XIV.

[162] Meine Befürchtungen waren also bestätigt. Wilhelm Storitz hatte Ragz nicht verlassen und war ohne Schwierigkeit in das Haus des Doktors gedrungen. Sein Anschlag war zwar nicht gelungen, aber versprach nichts Gutes für die Zukunft. Was er vergebens einmal versucht hatte, würde er wiederholen und, wer weiß, vielleicht dann mit besserem Erfolge. Es mußte ein Feldzugsplan entworfen werden, der uns vor zukünftigen Angriffen dieses Elenden schützte.

Es wurde mir nicht allzu schwer, diesen Plan auszuhecken. Ich beschloß zunächst die verschiedenen aus irgend einem Grunde gefährdeten Personen[162] zu vereinigen und eine regelrechte Verteidigung zu organisieren, so daß ihnen niemand zu nahe kommen konnte. Ich erwog bedachtsam alle Wege, dieses ideale Ziel zu erreichen und sobald ich sie gefunden hatte, schritt ich zur Ausführung.

Am Morgen des 6. Juni. nicht ganz achtundvierzig Stunden nach dem Attentat, wurde mein Bruder, dessen Wunde sich schon zu schließen begann, in das Haus des Doktors gebracht und lag nun in einem Zimmer neben Myra. Sobald dies geschehen war, legte ich Dr. Roderich meinen Plan vor, welcher ihn gut hieß, mir freie Hand in allem ließ und mich von diesem Augenblicke an gleichsam als den Kommandanten einer belagerten Festung ansah.

Ich machte sofort Gebrauch von meiner Autorität. Ein einziger Diener wurde zum Schutze Markus' und Myras zurückgelassen – das mußte ich wagen! – und nun begann eine peinliche, methodische Absuchung des ganzen Hauses mit Hilfe aller seiner Bewohner; auch Hauptmann Haralan mußte daran teilnehmen und selbst Frau Roderich hatte auf mein Zureden ihren Platz am Lager der Tochter verlassen.

Wir singen mit dem Dachboden an. Indem wir eine dichtgedrängte Reihe bildeten, durchschritten wir ihn von einem Ende zum andern. Dann wurde jeder Raum durchsucht, auch der kleinste Winkel nicht außer Acht gelassen und immer hielten wir uns so nahe aneinander, daß zwischen zwei Personen auch nicht der kleinste Zwischenraum blieb, durch den ein Mensch hätte durchschlüpfen können. Jeder Vorhang wurde aufgehoben, jeder Stuhl von seinem Platze gerückt, wir fühlten unter die Betten und auf die Kasten, alles, ohne den Zusammenhang auch nur eine Sekunde lang zu verlieren. Jedes so durchsuchte Zimmer wurde sofort abgeschlossen, der Schlüssel mir in Verwahrung gegeben.

Diese Arbeit nahm volle zwei Stunden in Anspruch, aber endlich war sie auch getan, wir kamen an das Haustor und waren überzeugt, vollkommen überzeugt, materiell überzeugt, daß keine fremde Persönlichkeit im Hause weilte. Das Tor wurde verriegelt, versperrt und ich steckte den Schlüssel zu mir. Ohne meine Erlaubnis konnte jetzt niemand hereinkommen und ich hatte es geschworen, daß niemand, und wenn er hundertmal unsichtbar wäre, sich gleichzeitig mit einem von mir erkannten und eingelassenen Besuche einschleichen sollte.[163]

Von diesem Augenblicke an war ich allein der Pförtner, ich allein öffnete die Türe auf das Klopfen des Hammers, aber Hauptmann Haralan mußte mich begleiten oder, in dessen Abwesenheit, ein vertrauter Diener.

Zuerst wurde nur ein schmaler Spalt geöffnet, darauf stemmte sich der Hauptmann gegen die Türe, während ich durch die Öffnung mühsam hinausglitt und sie von außen verdeckte. Wurde der Besucher eingelassen, so wichen wir langsam Schritt für Schritt zurück, dicht aneinander gedrängt. Die Türe wurde sogleich verschlossen.

Jetzt waren wir vollständig sicher in diesem in eine Festung verwandelten Hause.

Ich weiß, daß man mir hier mit Recht mit Einwendungen kommen kann. Unser Haus verdiente eher den Namen eines Gefängnisses als den einer Festung. Wohl wahr, aber jede Kerkerhaft ist erträglich, wenn sie nicht ewig dauern soll. Würde unsere von langer Dauer sein? Ich konnte es nicht glauben.

Ich hörte nicht auf, über unsere merkwürdige Lage nachzudenken und ohne behaupten zu wollen, daß ich Wilhelm Storitz' unentzifferbares Geheimnis erraten hatte, mußte ich mir doch gestehen, daß ich ein gutes Stück auf dem Wege dazu fortgeschritten war.

Einige erklärende Worte scheinen mir hier, wenn sie auch recht trocken sind, unerläßlich.

Wenn ein Strahlenbündel des Sonnenlichtes auf ein Prisma auffällt, so zersetzt sich das Licht, wie man weiß, in sieben Farben, die in ihrer Gesamtheit das weiße Sonnenlicht bilden. Diese Farben – violett, indigo, blau, grün, gelb, orange, rot – bilden das »Sonnenspektrum«. Aber diese sichtbare Farbentonleiter kann nur ein Teil des vollständigen Spektrums sein. Es müssen noch andere für unsere Sinne nicht wahrnehmbare Farben existieren. Warum sollten nicht diese Lichtstrahlen, die zur Stunde noch unbekannt sind, von den bekannten Strahlen ganz verschiedene Eigenschaften aufzuweisen haben? Diese können nur eine ganz geringe Anzahl fester Körper durchdringen, z. B. das Glas; vielleicht durchdringen jene alle festen Körper.1 Vielleicht verhält es sich wirklich so, aber wir merken es nicht, weil unsere Sinne diese Strahlen nicht zu erkennen vermögen. Es wäre nicht[164] unmöglich, daß Otto Storitz die diese Eigenschaft besitzenden Strahlen entdeckt und die Formel einer Zusammensetzung erfunden habe, die, wenn sie in den Organismus eingeführt wird, die doppelte Fähigkeit entwickeln würde, sich auf seiner Peripherie zu verbreiten und das Wesen der im Sonnenspektrum enthaltenen verschiedenen Strahlen zu verändern.

Sobald man diese Möglichkeit annahm, war alles erklärt. Das Licht, das auf den undurchsichtigen Körper, der von dieser Strahlung durchdrungen wird, auffällt, zersetzt sich und alle Strahlen, aus denen es besteht, verwandelten sich ausnahmslos in jene unbekannten Ausstrahlungen, deren Vorhandensein ich ahnte. Diese Strahlen durchdringen diese Körper und erleiden, im Momente des Austretens aus denselben, eine Veränderung im entgegengesetzten Sinne, nehmen die ursprünglichen Eigenschaften wieder an und wirken auf unser Auge so, als ob der dichte Körper nicht dazwischen läge.

Zwar blieb noch so mancher Punkt rätselhaft. Wie sollte man erklären, daß nun auch die Kleidungsstücke Wilhelm Storitz' unsichtbar wurden wie er selbst, während die Gegenstände, die er in der Hand hielt, sichtbar bleiben?

Und was war das für eine geheimnisvolle Substanz, durch die solche ans Wunderbare streifende Wirkungen erzielt wurden? Das konnte ich nicht erraten, was sehr bedauerlich war, denn hätte ich Kenntnis davon besessen, so hätte auch ich davon Gebrauch machen und unseren Feind mit gleichen Waffen bekämpfen können. Aber vielleicht war es nicht unmöglich, ihn auch ohne diesen Vorteil zu überwinden. Ich stand vor einem Dilemma: wie immer diese Substanz beschaffen sein mochte, entweder war ihre Wirkung eine vorübergehende oder eine immerwährende. Im ersten Falle mußte Wilhelm Storitz in kurzen oder längeren Zwischenpausen eine neue Dosis zu sich nehmen. Im anderen Falle mußte er notwendigerweise manchmal den Effekt seines Wundertrankes durch ein anderes Mittel, gewissermaßen ein Gegengift, aufheben, denn es konnten Fälle eintreten, wo die Unsichtbarkeit nicht eine Überlegenheit, sondern das gerade Gegenteil bedeutete. In beiden Fällen aber war Wilhelm Storitz gezwungen, sich die notwendige Substanz zu verschaffen, sie entweder neu herzustellen oder aus einem bestehenden Vorrat zu holen, denn die Menge, die er mit sich führen konnte, war unmöglich unerschöpflich.[165]

Nachdem ich dieses festgestellt hatte, forschte ich weiter, welchen Zweck das Glockengeläute und das Schwingen der Fackel verfolgen konnten? Das paßte nicht zu den übrigen Vorfällen, stand in keinem Zusammenhange mit ihnen, wie ich schon bemerkt habe. Es war kaum etwas anderes daraus zu schließen, als daß Wilhelm Storitz, berauscht von seinen Erfolgen und der unüberwindlichen Kraft, die er sich zu schrieb, zu kindischen, sinnlosen Kundgebungen geschritten war, vielleicht auch, daß er sich langsam der Geistesgestörtheit näherte. Das wäre eine günstige Lösung der Frage gewesen und die Prüfung der Tatsachen ließ sie als wahrscheinlich erkennen.

Nach all diesen Schlußfolgerungen suchte ich Herrn Stepark auf. Ich teilte ihm das Ergebnis meines Gedankenganges mit und auf gemeinsames Übereinstimmen wurde beschlossen, daß das Haus auf dem Tököly-Wall Tag und Nacht von einer Abteilung Polizeileute oder Soldaten eingeschlossen werden sollte, so daß es dem Eigentümer materiell unmöglich gemacht würde, auf irgend eine Weise hinein zu gelangen. Folglich war er gleichzeitig seines Laboratoriums und seines geheimen Vorrates beraubt, wenn ein solcher bestand. Er war dann durch die Tatsachen gezwungen, entweder nach mehr oder minder langer Frist wieder menschliche Gestalt anzunehmen oder für immer unsichtbar zu bleiben, was ihn jedenfalls auf die Dauer schwächen mußte! Und wenn die Hypothese beginnenden Wahnsinns begründet war, so mußte dessen Ausbruch zweifellos durch die dem Bösewicht entgegengestellten Hindernisse beschleunigt werden und Wilhelm Storitz wurde zu Unvorsichtigkeiten hingerissen, die ihn uns in die Hände liefern mußten.

Herr Stepark setzte meinen Wünschen nicht die geringste Schwierigkeit entgegen. Auch er hatte schon daran gedacht – wenn auch aus anderen Beweggründen – das Haus Wilhelm Storitz' ganz abschließen zu lassen. Er hielt dieses Vorgehen für nötig, um die Stadt zu beruhigen, die sich bisher eines so glücklichen Daseins erfreut hatte, daß sie ein Gegenstand des Neides für die anderen ungarischen Städte war; jetzt aber befand sie sich in einem alle Begriffe übersteigenden Zustande krankhafter Erregung.

Ich könnte Ragz am besten mit einer Stadt vergleichen, die, in einem vom Feinde eroberten Lande, stündlich auf die Beschießung wartet, wobei jeder Bewohner sich angsterfüllt fragt, wohin wohl die erste Kugel fallen, welches Haus zuerst zerstört werden würde.[166]

Es war ja auch wirklich von Wilhelm Storitz alles zu erwarten, nachdem er die Stadt nicht verlassen hatte, und er bemühte sich auch, dies jedermann zur Kenntnis zu bringen.

Im Hause des Doktors war die Lage noch sehr ernst. Die unglückliche Myra hatte ihre Verstandeskräfte noch immer nicht zurückerlangt. Ihre Lippen öffneten sich nur, um unzusammenhängende Worte zu murmeln, ihre zerstörten Blicke sahen immer ins Leere. Sie hörte uns nicht. Sie erkannte weder ihre Mutter, noch Markus, welcher sich bald mit Frau Roderich in der Hütung der Kranken teilen konnte, in diesem Mädchenzimmer, das immer so freundlich aussah und jetzt voll Traurigkeit war. War es nur eine vorübergehende Geistesstörung, eine Krise, die sich schließlich zum Bessern wenden würde – oder war es unheilbarer Wahnsinn! Niemand wußte es!

Ihre Schwäche war groß, alle Triebfedern des Lebens schienen gebrochen. Sie lag auf ihrem Bette fast ohne Bewegung, nur selten versuchte sie, die Hand zu heben. Wir fragten uns in solchen Augenblicken, ob sie vielleicht versuche, den dichten Schleier der Bewußtlosigkeit zu zerreißen, der sie umgab, ob es nicht eine Willenskundgebung bedeute.... Markus beugte sich dann über sie, sprach mit ihr, bemühte sich, eine Antwort von ihren Lippen abzulesen, einen Blick zu erhaschen.... Die Augen blieben geschlossen und die kaum gehobene Hand fiel kraftlos auf die Decke nieder.

Frau Roderich hielt sich mit dem Aufgebote der ihr innewohnenden moralischen Kraft aufrecht. Kaum daß sie sich einige Stunden der Ruhe gönnte, weil es ihr Mann unbedingt verlangte, und welche Kraft konnte dieser von wilden Träumen begleitete, bei dem leisesten Geräusch unterbrochene Schlaf der Armen geben? Sie glaubte immer Schritte in ihrem Zimmer zu vernehmen. Trotz all der Vorsichtsmaßregeln meinte sie die Gegenwart des schrecklichen, unsichtbaren Feindes zu fühlen und fürchtete, daß er dennoch eingedrungen sei und das Lager ihrer Tochter umschleiche.... Ganz verstört erhob sie sich und fühlte sich nur dann beruhigt, wenn sie den Doktor oder Markus an Myras Bett sah. Wenn diese Situation sich noch lange hinzog, mußte auch sie unterliegen.

Täglich traten mehrere Kollegen des Doktors zu einer Konsultation zusammen. Man hatte die Kranke oft lange und sorgsam untersucht, aber niemand war imstande, ein Urteil über diese andauernde geistige Trägheit zu[167] fällen. Keine Rückwirkung, keine Krise, immer dieselbe Gleichgültigkeit allen Einwirkungen von außen gegenüber, dieselbe vollständige Geistesabwesenheit, dieselbe totenähnliche Ruhe; die Kunst war ohnmächtig, dagegen anzukämpfen.

Sobald sich mein Bruder auf den Füßen halten konnte, das war nach drei Tagen, verließ er das Zimmer Myras für keine Minute. Ich blieb immer zu Hause, ausgenommen meine kurzen Besuche im Rathaus. Herr Stepark berichtete mir über das Gerede in der Stadt. Ich wußte durch ihn, daß die Bevölkerung noch in steter Furcht vor etwas Schrecklichem schwebte. In ihrer Einbildung handelte es sich nicht um Wilhelm Storitz allein, sondern um eine ganze von ihm herangebildete Bande, welche in der wehrlosen Stadt ihren Teufelsspuk trieb.

Hauptmann Haralan dagegen hielt sich meistens außerhalb unserer Festung auf. Wie von einer fixen Idee gejagt, durcheilte er unausgesetzt die Straßen der Stadt. Er forderte mich niemals auf, ihn zu begleiten. Verfolgte er irgend ein Projekt, von dem er fürchten mußte, es würde nicht meinen Beifall finden? Zählte er auf den unverläßlichen Zufall, der ihm Wilhelm Storitz zuführen würde? Wartete er darauf, daß seine Ankunft in Spremberg oder an einem anderen Orte signalisiert werde, um ihm dahin nachzueilen? Ich hätte gewiß nicht mehr versucht, ihn zurückzuhalten. Ich würde ihn im Gegenteil begleitet und auch versucht haben, uns von diesem Schurken zu befreien.

Aber diese Möglichkeit bot sich wohl kaum! Weder in Ragz noch anderswo.

Am Abend des 11. Juni hatte ich ein langes Gespräch mit meinem Bruder. Er schien mehr niedergedrückt denn je und ich befürchtete ernstlich, er könne krank werden. Am besten wäre es gewesen, ihn aus der Stadt zu entfernen, nach Frankreich zurückzuführen, aber er würde sich unter keinen Umständen von Myra getrennt haben. Aber war es denn nicht möglich, daß sich die ganze Familie Roderich für einige Zeit aus Ragz entferne? Diese Frage verdiente ernstliche Beachtung. Ich dachte lange darüber nach und nahm mir vor, mit Dr. Roderich darüber zu sprechen.

An diesem Tage sagte ich am Schlusse unseres Gespräches zu Markus:


»Hörst Du nicht Schritte hinter jener Türe?...« (S. 170.)
»Hörst Du nicht Schritte hinter jener Türe?...« (S. 170.)

»Mein armer Bruder, ich sehe, daß Du alle Hoffnung verlieren willst; das ist nicht recht. Myras Leben ist nicht in Gefahr, darüber sind die Ärzte[168] einig. Wenn sie noch nicht im Besitze ihrer Geisteskräfte ist, so ist das doch nur ein vorübergehender Zustand, sei dessen gewiß Der Verstand muß ihr wieder zurückkehren, sie wird wieder zum vollen Bewußtsein erwachen, für Dich und die ihrigen....

– Du willst mich vor der Verzweiflung retten, antwortete Markus mit tränenerstickter Stimme. Aber selbst wenn meine arme Myra wieder das Bewußtsein erlangt, wird sie nicht immer der Willkür dieses Ungeheuers preisgegeben sein? Glaubst Du denn, daß sein Haß befriedigt worden ist[169] durch die bisherigen Teufeleien? Und wenn er seine Rache noch weiter treiben will?... Wenn er... O Heinrich, Du verstehst mich.... Er kann alles – und wir sind machtlos gegen ihn.

– Nein, rief ich, nein, Markus, es ist nicht unmöglich, ihn zu bekämpfen.

– Wieso?... Wie meinst Du das?... fragte Markus lebhaft. Nein, Heinrich, Du sprichst anders als Du denkst. Nein, wir sind wehrlos gegen diesen Elenden. Wir können uns nur vor ihm schützen, wenn wir uns in ein Gefängnis zurückziehen. Und wer sagt uns, daß er nicht trotzdem in das Haus eindringen kann.«

Markus' Aufregung war so groß, daß ich gar nicht zu antworten versuchte. Er hörte nur sich selbst. Schließlich preßte er meine Hände in die seinen und sagte:

»Wer sagt Dir, daß wir in diesem Augenblicke allein sind? Ich gehe nie von einem Zimmer ins andere, in den Salon, in die Galerie, ohne die Angst, er könne mir folgen!... Es scheint mir, daß jemand neben mir steht... daß jemand mir ausweicht... daß er zurücktritt, während ich vorwärts schreite... entschwindet, wenn ich ihn fassen will....«

Während er mit gebrochener Stimme das vorbrachte, schritt er aufgeregt hin und her, als ob er auf der Verfolgung eines unsichtbaren Wesens begriffen sei. Ich wußte nicht, was ich zu seiner Beruhigung ersinnen sollte. Am besten war es, ihn aus diesem Hause zu entfernen, ihn weit fortzubringen, weit, weit....

»Wer weiß, fing er wieder an, ob er nicht alles belauscht hat, was wir besprechen. Wir glauben, er sei abwesend. Vielleicht ist er hier. Horch!... Hörst Du nicht Schritte hinter jener Türe?... Er ist da!... Komm!... Packen wir ihn.... Töten wir ihn!... Aber – ist das überhaupt möglich?... Hat denn der Tod Gewalt über dieses Ungeheuer in Menschengestalt?«

In diesem beklagenswerten Zustand befand sich mein armer Bruder! Mußte ich nicht befürchten, daß nach mehreren derartigen Anfällen sein Verstand leiden und er schließlich unterliegen werde, so wie Myra unterlegen war?

Warum mußte Otto Storitz diese fluchbeladene Erfindung gemacht haben. Warum mußte den Menschen, welchen ohnehin so viele Mittel zur[170] Ausübung des Bösen zur Verfügung stehen, noch diese neue Waffe in die Hand gegeben werden!

Auch in der Stadt besserte sich die Lage keines wegs. Obwohl sich kein neuerlicher Zwischenfall ereignet hatte, seitdem Wilhelm Storitz von der Höhe des Glockenturmes sein »Ich bin da!« gerufen hatte, stieg das Entsetzen in der Bevölkerung von Stunde zu Stunde. In jedem Hause glaubte man sich von dem Unsichtbaren verfolgt. Selbst die Kirchen boten keinen Zufluchtsort mehr, nachdem sich die letzte große Schreckensszene in der Kathedrale abgespielt hatte. Vergebens versuchte die Autorität dagegen anzukämpfen, es gelang nicht, denn der blinden Furcht gegenüber ist man machtlos.

Zum Beweise, welchen Grad die Aufregung und Unzurechnungsfähigkeit der Leute erreicht hatte, zitiere ich folgende Tatsache:

Am Vormittage des 12. Juni hatte ich das Haus verlassen, um mich zum Polizeichef zu begeben. Als ich in die Prinz Milosch-Straße einbog und vielleicht noch zweihundert Schritte von dem St. Michaels-Platz entfernt war, erblickte ich Hauptmann Haralan. Ich holte ihn ein, und sagte: »Ich bin auf dem Wege zu Herrn Stepark; begleiten Sie mich, Hauptmann?«

Er antwortete nicht, schlug aber mechanisch die gleiche Richtung ein, wie ich. Wir näherten uns dem Kurtz-Platz, als ein lautes Schreckensgeschrei ertönte.

Ein mit zwei Pferden bespannter Leiterwagen kam in rasender Schnelligkeit die Straße herab. Die Passanten stoben nach allen Seiten auseinander. Wahrscheinlich war der Kutscher herabgeschleudert und die sich selbst überlassenen Pferde waren scheu geworden.

Sollte man es für möglich halten! Einige Passanten, welche gleich den Pferden die Herrschaft über sich selbst verloren hatten, bildeten sich ein, daß ein unsichtbares Wesen den Wagen lenke, daß Wilhelm Storitz den Platz des Kutschers einnehme. Ihr Geschrei drang zu uns:

»Er!... Er!... Er ist es!«

Ehe ich mich nach dem Hauptmann umwenden konnte, war dieser nicht mehr an meiner Seite. Ich sah, wie er dem heranstürmenden Leiterwagen entgegeneilte, wohl in der Absicht, den Pferden in die Zügel zu fallen, sobald dieselben ihn erreichten.[171]

Die Straße war zu dieser Stunde sehr belebt. Von allen Seiten ertönte der Name »Wilhelm Storitz«. Man schleuderte Steine nach dem Gespann, ja, die allgemeine Tollheit ging so weit, daß aus einem Laden an der Ecke der Milosch-Straße Schüsse auf die Pferde abgefeuert wurden.

Eine Kugel verwundete das eine Pferd am Schenkel, es brach zusammen und der Wagen wurde umgeworfen.

Augenblicklich stürzte die zügellose Menge herzu, umklammerte die Räder, den Wagenkasten, die Deichsel. Hundert Arme streckten sich aus, um Wilhelm Storitz zu fassen.... Sie griffen ins Leere.

War es dem unsichtbaren Lenker wieder gelungen, rechtzeitig vom Leiterwagen abzuspringen, ehe dieser umgerissen wurde? Alle waren überzeugt, daß er der Stadt einen neuen Schrecken einzujagen beabsichtigte.

Aber diesmal war er unschuldig, das mußte man bald einsehen. Es dauerte nicht lange, als ein Bauer aus der Pußta herbeigeeilt kam, dessen Pferde während seiner kurzen Abwesenheit am Koloman-Markt die Flucht ergriffen hatten. Er geriet in heftigen Zorn, als er eines verwundet am Boden erblickte. Man hörte ihn gar nicht an und einen Moment befürchtete ich sogar, daß die empörte Menge den armen Menschen mißhandeln wolle; nur schwer konnten wir ihn gegen die blinde Wut der Angreifer schützen.

Ich zog Hauptmann Haralan fort und er folgte mir widerstandslos und schweigend ins Rathaus.

Herr Stepark war schon von dem Vorfall in der Milosch-Straße unterrichtet worden.

»Die ganze Stadt ist verrückt, sagte er, es ist gar nicht abzusehen, welche Dimensionen diese Verrücktheit noch annehmen wird!«

Ich stellte meine gewöhnlichen Fragen:

»Hat sich irgend etwas Neues zugetragen?

– Ja, antwortete Herr Stepark, man hat mir aus Spremberg berichtet, daß Wilhelm Storitz sich dort aufhalte.

– In Spremberg, rief Hauptmann Haralan und sah mich an. – Ihm nach! Ich habe Ihr Versprechen!«

Ich antwortete nicht, denn ich war von der Nutzlosigkeit dieser Reise überzeugt.[172]

»Warten Sie noch, Hauptmann Haralan, unterbrach ihn Herr Stepark. Ich habe mich nach Spremberg um die Bestätigung dieser Angabe gewandt, der Bote kann jeden Augenblick da sein.«

Es verstrich keine halbe Stunde, als dem Polizeichef ein Brief übergeben wurde, den ein Eilbote gebracht hatte. Die Nachricht entbehrte jeder sicheren Grundlage. Wilhelm Storitz war nicht in Spremberg gesehen worden, man glaubte vielmehr, daß er niemals Ragz verlassen habe.

Wieder vergingen zwei Tage, ohne daß in Myras Zustand ein Wechsel zur Besserung eingetreten wäre. Mein Bruder schien mir etwas gefaßter. Ich wartete auf eine Gelegenheit, mit dem Doktor über mein Projekt, die Abreise der Familie betreffend, zu sprechen. Ich hoffte ihn dafür zu gewinnen.

Der 14. Juni verlief weniger ruhig als die vorhergehenden Tage. Die Autorität fühlte diesmal ihre Ohnmacht der im höchsten Grade erregten Bevölkerung gegenüber.

Als ich gegen 11 Uhr auf dem Batthyány-Kai spazieren ging, trafen folgende Rufe mein Ohr:

»Er ist da!... Er ist da!...«

Wer mit diesem »er« gemeint war, war nicht schwer zu erraten, und als ich einige Passanten um Auskunft bat, antwortete man mir:

»Es steigt Rauch aus dem Kamin seines Hauses.

– Man hat sein Gesicht hinter den Vorhängen der Aussichtswarte gesehen«, rief ein anderer.

Ob diesem Gerede Glauben zu schenken war? Jedenfalls richtete ich meine Schritte nach dem Tököly-Wall.

Sollte Wilhelm Storitz tatsächlich so unvorsichtig gewesen sein, sich zu zeigen? Er mußte wissen, welches Schicksal ihn erwartete, sobald man Hand an ihn legte. Und er sollte sich ohne Not in diese Gefahr begeben, sich am Fenster seines Hauses gezeigt haben?

Ob das Gerücht wahr oder falsch war, es zeigte sich die Wirkung. Tausende von Personen, welche die Abteilung der Polizeileute zurückzudrängen suchte, umringten das Haus, als ich ankam. Und immer noch strömten Männer und Frauen herzu, alle in hochgradiger Aufregung und wilde Schreie ausstoßend.

Alle Argumente erwiesen sich machtlos der unvernünftigen, aber unausrottbaren Überzeugung gegenüber, daß er da sei, »er«, und mit ihm vielleicht[173] die ganze Bande unsichtbarer Mithelfer. Die Polizei war machtlos der zügellosen Menge gegenüber, welche das Haus Wilhelm Storitz' so von allen Seiten belagerte, daß dieser, falls er sich wirklich drinnen befand, unmöglich entfliehen konnte. Übrigens, war Wilhelm Storitz wirklich am Fenster gesehen worden, so mußte er wieder seine materielle Gestalt angenommen haben. Ehe es ihm gelingen konnte, sich unsichtbar zu machen, wurde er ergriffen und diesmal gab es für ihn kein Entweichen, er war der Volksrache verfallen.

Ungeachtet des Widerstandes der Polizei, trotz der Bemühungen ihres Chefs wurde das Gitter erbrochen, das Haus erstürmt, die Türen eingedrückt, die Fenster ausgerissen, die Möbel in den Garten und Hof geworfen, die Apparate im Laboratorium in tausend Trümmer zerschlagen. Dann brach im Erdgeschoß Feuer aus, die Flammen gewannen das obere Stockwerk, züngelten am Dache empor und bald stürzte die Aussichtswarte in den Glutherd hinab.

Wilhelm Storitz aber hatte man vergeblich in dem Hause, im Hof und Garten gesucht. Entweder war er nicht da gewesen oder es war unmöglich, ihn zu entdecken.

Langsam verzehrte das an zehn Stellen gelegte Feuer das ganze Haus; nach einer Stunde blieben nur noch die vier Mauern stehen.

Vielleicht war es besser, daß es zerstört war. Vielleicht wurden die Gemüter beruhigt, vielleicht dämmerte in der Bevölkerung von Ragz der Glaube auf, daß Wilhelm Storitz, trotz aller geheimen Hilfsmittel, trotz seiner Unsichtbarkeit, in den Flammen umgekommen war?!

Fußnoten

1 Seit der Niederschrift dieses Manuskriptes sind auch tatsächlich die infraroten und ultravioletten Strahlen entdeckt worden, was diese Hypothese teilweise bestätigt.


Quelle:
Jules Verne: Wilhelm Storitzߣ Geheimnis. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCVIII, Wien, Pest, Leipzig 1911, S. 174.
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