XIX.

[213] So endigte, am 2. Juli, dieser seltsame Roman, den ich, einer Laune folgend, niedergeschrieben habe.

Ich sehe vollkommen ein, daß er unwahrscheinlich klingt. Aber daran ist wohl nur die mangelhafte Schilderung des Erzählers Schuld. Die Geschichte ist unglücklicherweise nur zu wahr, obwohl sie einzig dasteht in den Annalen der Vergangenheit und – ich hoffe es von Herzen – einzig bleiben wird in den Annalen der Zukunft.

Selbstverständlich hatten mein Bruder und Myra ihre einstigen Zukunftspläne aufgegeben. An eine Reise nach Frankreich war unter den jetzigen Umständen nicht mehr zu denken. Ich sah voraus, daß Markus in Zukunft in Paris nur flüchtigen Aufenthalt nehmen würde und daß sein ständiger Wohnort Ragz bleiben mußte. Das war ein großer Kummer für mich, aber ich mußte mich fügen.[213]

Am besten war es wohl, wenn Markus mit seiner jungen Frau bei Herrn und Frau Dr. Roderich blieb. Die Zeit ebnet alles und Markus würde sich an dieses Leben gewöhnen. Myra wußte es immer so einzurichten, daß allen immer die Illusion ihrer Gegenwart gegeben wurde.

Man wußte immer, wo sie war und was sie machte. Sie war die Seele des Hauses, leider auch unsichtbar wie eine Seele.

Außerdem war ihre materielle Gestalt nicht ganz verschwunden. Hatte man nicht das prachtvolle, von Markus gemalte Bild von ihr? Myra liebte es, sich daneben hinzusetzen; dann sagte sie mit ihrer tröstenden, weichen Stimme:

»Ich bin ja da, ich bin sichtbar geworden, und Ihr seht mich jetzt, wie ich mich sehe!«

Ich blieb noch einige Wochen nach der Hochzeit in Ragz und wohnte im Hause des Doktors in der herzlichsten Intimität mit dieser so schwer geprüften Familie; mit Bedauern sah ich den Tag meiner Abreise herannahen. Aber auch der längste Urlaub geht einmal zu Ende; ich mußte nach Paris zurückkehren.

Mein Beruf nahm mich zunächst ganz in Anspruch, mehr, als beschäftigungslose Leute ahnen, aber die Ereignisse, in die ich kürzlich verwickelt worden war, waren zu seltsamer Natur gewesen, so daß auch die angestrengteste Beschäftigung die Erinnerung nicht gänzlich zu bannen vermochte. Ich dachte nahezu unaufhörlich daran und kein Tag verging, ohne daß meine Gedanken nach Ragz zu meinem Bruder und seiner Frau wanderten, die nun endlich vereint und so weit von mir waren.

Im Jänner des folgenden Jahres stellte ich mir zum hundertsten Male die Aufeinanderfolge all der Schreckensszenen vor, deren Abschluß der Tod Wilhelm Storitz bildete und mit einem Male kam mir eine Eingebung; sie war so einfach, so selbstverständlich, daß ich ganz erstaunt war, nicht früher daran gedacht zu haben. War ich blind gewesen oder hatten mich alle Fähigkeiten logischen Denkens verlassen, daß ich niemals die Umstände seines Todes so recht bedachte?

Heute drängte sich dieser Schluß meinem Geiste förmlich auf: hatte der Körper unseres besiegten Feindes die Eigenschaft der Unsichtbarkeit verloren, die ihm bei seinen Lebzeiten zu eigen gewesen, so war die Ursache in dem heftigen Blutergusse zu suchen, der eine Folge der schweren Verwundung[214] war. Das kam mir jetzt wie eine Erleuchtung. Gleichzeitig wurde es mir zur Gewißheit, daß die geheimnisvolle Substanz von dem Blute festgehalten werden müsse und daß sie mit dem ausströmenden Blute seinen Körper verlassen hatte.

Sobald diese Hypothese anerkannt war, ließ sich die Folgerung leicht ableiten. Was der Säbelhieb Haralans getan hatte, das konnte auch dem Messer des Arztes gelingen. Es handelte sich nur um eine ganz leichte Operation, die man so oft wiederholen konnte, als die Notwendigkeit es erforderte. Das Blut, das Myra auf diese Weise verlor, wurde bald durch neues Blut ersetzt und schließlich mußte ein Tag kommen, wo ihre Venen keine Tropfen der fluchwürdigen Substanz enthielten, die Markus des Glückes beraubte, sie zu sehen.

Ich schrieb in diesem Sinne augenblicklich an meinen Bruder. Aber eben als ich meinen Brief abschicken wollte, erhielt ich Nachrichten von ihm, die mich bewogen, die Sendung meines Schreibens zu verzögern. In seinem Briefe teilte mir Markus eine Neuigkeit mit, die für den Augenblick meine Berechnungen unmöglich machte. Er sagte mir in seinem Schreiben, daß er Vaterfreuden entgegensehe. Und man wird mir recht geben, daß Myra zu dieser Zeit auch nicht eines Blutstropfens beraubt werden durfte. Sie brauchte ihre ganze Kraft, um die schweren Pflichten der Mutterschaft auf sich nehmen zu können.

Die Geburt meines zukünftigen Neffen – oder meiner Nichte – war mir für die letzten Tage des Monates Mai angekündigt. Der Leser kennt die innige Liebe, die mich mit meinem einzigen Bruder verband. Die angegebene Frist fand mich bei ihm Schon am 15. Mai traf ich in Ragz ein und erwartete das freudige Ereignis mit einer Ungeduld, die kaum geringer war als die des glücklichen Vaters.

Der 27. Mai war der ersehnte Tag und dieses Datum wird niemals meinem Gedächtnisse entschwinden! Man behauptet, es gäbe heutzutage keine Wunder mehr; aber an diesem Tage geschah ein Wunder, ein Wunder, dessen Glaubwürdigkeit ich beschwören kann. Man hat mich wohl schon erraten. Die Natur selbst half uns, indem sie uns jene Hilfe brachte, die ich von der Kunst erbitten wollte.

Wie einst Lazarus lebend aus dem Grabe hervorging, so Myra aus dem Schattenreiche und der vor Glück sprachlose Markus sah sie langsam[215] aus dem Nichts hervortreten und konnte sich doppelt als Vater fühlen, da Frau und Kind gleichzeitig dem Lichte geboren wurden; und sie erschien ihm um so schöner, da sie seinen Blicken so lange verborgen geblieben war.

Seit dieser Zeit haben Markus und Myra keine andere Geschichte wie ich selbst. Während ich mir den Kopf zerbreche, die ideale mathematische Vollkommenheit zu entdecken – die unerreichbar ist, weil die Wissenschaft der Mathematik, wie die Ewigkeit, unendlich ist – verfolgt Markus seine glänzende Laufbahn als berühmter Maler. Er lebt in Paris, zwei Schritte von mir, in einem palastähnlichen Gebäude, in dem Herr und Frau Roderich jedes Jahr zwei Monate mit dem Hauptmann, jetzt Oberst Haralan verbringen. Und jedes Jahr hält sich das glückliche Paar zwei Monate in Ragz auf. Das ist die einzige Zeit, während welcher ich des lieben Geplauders meines Neffen – es war nämlich ein Neffe! – beraubt bin, den ich mit einer Zärtlichkeit ins Herz geschlossen habe, die die Liebe des Onkels und Großvaters in sich vereint. Markus und Myra sind sehr glücklich.

Gebe der gütige Himmel, daß dieses Glück von langer Dauer sei! Gebe der gütige Himmel, daß niemand die Leiden kennen lerne, die sie dulden mußten, ehe es ihnen zuteil wurde. Gebe der gütige Himmel – und das soll mein letztes Wort sein – daß das fluchwürdige Geheimnis Wilhelm Storitz' für alle Ewigkeit begraben sei!


Ende.

Quelle:
Jules Verne: Die Gebrüder Kip. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXI–LXXXII, Wien, Pest, Leipzig 1903.
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