XVIII.

[206] Wir waren letzt nicht mehr Herren der Situation; war endlich ein glückliches Ende zu erwarten? Niemand wagte es zu glauben. Myra schien für immer aus der sichtbaren Welt verschwunden zu sein. In das unaussprechliche Glück, sie wiedergefunden zu haben, mischte sich der gleich unsagbare Schmerz, daß unsere Blicke und unser Herz sich nie wieder an ihrer Schönheit und Anmut erfreuen konnten.

Man kann sich leicht vorstellen, welche Existenz die Familie Roderich unter diesen Umständen führen mußte!

Myra wurde sich ihres Zustandes gar bald bewußt. Als sie an dem oberhalb des Kamins angebrachten Spiegel vorbeiging, konnte sie ihr Bild nicht erblicken.... Sie wandte sich nach uns um, stieß einen Schrei des Schreckens aus... und sah auch keinen Schatten neben sich.

Jetzt mußten wir sie über alles aufklären; sie weinte bitterlich und Markus, welcher vor dem Sessel kniete, auf dem sie Platz genommen hatte, suchte ihr Trost zuzusprechen. Er liebte sie, da er sie noch sehen konnte, er werde sie auch unsichtbar ebenso innig lieben. Es war ein herzzerreißender Anblick.

Dr. Roderich wünschte, daß Myra auch zu ihrer Mutter gehen solle; es war besser, daß Frau Roderich sie neben sich wußte, ihre Stimme hörte.

So vergingen einige Tage. Was unsere Tröstungen nicht vermocht hatten, das bewirkte die Zeit; Myra ergab sich schließlich in ihr Geschick. Dank ihrer Seelengröße schien es uns fast, als ob das Leben wieder in seine normalen Bahnen einlenke. Myra benachrichtigte uns immer von[206] ihrer Gegenwart, indem sie bald den einen, bald den andern ansprach Ich höre noch ihre Worte:

»Meine Lieben, ich bin hier.... Habt Ihr einen Wunsch?... Braucht Ihr etwas?... Ich werde es bringen.... Lieber Heinrich, was suchen Sie?... Das Buch, das Sie vorhin auf den Tisch gelegt haben?... Hier ist es!... Die Zeitung?... Sie liegt neben Ihnen.... Vater, ich glaube, um diese Zeit bekommst Du immer einen Kuß.... Warum siehst Du mich so traurig an, Haralan?... Ich versichere Dich, daß ich heiter und froh bin. Sorge Dich nicht um mich! Markus, hier sind meine beiden Hände.... Nimm sie.... Willst Du in den Garten kommen?... Geben Sie mir Ihren Arm, Heinrich; wir wollen über alles mögliche plaudern!«

Das liebenswürdige, gute Wesen wollte nicht dulden, daß eine Änderung des Familienlebens eingreifen sollte. Sie saß mit Markus stundenlang beisammen. Sie wurde nicht müde, ihm ermunternde Worte zuzuflüstern. Sie tröstete ihn, behauptete, voll Vertrauen in die Zukunft zu blicken, fühlte, daß die Unsichtbarkeit eines Tages ein Ende nehmen müsse.... Hegte sie tatsächlich diese Hoffnung?

Eine einzige Änderung wurde in unserem Familienleben eingeführt Myra nahm nicht mehr ihren alten Platz bei den Mahlzeiten ein, sie fühlte, wie peinlich ihre unsichtbare Gegenwart berühren könnte. Aber nach beendigter Mahlzeit erschien sie im Salon. Man hörte, wie sie die Türe öffnete und schloß. »Hier bin ich, meine Lieben«, rief sie fröhlich und blieb in unserer Mitte, bis es Zeit wurde, uns gute Nacht zu sagen und sie ihr Zimmer aufsuchte.

Hatte das Verschwinden Myra Roderichs die Stadt Ragz in Aufregung versetzt, so tat es ihr Wiederauftauchen um so mehr. Von allen Seiten regnete es Freundschaftsbeweise und die Besuche nahmen kein Ende.

Myra machte keine Spaziergänge mehr in der Stadt. Manchmal unternahm sie in Begleitung eines der Ihrigen Ausfahrten im geschlossenen Wagen. Am liebsten saß sie im Garten, inmitten ihrer Lieben, denen sie nun – wenigstens im moralischen Sinne – wiedergegeben war.

In der Zwischenzeit bemühte sich Herr Stepark, der Gouverneur und auch ich, aus Hermann etwas zu erfahren. Er hatte ebenso zahlreiche, als resultatlose Verhöre zu bestehen. Seine Aussagen waren von keinem Nutzen und halfen uns nicht aus der Verlegenheit.


»Lieber Heinrich, was suchen Sie?... Das Buch...« (S. 207.)
»Lieber Heinrich, was suchen Sie?... Das Buch...« (S. 207.)

[207] Nachdem er sich von dem Verdachte der Mitwissenschaft an dem an Myra verübten Attentate gereinigt, quälte man ihn nicht mehr über diesen Punkt. Aber war es nicht denkbar, daß er in die Geheimnisse seines verstorbenen Herrn eingeweiht war? Möglicherweise war er sogar im Besitze der von Otto Storitz erfundenen Formel?


Markus und Myra sind sehr glücklich. (S. 216.)
Markus und Myra sind sehr glücklich. (S. 216.)

Herr Stepark und ich machten uns letzt die heftigsten Vorwürfe, so übereilt gehandelt zu haben bei der Vernichtung der geheimen Vorräte! Ohne diese unverzeihliche Übereilung hätten wir, was wir für Hermanngetan, auch für Myra tun können. Ein einziges Fläschchen der geheimnisvollen Flüssigkeit und alle überstandenen Leiden wären wie ein böser Traum gewesen, dessen Erinnerung sich in dem Glück des Erwachens verloren hätte.

Weder Herr Stepark noch ich selbst erwähnten jemals unser gemeinsames, wenn auch unbeabsichtigtes Verbrechen, das er begangen hatte, ich aber ungehindert geschehen ließ. Das Geheimnis blieb begraben und in schweigendem Übereinkommen brachten wir auch unter vier Augen nie die Rede auf dieses dunkle Kapitel unserer Schuld.

Um so mehr quälte jeder von uns den unglücklichen Hermann mit denselben Fragen, in der zweifelhaften Hoffnung, ihm ein Geheimnis zu entreißen, das er gar nicht kannte. Wie konnten wir überhaupt voraussetzen, daß Storitz einem gewöhnlichen Diener, welchem auch die rudimentärste Bildung mangelte, die Geheimlehren übersinnlicher Chemie enthüllt hätte; er hätte dieselben ja gar nicht begriffen, falls es doch geschehen wäre.

Eines Tages sahen wir endlich die Nutzlosigkeit unserer Anstrengungen ein und nachdem eigentlich gegen Hermann kein Anklagepunkt vorlag, der ihn mit dem Gerichte in Konflikt bringen konnte, mußte man sich schließlich hohen Ortes entschließen, ihn auf freien Fuß zu setzen.

Aber das Schicksal fügte es, daß der arme Teufel sich dieser späten Güte nicht mehr freuen sollte. Als der Gefangenwärter am Morgen in seine Zelle trat, um ihn in Freiheit zu setzen, fand er ihn tot, er war an einer Embolie erstickt, wie bei der nachträglichen Autopsie festgestellt wurde.

So war auch unsere letzte Hoffnung geschwunden. Wilhelm Storitz' Geheimnis war für ewige Zeiten verloren!

In den bei der Haussuchung am Tököly-Wall ergriffenen und im Rathaus niedergelegten Papieren fanden sich, nach einer peinlich genauen Untersuchung, nur vage Formeln und ganz unverständliche chemisch-physikalische Notizen. Wir wurden dadurch nicht klüger. Über die Zusammensetzung der teuflischen Substanz, von der Wilhelm Storitz einen so verbrecherischen Gebrauch gemacht, war aus den Papieren nichts zu ersehen.

Ebenso wie Storitz erst dann aus dem Nichts heraustrat, als der Säbel Hauptmann Haralans ihn tötlich getroffen, ebenso wird Myra, das unglückliche Opfer dieses Henkers, erst auf dem Totenbette wieder für unsere Blicke sichtbar werden.[210]

Am Morgen des 24. Juni suchte mich mein Bruder auf. Er schien mir verhältnismäßig ruhig zu sein.

»Lieber Heinrich, ich komme, Dir einen Entschluß mitzuteilen, den Du jedenfalls billigen wirst.

– Ich zweifle nicht daran, antwortete ich, sprich vertrauensvoll darüber. Ich weiß, daß Du nur tust, was die Stimme der Vernunft Dir rät!

– Der Vernunft und der Liebe, Heinrich. Myra ist nicht ganz meine Frau. Es fehlt unserer Verbindung noch der Segen der Kirche, nachdem die Trauung unterbrochen worden ist, bevor die sakramentalen Worte gesprochen waren. Das hat eine falsche Position geschaffen, der ich ein Ende machen will, Myras, ihrer Eltern wegen und der Welt gegenüber.«

Ich umarmte meinen Bruder und sagte:

»Ich verstehe Dich, Markus, und ich glaube kaum, daß sich der Ausführung dieses Wunsches Hindernisse entgegenstellen können....

– Das wäre entsetzlich, antwortete er. Wenn der Priester auch Myra nicht sieht, so kann er doch ihre Erklärung hören, daß sie mich zum Gatten nimmt, wie ich sie zu meiner Gattin mache. Ich kann mir nicht denken, daß von Seiten der kirchlichen Autorität Schwierigkeiten...

– Nein, lieber Markus, gewiß nicht. Und ich will die nötigen Schritte tun, ich nehme alles auf mich.«

Ich wandte mich zunächst an den Pfarrer der Kirche, an jenen Erzpriester, welcher damals die Messe zelebriert hatte, die eine unerhörte Profanation gewaltsam unterbrochen.

Der ehrwürdige Greis sagte mir, daß der Fall untersucht worden war und der Erzbischof von Ragz eine für uns günstige Entscheidung getroffen habe.

Es herrschte kein Zweifel, daß die Braut lebe, folglich konnte sie das Sakrament der Ehe empfangen.

Die Verkündigungen hatten schon lange stattgefunden und somit wurde die Trauung auf den 2. Juli festgesetzt.

Am Vorabend sagte Myra, wie schon einmal:

»Morgen ist der Tag, Heinrich... Vergessen Sie nicht!«

Diese zweite Trauung wurde, wie die erste, in der Kathedrale zum heiligen Michael gefeiert, genau in derselben Weise, wie die erste. Dieselben[211] Zeugen, dieselben Freunde und Gäste der Familie Roderich, dieselbe schaulustige Volksmenge.

Vielleicht war die Zahl der Neugierigen sogar noch größer, als beim ersten Mal – und auch das wird man erklärlich finden.

Allerdings war die Zuhörerschar noch mit regen Besorgnissen erfüllt, welche allein die Zeit heilen konnte. Wilhelm Storitz war ja tot – zugegeben! Sein Diener Hermann war gleichfalls tot – auch zugegeben!... Und dennoch fragte sich mehr als einer im stillen, ob nicht auch diese zweite Hochzeitsmesse unterbrochen, ob die Trauungszeremonie nicht wieder durch unheimliche Zwischenfälle gestört werden würde, wie die erste.

Das Brautpaar befindet sich im Chor der Kirche. Der Platz Myras scheint leer zu sein, und dennoch ist sie anwesend.

Markus steht an seinem Platze und wendet sich ihr zu. Er kann sie nicht sehen, aber er fühlt ihre Nähe. Er hält ihre Hand, um ihre Gegenwart vor dem Altare zu beweisen.

Hinter ihnen stehen die Zeugen, Herr Neuman, Hauptmann Haralan, Leutnant Armgard und ich; ferner Herr und Frau Roderich: die bedauernswerte Mutter fleht den Allmächtigen kniend um ein Wunder für ihre Tochter an.... Ringsherum die Freunde, die Häupter der Stadt, welche im Hauptschiff Platz gefunden hatten, die übrige Kirche ist gedrängt voll.

Feierliches frohes Glockengeläute erklingt und voller Orgelton braust durch die Hallen der Kathedrale.

Der Erzpriester und seine Assistenz sind zum Altare geschritten. Die heilige Handlung beginnt, die einzelnen Teile wickeln sich unter Chorgesang ab.

Bei der Opferung geleitet Markus Myra bis zur ersten Altarstufe und führt sie dann an ihren Platz zurück, nachdem der Diakon ihr Almosen empfangen hat.

Die Messe ist zu Ende und der Priestergreis wendet sich gegen das Volk.

»Myra Roderich, sind Sie hier?... fragte er.

– Ja, ich bin da, antwortete Myra.

Dann wandte er sich zu Markus:

– Markus Vidal, sind Sie gewillt, die hier anwesende Myra Roderich zur Gattin zu nehmen?

– Ja, antwortete mein Bruder.[212]

– Myra Roderich, sind Sie gewillt, den hier gegenwärtigen Markus Vidal zum Gatten zu nehmen?

– Ja, antwortete Myra mit deutlich vernehmbarer Stimme.

– Markus Vidal und Myra Roderich – sprach langsam und feierlich der Erzpriester – ich erkläre Euch durch das Sakrament der Ehe für verbunden!«

Nach der Trauung eilten die Leute auf die Straße hinaus, um die Neuvermählten vorübergehen zu sehen. Aber man hörte nicht den bei ähnlichen Anlässen üblichen fröhlichen Lärm. Die Menge schweigt und lauscht aufmerksam, immer noch in der Hoffnung, etwas Außergewöhnliches zu sehen. Niemand will einem anderen den eroberten Platz abtreten, aber keiner will in der ersten Reihe stehen. Alle werden gleichzeitig durch die Neugier vorausgetrieben und durch geheime Angst zurückgehalten. Zwischen dieser doppelten Reihe furchtbefangener Menschen schreitet das vermählte Paar, die Zeugen, die Freunde zur Sakristei, dort fügt sich in den Registern der Kirchenbücher zu dem Namen Markus Vidal der Name Myra Roderich, den eine Hand niederschreibt, die man nicht sehen kann, eine Hand, die man niemals sehen wird.

Quelle:
Jules Verne: Wilhelm Storitzߣ Geheimnis. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCVIII, Wien, Pest, Leipzig 1911, S. 206-213.
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