XVII.

[196] Das war das tragische Ende des gefürchteten Mannes!

Leider hatte uns der Tod zu spät von ihm erlöst! Denn obwohl die Familie Roderich jetzt nichts mehr zu fürchten hatte, so bedeutete dieser Tod eher eine Verschlimmerung, als eine Verbesserung der gegenwärtigen Lage, da uns jetzt kaum noch Hoffnung blieb, Myra wiederzufinden.

Hauptmann Haralan, durch die Verantwortlichkeit seiner Tat niedergedrückt, betrachtete seinen erschlagenen Feind mit trüben Blicken. Endlich, mit einer verzweifelten Gebärde, schien er sich in das Unvermeidliche dieser nie wieder gut zu machenden Übereilung zu fügen und entfernte sich langsam, um den Seinigen die Kunde dieses beklagenswerten Vorfalls zu bringen.

Leutnant Armgard und ich blieben auf dem Plane zurück mit Herrn Stepark, welcher wie durch ein Wunder, wir wußten nicht woher, aufgetaucht war. Es herrschte Totenstille, trotz der vielen hundert Anwesenden, deren Neugierde den höchsten Paroxysmus erreicht hatte. Sie standen eng aneinander gedrückt um uns herum, um ja nichts aus den Augen zu verlieren.

Aller Blicke waren auf den Toten gerichtet. Er lag auf der linken Seite da, mit blutbefleckten Kleidern; sein Gesicht war farblos, die rechte[196] Hand hielt immer noch die Waffe des Leutnants umklammert, der rechte Arm war leicht gebeugt. So war denn Wilhelm Storitz für das Grab bestimmt und seine verderbliche Macht hatte ihn davor nicht zu retten vermocht.

»Ja, er ist es!« sagte Herr Stepark leise, nachdem er ihn lange stumm betrachtet.

Auch seine Leute näherten sich, aber vorsichtig; auch sie erkannten ihn. Um die Erkenntnis der Augen durch diejenige des Tastsinnes zu unterstützen, befühlte Herr Stepark den Leichnam vom Kopfe bis zu den Füßen.

»Tot... ganz tot!« sagte er, als er sich aufrichtete.

Er gab einen kurzen Befehl und ein Dutzend seiner Leute machten sich daran, den Schutt von dem Platze wegzuschaffen, an der Stelle, wo derselbe vor Storitz' Ende so eigentümliche Bewegungen vollführt hatte.

»Aus dem belauschten Gespräche – wandte sich Herr Stepark zu mir, als Antwort auf meine Frage – weiß ich, daß hier das Versteck liegen muß, in dem der Schurke seine Vorräte verborgen hielt mit denen er uns Trotz zu bieten wagte. Ich werde diesen Platz nicht verlassen, ehe ich das Versteck nicht gefunden und seinen unheimlichen Inhalt zerstört habe! Storitz ist tot. Und wenn die gesamte Wissenschaft mich verdammen sollte, ich lasse sein Geheimnis mit ihm sterben!«

Ich konnte Herrn Stepark in meinem Innersten nur recht geben. Otto Storitz' Entdeckung war wohl imstande, mein Interesse als Ingenieur wachzurufen, aber ich konnte ihre praktische, nützliche Seite nicht erkennen, sondern fand, daß sie nur die niedrigsten Leidenschaften der Menschen begünstigte.

Bald hatte man eine eiserne Platte vor sich. Man hob sie auf und die ersten Stufen einer engen, steinernen Treppe kamen zum Vorschein.

Da fühlte ich meine Hand erfaßt, während eine klägliche Stimme laut wurde:

»Erbarmen!... Gnade!...« wimmerte sie.

Ich blickte um mich, sah aber niemanden neben mir. Aber meine Hand war noch immer fest gehalten und die flehende Stimme ließ sich noch immer hören. Die Männer hatten ihre Arbeit unterbrochen. Alle blickten zu mir; in meiner leicht begreiflichen Aufregung streckte ich meine[197] frei gebliebene Hand aus, um den zunächst um mich liegenden Raum zu erforschen.

In der Höhe meiner Körpermitte begegnete ich zunächst Haaren und weiter unten ein in Tränen gebadetes Gesicht. Vor mir kniete ein weinender Mensch, den ich nicht sehen konnte.

»Wer sind Sie? stammelte ich, denn die Aufregung preßte mir die Kehle zusammen.

– Hermann, antwortete man.

– Was wollen Sie?«

In abgehackten Sätzen sagte mir Storitz' Diener, daß er die Zerstörungspläne des Polizeichefs vernommen habe und daß er, falls dieselben ausgeführt würden, nie wieder seine menschliche Gestalt erlangen könne. Was sollte aus ihm werden, wenn er zu einer derartigen Existenz verdammt war? Er beschwor den Polizeichef, ihm zu erlauben, den Inhalt eines dieser Fläschchen zu sich zu nehmen, ehe sie vernichtet wurden.

Herr Stepark gab seine Zustimmung, aber er ließ keine Vorsicht außeracht, da auch Hermann sich vor Gericht verantworten mußte. Auf seinen Befehl hielten vier kräftige Leute den Unsichtbaren fest.

Herr Stepark und ich stiegen als erste die steile Treppe hinab; die vier Polizeileute mit dem gefangenen Hermann folgten.

Einige Stufen führten uns in einen Keller, der durch das von der offenen Falltüre eindringende Licht nur spärlich erhellt wurde. Dort standen auf Regalen eine Reihe von Fläschchen, die mit Aufschriften Nr. 1 und Nr. 2 versehen waren.

Hermann verlangte ungeduldig eines der letzteren und der Polizeichef reichte es ihm hin. Dann sahen wir zu unserem unbeschreiblichen Staunen – obwohl wir auf ein ähnliches Schauspiel vorbereitet waren – das Fläschchen einen Bogen durch die Luft beschreiben, dann sich neigen, immer mehr neigen, als ob ein Verdurstender es zum Munde führe und mit gierigen Zügen bis zur Neige leere.

Und jetzt vollzog sich ein seltsames Wunder. In dem Maße, als er trank, schien er aus dem Nichts herauszutreten. Man sah zunächst eine leichte Nebelgestalt in dem im Keller herrschenden Halbdunkel erscheinen, dann festigten sich die Konturen allmählich und vor uns stand derselbe Mensch, welcher mir auf meinem ersten Abendspaziergang in Ragz gefolgt war.[198]

Auf ein Zeichen des Polizeichefs wurden sämtliche übrigen Fläschchen augenblicklich zerstört und die Flüssigkeiten verflüchtigten sich ungemein rasch. Nach beendigter Exekution stiegen wir wieder ans Tageslicht.

»Was gedenken Sie jetzt zu tun, Herr Stepark, erkundigte sich Leutnant Armgard.

– Ich werde den Toten ins Rathaus bringen lassen, lautete die Antwort.

– Öffentlich?

– Öffentlich, sagte der Polizeichef. Ganz Ragz muß überzeugt werden. daß Wilhelm Storitz wirklich tot ist. Man wird es erst glauben, wenn man seinen Leichnam gesehen hat.

– Und nach der Beerdigung? fragte Armgard.

Wenn man ihn beerdigt..., sagte Herr Stepark.

Wenn man ihn beerdigt?... fragte ich.

– Ja, erklärte Herr Stepark, denn ich bin der Ansicht, man sollte den Toten verbrennen und die Asche in alle Winde zerstreuen, wie es im Mittelalter Brauch war.«

Er ließ eine Tragbahre kommen und ging mit einem großen Teil seiner Leute fort; der Gefangene, welcher ein sehr unbedeutender Mensch geworden war, nachdem er nicht mehr unsichtbar war, wurde mitgenommen. Leutnant Armgard und ich eilten dem Hause des Doktors zu.

Wir fanden Hauptmann Haralan bei seinem Vater; er hatte diesem alles erzählt. Frau Roderich wußte von nichts. Es war bei ihrem bedenklichen Zustand besser, sie erfuhr nichts vom Tode Wilhelm Storitz', nachdem ihr die Tochter dadurch nicht wiedergegeben wurde.

Auch mein Bruder wußte noch nichts. Aber ihm waren wir Mitteilungen schuldig, deshalb ließen wir ihm sagen, daß er im Arbeitszimmer erwartet wurde.

Er nahm die Neuigkeit nicht mit dem Gefühle der Befriedigung gestillter Vergeltung auf, sondern brach vielmehr in Schluchzen aus und rief ganz verzweifelt:

»Er ist tot!... Sie haben ihn getötet!... Und er ist gestorben, ohne zu sprechen!... Myra!... Meine arme Myra!... Jetzt werde ich sie nie wiedersehen!...«

Was sollten wir auf diesen Schmerzensausbruch entgegnen?...


Als er trank, schien er aus dem Nichts herauszutreten. (S. 198.)
Als er trank, schien er aus dem Nichts herauszutreten. (S. 198.)

Trotzdem wagte ich den Versuch. Nein, noch war Hoffnung vorhanden! Wir wußten allerdings nicht, wo Myra war, aber jemand wußte es, Hermann, Storitz' Diener. Und dieser Mann saß hinter Schloß und Riegel fest. Ihn würde man ausfragen und da ihn nicht dasselbe Interesse zum Schweigen bewog, als Wil[199] helm Storitz, würde er ihren Aufenthaltsort sicher verraten... Man würde ihn eventuell dazu zwingen, und wenn man ein Vermögen opfern müßte!... Man wurde ihn im Notfalle auf die Folter spannen, um ihn zum Reden zu bringen... Myra würde sicher[200] ihrer Familie, ihrem Gatten zurückgegeben werden, und die vereinten Bemühungen von Pflege, Zärtlichkeit und Liebe würden auch ihren kranken Geist heilen....


Es war Myra, welche uns sah. (S. 204.)
Es war Myra, welche uns sah. (S. 204.)

Markus hörte gar nicht zu. Er wollte nicht hören. Er blieb bei seinem Glauben, daß der einzige, welcher sprechen konnte, tot war. Er durfte nicht getötet werden, ehe er sein Geheimnis nicht preisgegeben hatte.

Ich war ratlos, wie ich meinen Bruder besänftigen sollte, als unser Gespräch durch einen von der Straße hereindringenden Lärm unterbrochen[201] wurde. Wir eilten an das Eckfenster, durch das man den Wall und den Batthyány-Kai übersehen konnte.

Was gab es denn schon wieder?... In unserer momentanen Geistesverfassung hätte uns wohl nichts mehr überrascht, selbst die Auferstehung Wilhelm Storitz' nicht!

Aber es handelte sich jetzt nur um seinen Leichenzug. Vier Polizeileute, welche von einer starken Eskorte begleitet wurden, trugen die Bahre mit dem Leichnam. Jetzt konnte ganz Ragz sehen, daß Wilhelm Storitz wirklich tot war und die Schreckensperiode ein Ende erreicht hatte.

Herr Stepark wollte den Toten überall zeigen. Die Bahre wurde durch den Batthyány-Kai bis zur Stephans-Straße getragen und sollte von da über den Koloman-Markt und durch die belebtesten Stadtviertel zum Rathaus gebracht werden.

Meiner Meinung nach hätte Herr Stepark klüger getan, den Zug nicht vor dem Hause des Doktors vorübergehen zu lassen.

Mein Bruder stand mit uns am Fenster. Er stieß einen Schrei der Verzweiflung aus beim Anblicke des blutüberströmten Körpers, welchem er nur zu willig wieder Leben eingeflößt hätte, selbst um den Preis des eigenen Lebens.

Die Volksmenge erging sich in lärmenden Demonstrationen. Der lebende Wilhelm Storitz wäre zerrissen worden; seinen Leichnam verschonte man. Aber Herr Stepark hatte recht geraten, das Volk würde niemals zu einer Beisetzung in geweihter Erde seine Zustimmung geben. Es verlangte die öffentliche Verbrennung auf dem Hauptplatze oder, daß er in die Donau geworfen werde, deren Wellen ihn dann zum Schwarzen Meere tragen mochten.

Eine volle Viertelstunde ertönte das Schreien und Rufen vor dem Hause, dann trat Stille ein.

Hauptmann Haralan sagte uns, daß er sich ins Rathaus begeben wolle. Er wollte verlangen, daß Hermann augenblicklich verhört werde. Wir stimmten ihm bei und er verließ uns, von Leutnant Armgard begleitet.

Ich blieb bei meinem Bruder. Welch bittere Stunden verbrachte ich mit ihm!... Er ließ sich nicht beruhigen und die stets anwachsende Aufregung erfüllte mich mit Angst und Schrecken. Ich fühlte, daß er sich mir entfremdete und befürchtete eine Krise, die er vielleicht nicht überleben[202] konnte Er wollte mich nicht anhören. Er widersprach nicht, aber er verfolgte eine fixe Idee, er mußte fortgehen, um Myra zu finden.

»Du wirst mich begleiten, Heinrich«, sagte er.

Ich konnte von ihm nichts erreichen als das Versprechen, erst die Rückkehr Haralans abzuwarten. Dieser kam mit seinem Freunde erst gegen vier Uhr zurück. Sie brachten die denkbar schlechtesten Nachrichten. Ein Verhör hatte stattgefunden aber es blieb ohne den gehofften Erfolg. Herr Stepark und der Gouverneur hatten Hermann gebeten. bedroht, beschworen... Man hatte Storitz' Diener ein Vermögen angeboten, man hatte mit den schärfsten Strafen gedroht, falls er sich weigere, zu sprechen. Man hatte nichts damit erreicht. Hermann hatte nicht einen Augenblick in seinen Antworten geschwankt. Er wußte nicht, wo Myra sich aufhielt. Auch die Entführung war ihm unbekannt, sein Herr hatte ihn in seine Absichten nicht eingeweiht.

Nach dreistündigen vergeblichen Anstrengungen mußte man auf weitere Versuche verzichten. Hermann sprach die Wahrheit. Seine Unwissenheit war nicht geheuchelt. Jetzt war der letzte Hoffnungsstrahl für uns erloschen.

Das war ein trüber Abend, der uns vereinte. In die Stuhle gesunken, todestraurig, mutlos, ließen wir schweigend die Minuten verrinnen Wir wußten nichts mehr zu sagen, was nicht schon hundertmal gesagt worden war.

Vor acht Uhr brachte der Diener die Lampen. Dr. Roderich weilte bei seiner Frau; im Salon waren nur die zwei Offiziere, Markus und ich anwesend. Der Diener ging wieder hinaus und von der Wanduhr tönten acht Glockenschläge.

In diesem Augenblick wurde die Türe der Galerie ziemlich rasch geöffnet. Wahrscheinlich hatte sie ein vom Garten kommender Luftstrom aufgestoßen, denn ich sah niemanden. Aber es war merkwürdig, daß sie sich von selbst wieder schloß...

Und letzt – nein, so lange ich lebe, werde ich diesen Auftritt nicht vergessen! – hörten wir eine Stimme... Nicht wie beim Verlobungsfest die rauhe Stimme, die uns mit dem »Lied vom Hasse« verhöhnte – nein, eine frische, fröhliche Stimme, eine Stimme, die uns allen lieb und teuer war: – die Stimme unserer Myra!...[203]

»Markus, sagte sie, und Sie, Herr Heinrich, und Du, Haralan, was macht Ihr jetzt im Salon? Es ist Zeit, zu Tisch zu gehen, ich habe großen Hunger.«

Es war Myra, unsere Myra, welche ihr volles Bewußtsein wieder erlangt hatte; Myra war wieder gesund!... Es schien, als sei sie, wie früher täglich, aus ihrem Zimmer herabgekommen. Es war Myra, welche uns sah und die wir nicht sehen konnten!... Myra war unsichtbar!...

Niemals noch hatten so einfache Worte eine so furchtbare Wirkung gehabt! Bestürzt, starr, saßen wir da, wie auf unsere Stühle festgenagelt; wir wagten uns nicht zu rühren, zu sprechen, und der Stelle zu nähern, von welcher die Stimme zu kommen schien. Und doch stand Myra dort, lebend, gesund und – wir wußten es bestimmt – greifbar trotz ihrer Unsichtbarkeit....

Von woher kam sie?... War sie aus dem Hause entflohen, wohin sie von dem Räuber gebracht worden war?... Und wie hatte sie fliehen, durch die Stadt eilen, in das Haus kommen können?... Die Türen waren ja alle verschlossen und niemand hatte dieselben für sie geöffnet....

Nein, so verhielt es sich nicht; – die Erklärung ihres plötzlichen Erscheinens wurde uns gar bald klar. – Myra kam aus ihrem Zimmer, wo Wilhelm Storitz sie unsichtbar gemacht und auf ihrem Bette gelassen hatte. Sie hatte niemals ihr Lager verlassen, während wir sie von uns weit entfernt glaubten. Unbeweglich, stumm, bewußtlos war sie während vierundzwanzig Stunden in ihrem Zimmer gelegen und keinem von uns war der Gedanke gekommen, daß sie noch in ihrem Bette sein konnte. Mit welchem Rechte hätten wir das vermuten können?

Wahrscheinlich konnte Wilhelm Storitz sie damals nicht gleich forttragen; aber er hätte sein Verbrechen voraussichtlich noch vollständig gemacht, wenn Haralans Waffe nicht an diesem Morgen seinem ruchlosen Treiben ein Ende bereitet hätte.

Und jetzt waren Myra auch alle Geisteskräfte wiedergekommen – vielleicht war es der Wirkung der Flüssigkeit zuzuschreiben, welche Wilhelm Storitz ihr eingeflößt haben mußte –; Myra, welche von nichts wußte, was sich seit der Szene in der Kathedrale ereignet hatte, war wieder in unserer Mitte, sprach mit uns, sah uns und war sich noch nicht bewußt geworden, in der verhältnismäßigen Dunkelheit, daß sie sich selbst nicht[204] sehen konnte. Markus war aufgesprungen und breitete die Arme aus, sie zu umfassen....

Sie fuhr fort:

»Was ist Euch denn? Ich rede mit Euch und Ihr antwortet mir nicht. Ihr seht alle so erstaunt aus, mich hier zu sehen. Was ist denn geschehen?... Warum ist Mama nicht hier? Ist sie nicht wohl?«

Wieder öffnete sich die Türe, um Dr. Roderich einzulassen. Sogleich eilte Myra ihm entgegen – so schien es uns wenigstens – und rief:

»Ach, mein Vater!... Was gibt es denn?... Warum sehen mein Bruder und Markus so verstört aus?«

Dr. Roderich war wie zu Stein erstarrt auf der Schwelle stehen geblieben. Er begriff alles... Aber Myra stand neben ihm; sie küßte ihn und wiederholte:

»Was ist denn geschehen?... Mama?... Wo ist Mama?...

– Deine Mutter ist ganz wohl, mein Kind, stammelte der Doktor. Sie wird gleich kommen... Bleibe hier, mein Kind, bleibe!«

Es war Markus gelungen, seine Frau bei der Hand zu fassen und er führte sie leise mit sich fort, als ob er eine Blinde leite. Und doch war nicht sie die Blinde, sondern wir alle, die nicht sehen konnten. Mein Bruder zog sie neben sich auf einen Sitz nieder....

Sie sprach jetzt nicht mehr, denn die Wirkung, die ihr Erscheinen auf uns ausgeübt, unser Schweigen beängstigte sie.

Markus flüsterte mit zitternder Stimme Worte, deren Sinn sie nicht verstehen konnte.

»Myra!... Meine liebe Myra!... Ja!... Du bist es wirklich... Ich halte Dich!... Du bist wirklich bei mir!... O, Geliebte, ich beschwöre Dich, verlasse mich nicht mehr!...

– Lieber Markus... Was hast Du?... Du siehst ganz verstört aus... Ihr alle seht so aus... Ihr erschreckt mich... Vater, antworte Du!... Ist ein Unglück geschehen?...«

Markus fühlte, daß sie sich erheben wollte. Er hielt sie sanft zurück.

»Nein, sagte er, beruhige Dich. Es ist kein Unglück geschehen; aber sprich wieder, Myra... sprich, daß ich Deine Stimme wieder höre... Du... mein Weib... meine über alles geliebte Myra!...«[205]

Ja, wir waren Augen- und Ohrenzeugen dieser Szene. Und wir saßen noch immer mit starren Blicken da, unfähig zu jeder Bewegung; kaum wagten wir zu atmen unter dem Banne der fürchterlichen Erkenntnis, daß der einzige Mensch, welcher Myra ihre sichtbare Gestalt wiedergeben konnte, tot war und sein Geheimnis mit ins Grab genommen hatte!

Quelle:
Jules Verne: Wilhelm Storitzߣ Geheimnis. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCVIII, Wien, Pest, Leipzig 1911, S. 196-206.
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