X.

[123] Jeder Zweifel an der Täterschaft Wilhelm Storitz' war nun ausgeschlossen! Ein unanfechtbarer Beweis befand sich in unseren Händen und wir waren nicht mehr auf den bloßen Verdacht beschränkt. Ob er oder ein anderer der Schuldige war, es war erwiesen, daß der seltsame Raub zu seinem Nutzen ausgeführt worden, obwohl uns die Möglichkeit der Ausführung noch vollständig unklar war.

»Nun, zweifeln Sie immer noch, Vidal!« rief Hauptmann Haralan, dessen Stimme vor unterdrücktem Zorn erbebte.

Herr Stepark schwieg. Es gab noch zu viel des Unaufgeklärten in diesem seltsamen Fall! Wenn auch Wilhelm Storitz Schuld erwiesen war, so wußte man immer noch nicht, durch welche Mittel er gehandelt hatte und es war nicht unwahrscheinlich, daß man es niemals erfahren, daß es für immer Geheimnis bleiben würde.[123]

Auch ich antwortete nicht, obwohl mich Hauptmann Haralan direkt angesprochen hatte. Welche Antwort hätte ich ihm wohl geben können?...

»Dieser Elende, sagte er, hat uns insultiert, als er das ›Lied vom Hasse‹ gesungen hat, es war eine Beleidigung des ungarischen Patriotismus. Wir konnten ihn nicht sehen, aber wir haben ihn gehört!... Er war in unserer Mitte, wenn er auch unseren Blicken verborgen blieb!... Und von diesem Brautkranz, der durch die Berührung seiner Hand geschändet ist, soll nicht ein Blatt übrig bleiben!...«

Er wollte ihn zerreißen, aber Herr Stepark hielt ihn zurück.

»Sie dürfen nicht vergessen, daß dies ein Beweisstück ist, sagte er, das uns von großem Nutzen sein kann, wenn diese Entdeckung Folgen zeitigen wird, wie ich bestimmt glaube.«

Hauptmann Haralan überließ ihm den Kranz und wir gingen die Treppe hinab und suchten noch einmal vergeblich alle Räume des Hauses ab.

Die Hof- und Gittertüre wurden versperrt und versiegelt, darauf ließen wir das Haus in demselben Zustand der Verwahrlosung, in dem wir es gefunden. Trotzdem blieben auf Befehl ihres Chefs zwei Polizeileute zur Überwachung der Umgebung zurück.

Nachdem wir uns von Herrn Stepark verabschiedet hatten – wir mußten ihm versprechen, über diese Haussuchung Stillschweigen zu bewahren – kehrten wir, immer dem Walle folgend, in das Haus des Doktors zurück.

Mein Gefährte konnte sich nicht beruhigen und sein Zorn äußerte sich in abgebrochenen Reden und Bewegungen von größter Heftigkeit. Es wäre vergebliche Mühe gewesen, ihn besänftigen zu wollen. Ich hoffte im Stillen, daß Wilhelm Storitz die Stadt verlassen werde, sobald er erfahren, daß seine Wohnung durchsucht worden war und die Polizei den Beweis für die Rolle gefunden hatte, die er gespielt.

Ich begnügte mich zu sagen:

»Mein lieber Haralan, ich begreife Ihren gerechten Zorn, ich begreife vollkommen, daß Sie diese Beleidigungen nicht ungestraft lassen können. Aber vergessen Sie nicht das Versprechen des Schweigens, das wir Herrn Stepark gegeben.

– Und mein Vater?... Und Ihr Bruder?... Werden sie nicht das Ergebnis der Haussuchung erfahren wollen?[124]

– Wahrscheinlich; aber wir werden ihnen ganz einfach sagen, daß wir Wilhelm Storitz nicht gefunden haben und daß er überhaupt nicht mehr in Ragz sein dürfte, was meine Überzeugung ist.

– Sie werden nicht sagen, daß der Brautkranz bei ihm gefunden wurde?

– Doch, ich halte es für besser, daß sie es wissen; aber Ihre Mutter und Schwester brauchen nichts davon zu erfahren. Warum sollen wir ihre Sorgen noch vermehren? An Ihrer Stelle wurde ich sagen, daß der Kranz im Garten Ihres Hauses wiedergefunden worden sei und wurde ihn Ihrer Schwester zurückgeben.«

Trotz seines Widerstrebens mußte Hauptmann Haralan einsehen, daß ich recht hatte und wir beschlossen, daß ich Herrn Stepark aufsuchen und um den Kranz bitten sollte, der mir ja nicht verweigert werden konnte.

Ich sehnte mich schon darnach, meinen Bruder wiederzusehen und ihm alles mitzuteilen; mehr noch sehnte ich mich aber darnach, seine Vermählung vollzogen zu wissen.

Bei unserem Eintritt in das Haus führte uns der Diener in das Sprechzimmer des Doktors, wo dieser und Markus uns erwarteten. Ihre Ungeduld war aufs höchste gespannt und sie bestürmten uns mit Fragen, noch ehe wir die Schwelle überschritten hatten.

Ihr Erstaunen, ihre Entrüstung bei unserer Erzählung über die Vorfälle im Hause am Tököly-Wall war unbeschreiblich. Mein Bruder war gar nicht zu beruhigen. Wie Hauptmann Haralan wollte er Wilhelm Storitz züchtigen, ehe noch die Gerechtigkeit eingeschritten. Vergebens machte ich ihn darauf aufmerksam, daß der Feind Ragz gewiß schon verlassen habe.

»Wenn er nicht mehr in Ragz ist, rief er erregt, so kann er nur in Spremberg sein!«

Ich trachtete ihn zu beruhigen und der Doktor vereinte seine Bemühungen mit den meinigen.

»Mein lieber Markus, sagte er, hören Sie auf die Worte Ihres Bruders; rühren wir nicht mehr an dieser für unsere Familie so traurigen Angelegenheit; bewahren wir vollkommenes Stillschweigen darüber und bald wird alles vergessen sein.«

Mein Bruder hielt sich den Kopf mit beiden Händen; es tat mir wehe, ihn anzusehen. Was hätte ich nicht dafür gegeben, einige Tage älter[125] zu sein und Myra Roderich als Myra Vidal zu sehen. Der Doktor sagte noch, daß er den Gouverneur von Ragz aufsuchen wolle. Wilhelm Storitz war ein Ausländer und Seine Exzellenz würde nicht zögern, die Landesverweisung über ihn zu verhängen. Das Notwendigste war jetzt, zu verhindern, daß die traurigen Tatsachen, die sich im Hause Roderich abgespielt hatten, eine Wiederholung erführen, selbst wenn auf eine befriedigende Erklärung verzichtet werden mußte. Daß Wilhelm Storitz über übernatürliche Kräfte verfüge, wie er sich gerühmt hatte, vermochte niemand zu glauben.

Ich führte alle Gründe an, die uns geboten, Frau und Fräulein Roderich gegenüber vollkommenes Stillschweigen zu beobachten. Sie sollten weder erfahren, daß die Polizei in Anspruch genommen worden, noch daß der Täter entdeckt war.

Mein Vorschlag bezüglich des Brautkranzes wurde angenommen. Markus mußte ihn zufällig im Garten finden. Dadurch war bewiesen, daß alles Gaukelspiel eines schlechten Spaßmachers gewesen sei, welchen man bald auffinden und nach Verdienst empfindlich bestrafen würde.

Am selben Tage noch begab ich mich ins Rathaus zu Herrn Stepark, mit der Bitte um die Auslieferung des Brautkranzes. Er hatte nichts dagegen einzuwenden und ich nahm ihn mit mir.

Des Abends, als wir alle mit Frau Roderich und ihrer Tochter im Salon saßen, trat Markus herein, welcher sich einige Augenblicke entfernt hatte, und rief:

»Myra! Meine liebe Myra.... Sehen Sie nur, was ich Ihnen bringe....

– Mein Kranz!... rief sie und eilte meinem Bruder entgegen.

– Ja, antwortete Markus, dort... im Garten... habe ich ihn hinter einem Gebüsch gefunden, wohin er gefallen war.

– Aber wieso?... Wie ist das möglich?... fragte Frau Roderich.

– Wieso? antwortete der Doktor. Irgend ein Eindringling, der sich zwischen unsere Gäste geschlichen und einen unpassenden Scherz erlaubt hat. Denken wir nicht mehr an diesen leidigen Vorfall.

– Danke, danke, lieber Markus«, sagte Myra, indem eine Träne über ihre Wangen rollte.

Die folgenden Tage verliefen ohne weiteren Zwischenfall. Die Stadt hatte sich bald beruhigt. Von der Haussuchung am Tököly-Wall drang nichts[126] in die Öffentlichkeit und niemand erwähnte mehr den Namen Wilhelm Storitz. Jetzt blieb nichts anderes zu tun übrig, als geduldig – oder vielmehr ungeduldig – den Tag abzuwarten, an dem die Trauung Myra Roderichs mit Markus gefeiert werden sollte.

Ich verwendete jene Stunden, die mir mein Bruder freiließ, zu Spaziergängen in der Umgebung von Ragz. Manchmal begleitete mich Hauptmann Haralan. Dann war es eine Seltenheit, wenn wir nicht über den Tököly-Wall die Stadt verließen. Es war klar, daß das verdächtige Haus ihn mächtig anzog. Übrigens wurde dabei stets aufs neue bewiesen, daß es immer noch verlassen dastand und von zwei Männern bewacht wurde. Wenn Wilhelm Storitz aufgetaucht wäre, hätte seine Rückkehr augenblicklich bemerkt und gemeldet werden müssen und er wäre verhaftet worden.

Bald wurde uns auch ein Beweis seiner Abwesenheit und die Gewißheit, daß man ihm jetzt unmöglich in den Straßen von Ragz begegnen konnte.

Am 29. Mai wurde ich zu Herrn Stepark gerufen und erfuhr durch ihn, daß am 25. Mai in Spremberg der Todestag Otto Storitz' feierlich begangen worden war. Die Zeremonie hatte, wie es schien, eine gewaltige Menge Zuschauer herbeigelockt; nicht nur die Bevölkerung Sprembergs, sondern Tausende von Neugierigen aus den benachbarten Städten, sogar aus Berlin, waren erschienen. Der Kirchhof konnte die Menge der Eindringenden nicht fassen. Die Folge davon waren zahlreiche Unfälle; einige Personen erstickten im Gedränge und fanden am nächsten Morgen einen Platz in dem Kirchhofe, welchen sie am Tage vorher vergeblich angestrebt hatten.

Man hatte nicht vergessen, daß ein Sagenkreis das Leben und den Tod des Gelehrten umgab. All diese abergläubischen Leute warteten auf ein Wunder. Außergewöhnliche Dinge sollten an diesem Erinnerungstage vor sich gehen! Vielleicht würde der gelehrte Preuße aus seinem Grabe auferstehen und die Weltordnung mußte in diesem Augenblicke einen Umsturz erfahren. Die Erde änderte vielleicht ihre Achsenbewegung, würde sich von Osten nach Westen drehen und diese anormale Rotation mußte die entsetzlichsten Folgen nach sich ziehen, eventuell den Untergang des gesamten Sonnensystems!... etc. etc.

Derartige Gerüchte glaubte die Menge. Aber merkwürdigerweise war alles auf durchaus natürlichem Wege vor sich gegangen. Der Grabstein[127] hatte sich nicht von selbst emporgehoben; der Tote hatte nicht seine Ruhestätte verlassen und die Erde fuhr fort, sich nach jenen ewigen Gesetzen zu bewegen, die seit dem Weltanbeginn in Kraft stehen.

Was uns besonders interessierte, war der Umstand, daß Wilhelm Storitz persönlich der Feier beigewohnt hatte. Das war der untrügliche Beweis, daß er wirklich nicht mehr in Ragz weilte. Ich hoffte zuversichtlich, daß er die Stadt mit der bestimmten Absicht verlassen habe, nicht mehr zurückzukehren.

Natürlich beeilte ich mich, diese Botschaft Hauptmann Haralan und Markus zu überbringen.

Obwohl sich die Aufregung, die durch die ungewöhnlichen Ereignisse hervorgerufen worden war, besänftigt hatte, gab sich der Gouverneur von Ragz damit nicht zufrieden. Ob nun die unbegreiflichen Vorgänge, die niemand glaubwürdig zu erklären vermochte, einem meisterhaft ausgeführten Taschenspielerkunststück oder einer anderen Ursache zuzuschreiben waren, so hatten sie doch die Stadt aufgeregt und es mußten Vorkehrungen getroffen werden, eine Wiederholung zu verhindern.

Seine Exzellenz war sehr beunruhigt, als der Polizeichef die Stellung klar machte, die Wilhelm Storitz gegenüber der Familie Roderich einnahm und von dessen Drohungen gegen dieselbe berichtete.

Und als ihm auch das Ergebnis der Haussuchung mitgeteilt wurde, entschloß sich der Gouverneur, sehr energisch gegen diesen Fremden vorzugehen.

Es war ein Diebstahl begangen worden; entweder war Wilhelm Storitz selbst der Täter oder ein Mitschuldiger hatte für ihn die Tat ausgeführt. Wenn er Ragz nicht verlassen hätte, würde er jetzt arretiert worden sein und es war nicht anzunehmen, daß er aus den Mauern des Gefängnisses unsichtbar entweichen konnte, wie er unsichtbar in des Doktors Haus gedrungen war.


»Mein Kranz!...« rief sie und eilte meinem Bruder entgegen. (S. 126.)
»Mein Kranz!...« rief sie und eilte meinem Bruder entgegen. (S. 126.)

Aus diesem Anlaß entwickelte sich am 30. Mai folgendes Gespräch zwischen Seiner Exzellenz und Herrn Stepark.

»Haben Sie nichts Neues vernommen?

– Nein, Herr Gouverneur.

– Ist kein Grund zur Annahme vorhanden, daß Wilhelm Storitz die Absicht habe, nach Ragz zurückzukehren?[128]

– Nein.

– Ist sein Haus immer gut bewacht?

– Tag und Nacht.

– Ich mußte nach Budapest Bericht erstatten, sagte der Gouverneur, da die Angelegenheit mehr Lärm verursacht hat, als nötig war und ich bin beauftragt, Maßregeln zu ergreifen, der Sache ein Ende zu machen.

– Solange Wilhelm Storitz nicht in Ragz auftaucht, ist nichts von ihm zu befürchten, sagte der Polizeichef; und wir wissen aus sicherer Quelle, daß er am 25. Mai in Spremberg weilte.

– Trotzdem, Herr Stepark, kann er versuchen, hierher zurückzukehren, und das muß verhindert werden.

– Nichts leichter als das, Herr Gouverneur. Nachdem es sich um einen Ausländer handelt, genügt ein Ausweisungsdekret...

– Ein Dekret, unterbrach ihn der Gouverneur, das ihm nicht nur den Aufenthalt in Ragz, sondern in ganz Österreich-Ungarn verbietet.

– Sobald ich dieses Dekret in Händen halte, Herr Gouverneur, antwortete der Polizeichef, werden alle Grenzposten sofort verständigt werden.«

Das Dekret wurde sofort unterzeichnet und Wilhelm Storitz war ein landesverwiesener Mann.

Diese Maßnahmen trugen sehr zur Beruhigung Dr. Roderichs, seiner Familie und Freunde, bei. Aber wie weit entfernt waren wir noch, das Geheimnisvolle der Sache zu begreifen; noch viel weniger aber hätten wir die Wendungen ahnen können, die uns das Schicksal noch vorenthielt.

Quelle:
Jules Verne: Wilhelm Storitzߣ Geheimnis. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCVIII, Wien, Pest, Leipzig 1911, S. 123-129,131.
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