IX.

[110] Die Richtung, die Herr Stepark eingeschlagen hatte, führte ihn durch den nördlichen Teil der Stadt, während seine Leute paarweise die Viertel des Zentrums durchschritten. Hauptmann Haralan und ich folgten dem Donau-Kai, nachdem wir das Ende der Stephans-Straße erreicht hatten.

Der Himmel war bedeckt. Geballte, graue Wolken trieben in großer Geschwindigkeit dem Osten zu. Unter der frischen Brise glitten die Fahrzeuge rasch die gelblichen Wasser des Stromes hinab. Gruppen von Reihern und Störchen flogen unter schrillen Schreien dem Winde entgegen. Noch fiel kein Regen, aber die dichtgelagerten Nebel drohten sich jeden Augenblick in Regengüsse zu verwandeln.

Wir begegneten nur wenigen Passanten, außer in dem handeltreibenden Viertel, in dem zu dieser Stunde Käufer und Verkäufer sich drängten. Trotzdem hätte es Aufsehen erregen können, wenn der Polizeichef und seine[110] Leute mit uns gekommen wären; es war jedenfalls klüger, daß wir getrennte Wege gingen.

Hauptmann Haralan schritt schweigend neben mir. Ich fürchtete noch immer, daß er nicht an sich halten und irgend einen Gewaltakt verüben werde, sobald wir Wilhelm Storitz gegenüber stehen würden. Fast bedauerte ich, daß uns Herr Stepark erlaubt hatte, ihn zu begleiten. Eine Viertelstunde genügte uns, um am Ende des Batthyány-Kais das Haus des Dr. Roderich zu erreichen. Alle Fenster des Erdgeschosses waren noch geschlossen desgleichen diejenigen der Zimmer von Frau Roderich und Tochter. Welch ein Unterschied mit dem frohen Treiben des letzten Abends.

Hauptmann Haralan blieb stehen und seine Blicke blieben an den geschlossenen Fensterladen haften. Ein Seufzer entrang sich seiner Brust, seine Hand machte eine drohende Bewegung – aber er sagte nichts.

Wir bogen um die Ecke und gingen den Tököly-Wall hinauf, wo wir vor dem Hause Wilhelm Storitz' halt machten.

Ein Mann ging langsam an der Türe vorbei, die Hände nachlässig in die Taschen seines Rockes versenkt – ein Unbeteiligter. Es war der Herr Stepark! Wir trafen ihn hier unserer Verabredung gemäß.

Fast gleichzeitig näherten sich sechs Polizeileute in Zivilkleidung, welche sich auf ein von Herrn Stepark gegebenes Zeichen längs des Gitters aufstellten. Unter ihnen befand sich ein Schlosser, welcher die Türe aufschließen sollte, falls uns nicht freiwillig Einlaß gewährt wurde.

Die Fenster des Hauses waren wie gewöhnlich fest verschlossen, die Vorhänge der Aussichtswarte im Innern dicht zugezogen, so daß die Scheiben undurchdringlich waren.

»Es wird niemand zu Hause sein, sagte ich zu Herrn Stepark.

– Das wird sich ja zeigen, antwortete er mir. Ich glaube aber nicht, daß das Haus verlassen ist. Bemerken Sie nicht den Rauch, der aus dem linken Kamin aufsteigt?«

In der Tat stieg ein dünner Rauchfaden vom Dache empor.

»Wenn auch der Herr des Hauses nicht anwesend sein sollte, treffen wir wahrscheinlich den Diener an und es kann uns ziemlich gleichgültig sein, ob uns der eine oder der andere öffnet.«

Ich wünschte sehnlichst, in anbetracht der Gegenwart des Hauptmannes, daß Wilhelm Storitz nicht zu Hause sein, meinethalben Ragz verlassen[111] haben möge. Der Polizeichef ließ nun den Klopfer auf die Platte des Gitters niederfallen, dann warteten wir, daß jemand erscheinen und die Pforte öffnen werde.

Es verging eine Minute... aber niemand zeigte sich. Herr Stepark ließ den Klopfer zum zweiten Male niederfallen....

»Man scheint etwas schwerhörig zu sein in diesem Hause, murmelte er, dann wandte er sich an den Schlosser.

– Öffnen Sie!« befahl er.

Der Mann wählte eines seiner mitgebrachten Werkzeuge und die Türe öffnete sich ohne alle Schwierigkeit.

Der Polizeichef, Hauptmann Haralan und ich traten in den Hof; vier Polizeileute begleiteten uns, während zwei zur Bewachung der Türe zurückblieben.

Vor dem Hause angelangt stiegen wir die drei zum Eingang führenden Stufen hinan; wieder standen wir vor einer verschlossenen Türe.

Herr Stepark klopfte zweimal mit seinem Stocke. – Keine Antwort. Nicht der geringste Lärm im Innern ließ auf die Anwesenheit von Menschen schließen.

Nun kam auch der Schlosser die Stufen hinan und versuchte einen seiner Schlüssel. Es war ja nicht unmöglich, daß diese Türe mehrmals zugesperrt, vielleicht auch von innen verriegelt worden war, falls Wilhelm Storitz die Polizei bemerkt hatte und sie am Eintritte verhindern wollte.

Aber nein! Das Schloß gab nach und die Türe öffnete sich augenblicklich.

»Gehen wir hinein«, sagte Herr Stepark.

Der Gang war sowohl durch ein oberhalb der Türe angebrachtes vergittertes Fenster erhellt als auch durch die Glasscheiben einer zweiten Türe, die rückwärts in den Garten führte.

Der Polizeichef blieb inmitten des Ganges stehen und rief mit lauter Stimme:

»Ist jemand zu Hause?«

Keine Antwort, auch nicht auf eine zweite Frage. Es war auch kein Geräusch zu vernehmen. Höchstens daß wir, mit Zuhilfenahme all unserer Aufmerksamkeit und bei angestrengtestem Lauschen etwas wie ein leises Rascheln in einem der Nebenzimmer zu vernehmen glaubten.... Aber das war wohl eine Täuschung.


Das Porträt schien zu leben... (S. 115.)
Das Porträt schien zu leben... (S. 115.)

[112] Herr Stepark ging nun bis an das Ende des Ganges, ich folgte ihm auf dem Fuße und Hauptmann Haralan schritt hinter mir.

Einer der Leute war auf den Türstufen stehen geblieben.

Durch die offene Türe konnte man den ganzen Garten überblicken. Er war von Mauern eingeschlossen und mochte eine Oberfläche von zwei- bis dreitausend Quadratklaftern bedecken. Ein Rasenplatz, der seit langem mit keiner Sichel in Berührung gekommen war und dessen hohe Grashalme halb verwelkt auf der Erde lagen, nahm die Mitte des Gartens ein. Um[113] denselben lief ein vielfach gewundener Weg, der von einer dichten Hecke begrenzt wurde. Hinter der Hecke erhoben sich hohe Bäume, die längs der Mauern gepflanzt waren und deren Wipfel über die ehemaligen Festungsschanzen ragten. Alles zeugte von Fahrlässigkeit und Vernachlässigung.

Der Garten wurde durchsucht. Es war kein Mensch darin zu entdecken, obwohl die Alleen frische Fußspuren aufwiesen.

Die Fenster waren auf dieser Seite mit Laden verschlossen, mit Ausnahme des letzten im ersten Stocke, das der Stiege Licht gab.

»Es sieht aus, als ob die Leute bald zurückkommen würden, bemerkte der Polizeichef, da die Türe einfach zugezogen und nicht doppelt verschlossen war... wenn sie nicht am Ende Verdacht geschöpft und das Weite gesucht haben.

– Glauben Sie, daß sie unser Vorhaben erraten konnten?... entgegnete ich. Nein, ich mache mich früher auf ihre baldige Rückkehr gefaßt.«

Herr Stepark schüttelte sorgenvoll den Kopf.

»Allein der dem Schornstein entschwindende Rauch beweist, daß im Hause Feuer gemacht worden ist.

– Suchen wir das Feuer«, sagte der Polizeichef.

Wir hatten festgestellt, daß der Garten ebenso menschenleer war wie der Hof, deshalb ersuchte uns Herr Stepark, wieder ins Haus zu treten. Die Gartentüre wurde hinter uns versperrt.

In den Gang mündeten vier Türen. Die eine, neben dem Garten gelegene, führte in die Küche. Eine zweite war eigentlich nichts anderes als die Mündung des Stiegenhauses, das sich bis zum Dachboden erstreckte.

Die Haussuchung nahm in der Küche ihren Anfang. Einer der mitgenommenen Leute öffnete ein Fenster und stieß die Balken zurück, deren jeder ein rautenförmiges Guckloch aufwies, das aber nur ungenügendes Licht einfallen ließ.

Nichts konnte einfacher, rudimentärer sein als die Ausstattung dieser Küche. In einer Ecke stand ein eiserner Herd, dessen mächtiges Rohr in den geräumigen Kamin mündete, zu beiden Seiten desselben je ein Schrank, in der Mitte ein Tisch, zwei Strohsessel und zwei hölzerne Schemel; verschiedene Geräte waren an den Wänden befestigt und aus einer Ecke ertönte das regelmäßige Ticktack einer Wanduhr, deren Gewichte zeigten, daß sie am Vorabende aufgezogen worden war.[114]

Im Herde glühten noch einige Kohlenstücke; sie verursachten den außen sichtbaren Rauch.

»Das wäre die Küche, sagte ich; wo aber steckt der Koch?...

– Und dessen Herr, fügte Hauptmann Haralan hinzu.

– Setzen wir unsere Entdeckungsreise fort«, sagte Herr Stepark.

Die beiden anderen Räume des Erdgeschosses, deren Fenster auf den Hof hinaus gingen, wurden nun durchforscht Der eine, das Wohnzimmer, war mit Möbeln alter Arbeit ausgefüllt und mit stellenweise sehr abgenützten, altertümlichen Teppichen und Stickereien deutschen Ursprungs geschmückt. Auf dem Simse des mit einer mächtigen Feuerstelle ausgestatteten Kamins stand eine Stehuhr der Rokokozeit, die keinen geläuterten Geschmack verriet. Ihre Zeiger standen unbeweglich auf dem mit einer dichten Staubschicht belegten Zifferblatt und bewiesen, daß sie schon lange nicht benützt worden war. An der einen dem Fenster gegenüberliegenden Wand hing ein Porträt in einem ovalen Rahmen, der den Namen »Otto Storitz« aufwies.

Wir sahen uns diese Malerei an: die Zeichnung war sehr genau und kräftig ausgeführt, die Farben waren lebhaft; es war ein wirkliches Kunstwerk, das den Namen eines unbekannten Künstlers trug.

Hauptmann Haralan konnte seine Blicke nicht von diesem Bilde wenden.

Auch auf mich machte der Kopf des verstorbenen Otto Storitz einen tiefen Eindruck. War dies auf meine momentane Geistesverfassung zurückzuführen?... Oder stand ich unbewußt unter dem Banne dieses Hauses?.... Wie dem auch sei, hier, in diesem verlassenen Zimmer, erschien mir der Gelehrte als ein gespenstisches Wesen. Mit diesem mächtigen Haupte, dem struppigen Haare, der übergroßen Stirne, mit diesen feurigen Augen, diesen zornbebenden Lippen schien das Porträt zu leben; mir war, als mußte es aus dem Rahmen treten und mit grabeshohler Stimme sprechen:

»Was wollt ihr hier?... Wie könnt ihr euch unterfangen, meine Ruhe zu stören!«

Das Fenster dieses Zimmers war durch Jalousien verschlossen, die genügend Licht durchließen. Wir nahmen Abstand davon, es zu öffnen und gerade dieses verhältnismäßige Halbdunkel erhöhte die Wirksamkeit des Bildes und vertiefte den Eindruck in uns. Dem Polizeichef fiel die große Ähnlichkeit zwischen Otto und Wilhelm Storitz auf.[115]

»Den Altersunterschied abgerechnet, bemerkte er, könnte dies ebenso wohl das Bild des Sohnes als das des Vaters sein. Das sind dieselben Augen, die gleiche Stirne, der nämliche Kopf, der auf den breiten Schultern sitzt. Und dieser teuflische Ausdruck!... Man wäre geneigt, über den einen und den anderen eine Beschwörungsformel auszusprechen.

– Ja, gab ich zu, die Ähnlichkeit ist ganz erstaunlich.«

Hauptmann Haralan schien vor dem Bilde an den Boden fest gewachsen, als ob er das Original vor sich habe.

»Kommen Sie nicht, Hauptmann?« fragte ich.

Durch den Gang gelangten wir in den Nebenraum, in dem die größte Unordnung herrschte, in das Arbeitszimmer. Weiße, hölzerne Regale waren mit größtenteils ungebundenen Bänden angefüllt; es waren hauptsächlich Werke über Mathematik, Chemie und Physik. In einem Winkel lagen allerlei Instrumente, Apparate, Maschinen, Gefäße; ein tragbarer Ofen, Kolben und Retorten, verschiedene Metallproben, die ich, trotzdem ich Ingenieur bin, nicht alle erkannte. In der Mitte des Zimmers stand ein mit Papier und Schreibutensilien bedeckter Tisch, auf dem in drei oder vier Bänden die vollständigen Werke Otto Storitz standen. Ein dabei liegendes Manuskript, mit dem gleichen berühmten Namen gezeichnet, enthielt eine Abhandlung über das Licht. Alle Papiere, die Bände und das Manuskript wurden mit Beschlag belegt und versiegelt.

Die Untersuchung dieses Raumes hatte also kein uns befriedigendes Resultat ergeben. Wir wollten ihn eben verlassen, als Herr Stepark auf dem Kamin eine Glasphiole von eigentümlicher Form entdeckte.

Gehorchte er nur dem Instinkt des Polizeimannes oder einem Drange der Neugierde, als er die Hand danach ausstreckte, um sie näher zu betrachten? Jedenfalls mußte er dabei sehr ungeschickt verfahren sein, denn die Phiole, die am Rande des Kamins stand, fiel in dem Augenblicke, da er sie berühren wollte, auf die Steinplatten des Bodens und zerbrach.

Eine dünne Flüssigkeit von gelblicher Farbe war am Boden zu sehen. Sie mußte sehr flüchtigen Charakters sein, denn sie verwandelte sich fast augenblicklich in Dünste von eigentümlichem Geruche, die mit keinem der bekannten Gerüche zu vergleichen, aber sehr schwach waren, so daß der Geruchsinn sie kaum wahrnehmen konnte.[116]

»Wahrhaftig, meinte Herr Stepark, diese Phiole ist gerade im richtigen Augenblicke zu Boden gefallen.

– Gewiß enthielt sie irgend eine von Otto Storitz erfundene Mischung, sagte ich.

– Sein Sohn wird wohl das Rezept dazu haben und kann sie sich ja aufs neue bereiten«, antwortete Herr Stepark.

Darauf wandte er sich der Türe zu:

»Jetzt der erste Stock«, sagte er und befahl zweien seiner Leute, im Gange stehen zu bleiben.

Gegenüber der Küche lag das Stiegenhaus; die Treppe war mit einer Holzrampe versehen und die Stufen krachten unter den Schritten.

Zwei aneinander stoßende Zimmer öffneten sich auf den Flur des ersten Stockes; sie waren unversperrt und die Türen gaben einem leichten Druck auf die Klinke nach.

Das erste, oberhalb des Wohnzimmers gelegene, mußte Wilhelm Storitz Schlafzimmer sein. Es enthielt nur ein eisernes Bett, einen Tisch, einen Wäscheschrank aus Eichenholz, einen auf kupfernen Füßen ruhenden Waschtisch, einen Diwan, einen mit grobem Samt überzogenen Lehnstuhl und zwei Sessel. Es gab weder Vorhänge um das Bett, noch an den Fenstern, nur das Notwendigste war vorhanden. Weder auf dem Kamin, noch auf dem kleinen, runden Tisch in der Ecke war ein Papier zu erblicken. Die Decke war noch zurückgeschlagen zu dieser Stunde; ob das Bett während der Nacht benützt worden war, konnten wir nicht beurteilen.

Aber als sich Herr Stepark dem Waschtische näherte, bemerkte er, daß auf der Oberfläche des Wassers in der Waschschüssel einige Seifenblasen schwammen.

»Wenn dieses Wasser vor mehr als vierundzwanzig Stunden benützt worden wäre, sagte er, so würden die Seifenblasen verschwunden sein. Ich schließe daraus, daß unser Mann sich heute hier, vor dem Ausgehen, gewaschen hat.

– Darum ist es auch möglich, daß er zurückkommt, bemerkte ich, außer Ihre Leute schrecken ihn ab.

– Wenn er meine Leute erblickt, haben auch sie ihn schon gesehen und ich habe Befehl gegeben, ihn sofort zu mir zu führen. Aber ich glaube nicht, daß er sich gefangen nehmen lassen wird.«[117]

In diesem Augenblicke wurde ein Lärm hörbar, wie das Knarren eines schlecht gelegten Parkettbodens, über den man hinwegschreitet. Das Geräusch schien aus dem Nebengemache zu kommen, das oberhalb des Arbeitszimmers gelegen war.

Es gab eine Verbindungstür zwischen dem Schlafzimmer und diesem Raum, so daß man nicht erst den Gang zu passieren brauchte, um hinein zu gelangen.

Ehe noch der Polizeichef eine Bewegung gemacht hatte, war Hauptmann Haralan mit einem Sprunge bei der Türe und riß sie auf....

Wir hatten uns geirrt, das Zimmer war leer.

Es war ja auch möglich, daß der Lärm vom oberen Stockwerke, nämlich vom Dachboden, gekommen war, durch den man auf die Aussichtswarte gelangt.

Dieses Zimmer war noch weit armseliger möbliert als das vorhergehende; es enthielt ein mit starken Leinwandgurten bespanntes Bettgestell, mit einer durch den Gebrauch sehr eingedrückten Matratze, dicken, rauhen Bettüchern und einer Wolldecke, und zwei nicht zueinander passende Stühle; ein Wasserkrug und ein Waschbecken aus Steingut standen auf dem Kamin, in dem auch nicht ein Aschenstäubchen lag; einige Kleidungsstücke aus dickem Stoff waren mittels Haken an einem Ständer aufgehängt; eine Truhe, besser gesagt, ein Koffer aus Eichenholz, diente gleichzeitig als Schrank und Kommode; Herr Stepark fand darin Wäsche.

Dieses Zimmer gehörte unzweifelhaft dem alten Diener. Außerdem wußte der Polizeichef durch die Berichte seiner Agenten, daß das Fenster des ersten Schlafzimmers manchmal zwecks der Lüftung geöffnet wurde, dieses aber, das auf den Hof hinaus ging, jahraus jahrein fest verschlossen blieb. Das ließ sich auch sehr leicht konstatieren, als man die Fensterriegel zu schieben versuchte, sie waren kaum zu bewegen und die Eisenteile der Jalousien waren ganz verrostet.

Jedenfalls war auch dieses Zimmer leer, wahrscheinlich war das gleiche Resultat auf dem Dachboden, im Aussichtstürmchen und im Keller zu erwarten, was entschieden nichts anderes bedeuten konnte, als daß Herr und Diener das Haus verlassen und vielleicht nicht die Absicht hatten, sobald wieder zu kommen.

»Sie nehmen nicht an, fragte ich Herrn Stepark, daß Wilhelm Storitz von dieser Haussuchung erfahren haben könnte?[118]

– Nein, Herr Vidal, wenn er nicht vielleicht in meinem Arbeitszimmer oder in der Wohnung Seiner Exzellenz versteckt war, während wir darüber verhandelten.

– Es wäre möglich, daß er uns gesehen hat, als wir den Tököly-Wall betraten!

– Möglich, aber wie hätten sie sich dann entfernen können?

– Sie konnten durch den Garten in die Felder fliehen.

– Dazu wäre ihnen zu wenig Zeit zur Verfügung gestanden; sie hätten die Mauer übersteigen müssen, die sehr hoch ist und auf der anderen Seite derselben befindet sich der Stadtgraben, den man nicht passieren kann.«

Der Polizeichef war demnach überzeugt, daß Wilhelm Storitz und Hermann das Haus schon geräumt hatten, ehe wir ankamen.

Wir verließen dieses Zimmer durch die Gangtüre. Eben hatten wir den Fuß auf die erste Stufe gesetzt, um uns in das zweite Stockwerk zu begeben, als plötzlich auf der das Erdgeschoß mit dem ersten Stockwerke verbindenden Treppe ein lautes Krachen vernehmbar wurde; es war, als ob jemand mit raschen Schritten hinauf oder hinunter gegangen wäre. Fast gleichzeitig hörten wir einen Fall, der von einem Schmerzensschrei gefolgt war.

Wie wir uns über die Rampe beugten, erhob sich eben einer der Leute, welche den unteren Gang zu bewachen hatten, schwerfällig vom Boden und hielt sich den Rücken.

»Was gibt es, Ludwig?« fragte Herr Stepark.

Der Mann erklärte, er sei auf der zweiten Treppenstufe gestanden, als seine Aufmerksamkeit durch das Krachen angezogen worden sei, das auch wir gehört hatten. Als er sich rasch umgewandt habe, um der Ursache nachzuforschen, schien er schlecht seiner Bewegungen geachtet zu haben, denn beide Füße glitten gleichzeitig aus und er war nach rückwärts gestürzt, zum größten Schaden seines Rückens. Der Mann konnte sich nicht erklären, wie er zu Fall gekommen war. Er hätte schwören können, jemand habe ihm die Füße gestoßen oder weggezogen und ihm so das Gleichgewicht verlieren lassen. Aber das war nicht anzunehmen, nachdem er sich allein im Erdgeschoß befand; sein Kollege bewachte die auf den Hof führende Haupttüre..

»Hm!« machte Herr Stepark mit sehr besorgter Miene. In einer Minute hatte er das zweite Stockwerk erreicht.


Er hätte schwören können, jemand habe ihm die Füße weggezogen. (S. 119.)
Er hätte schwören können, jemand habe ihm die Füße weggezogen. (S. 119.)

[119] Es bestand nur aus dem Dachboden, der sich von einem Giebel bis zum anderen erstreckte und durch schmale Schiebefenster Licht empfing; ein einziger Blick genügte, um zu erkennen, daß hier sich niemand versteckt halten konnte.


Er wollte ihn zerreißen, aber Herr Stepark hielt ihn zurück. (S. 124.)
Er wollte ihn zerreißen, aber Herr Stepark hielt ihn zurück. (S. 124.)

Von der Mitte aus führte eine ziemlich steile Leiter auf die Aussichtswarte, welche den Dachfirst überragte und in dessen Inneres man durch eine Falltüre gelangte, die durch ein Gewicht in der Schwebe erhalten wurde.[120]

»Diese Falltüre steht offen, sagte ich zu Herrn Stepark, der bereits auf der ersten Sprosse stand.

– Jawohl, Herr Vidal, und sie läßt einen Luftstrom herein; – das war die Ursache des Krachens. Es herrscht heute ein starker Wind und dieser verursachte das Knarren der Wetterfahne auf der Dachspitze.

– Trotzdem schien es mir, sagte ich, als sei das Geräusch durch Schritte hervorgerufen worden.[121]

– Wer sollte denn hier herumgehen, nachdem außer uns kein Mensch im Hause weilt?

– Vielleicht hier oben, Herr Stepark?...

– In dieser lustigen Nische?...«

Hauptmann Haralan hörte Rede und Gegenrede ruhig an. Dann zeigte er auf die Aussichtswarte und sagte kurz:

»Gehen wir hinauf!«

Herr Stepark klomm als erster die Leiter hinan und hielt sich dabei an dem dicken Strick fest, der von der Öffnung bis zum Boden hinabreichte.

Hauptmann Haralan, als zweiter, und ich folgten ihm. Wahrscheinlich waren wir drei Personen genügend, den kleinen Raum zu füllen.

Er war wirklich nur eine Art quadratischer Käfig von acht Fuß Länge und zehn Fuß Höhe.

Drinnen herrschte ziemliche Finsternis, obwohl zwischen die in die Dachbalken fest eingefügten Pfeiler Glasscheiben eingelassen waren.

Die Finsternis hatte ihren Grund darin, daß – wie wir schon von außen bemerkt hatten – dichte Wollvorhänge herabgelassen waren. Als wir dieselben aber aufgezogen hatten, strömte das Licht reichlich herein.

Durch die vier Fenster dieses Aufbaues konnte der Blick den ganzen Horizont von Ragz absuchen. Nichts hemmte die Aussicht, die schöner war als vom Aussichtsturm im Hause Roderich, aber doch derjenigen des Sankt Michaels-Turmes im Schlosse nachstehen mußte.

Ich sah wieder die Donau jenseits des Walles, die Stadt, die sich gegen Süden ausbreitete und vom Glockenturm des Rathauses, der Kirchturmspitze der Kathedrale, dem Kastell auf dem Wolkang-Hügel überragt wurde, und ringsherum lagen die von fernen Bergen umrahmten Weideflächen der Pußta.

Ich beeile mich, zu versichern, daß es sich mit dem Auslug verhielt, wie mit dem übrigen Hause. Er war leer. Es blieb Herrn Stepark nichts zu tun übrig, als sich in das Unvermeidliche zu fügen; diesmal war die Anstrengung der Polizei resultatlos geblieben und das Mysterium des Hauses Storitz hatte noch keine Erklärung gefunden.

Ich war der Meinung gewesen, das Aussichtstürmchen hätte astronomischen Zwecken gedient und würde Instrumente zu Himmelsbeobachtungen[122] enthalten. Es war ein Irrtum! Es befanden sich nur ein Tisch und ein hölzerner Lehnstuhl hier oben.

Auf dem Tische lagen Papiere, darunter auch eine Nummer jener Zeitung, die mir damals in Budapest in die Hände gefallen war und aus der ich von der in Spremberg zu veranstaltenden Gedächtnisfeier erfahren hatte. Auch diese Papiere wurden konfisziert wie die übrigen.

Vermutlich ruhte sich Wilhelm Storitz hier aus, wenn er aus seinem Arbeitszimmer, besser gesagt, Laboratorium, kam. Jedenfalls hatte er den Artikel gelesen. denn er war – wahrscheinlich von seiner Hand – mit einem in roter Tinte gezeichneten Kreuz versehen.

Plötzlich hörte ich einen lauten Ausruf, einen Ausruf des Staunens und der Empörung.

Hauptmann Haralan hatte auf einem an der einen Wand angebrachten Brette eine Schachtel entdeckt, von deren Inhalt er sich überzeugen wollte....

Und was hatte er in dieser Schachtel gefunden?... Den Brautkranz, der während der Schreckensnacht aus dem Hause des Doktors entführt worden war....

Quelle:
Jules Verne: Wilhelm Storitzߣ Geheimnis. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCVIII, Wien, Pest, Leipzig 1911, S. 110-123.
Lizenz:

Buchempfehlung

Anonym

Tai I Gin Hua Dsung Dschi. Das Geheimnis der Goldenen Blüte

Tai I Gin Hua Dsung Dschi. Das Geheimnis der Goldenen Blüte

Das chinesische Lebensbuch über das Geheimnis der Goldenen Blüte wird seit dem achten Jahrhundert mündlich überliefert. Diese Ausgabe folgt der Übersetzung von Richard Wilhelm.

50 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon