, legte es sich erst wie lähmendes Entsetzen auf die Menge, dann rang sich aus den Kehlen ein dumpfes Stöhnen: Myra, welche sich mühsam aufgerichtet hatte, stieß einen herzzerreißenden Schrei aus und fiel dem schreckensbleichen Markus besinnungslos in die Arme.[150]

Quelle:
Jules Verne: Wilhelm Storitzߣ Geheimnis. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCVIII, Wien, Pest, Leipzig 1911, S. 144-151.
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