Achtes Kapitel.

Das Pfingstfest.

[110] Ermüdet von dem anstrengenden Ausfluge, schliefen die Passagiere der »Seamew« die nächste Nacht sehr lange. Als die ersten von ihnen, am 20. Mai früh neun Uhr, das Spardeck betraten, waren sie von Fayal schon weit weg.[110]

Von Horta halb acht Uhr abgedampft, folgte die »Seamew«, um nun Terceira anzulaufen, einem vielgewundnen Wege, damit die Touristen wenigstens einen flüchtigen Blick auf die Inseln werfen könnten, die nicht betreten werden sollten.

Als Roger, der die beiden amerikanischen Damen begleitete, das Spardeck betrat, befand sich das Schiff, das längs der Südküste von Pico hinfuhr, fast dessen Berg gegenüber, der in Gestalt einer Treppe von immer niedrigern Höhen ins Meer abfällt. Gleichzeitig war Lagens, die Hauptstadt der Insel, sichtbar, hinter ihr emporragend ein imposantes Kloster der Franziskaner, und in der Umgebung bemerkte man verstreut liegende Hütten, deren konische, aus miteinander verflochtnem Schilf hergestellte Dächer den Eindruck von Felsstücken machten.

Die Küste erscheint überall rauh und ernst, weiter drin aber wird das Land allmählich freundlicher. Die Höhen, die den mittlern Grat der Insel bilden, senken sich in sanfter Neigung hernieder und sind mit üppigen Weiden bedeckt.

Halb elf Uhr glitt der Dampfer an dem Flecken Calhea vorüber. Eine halbe Stunde später war die Ostspitze von Pico umschifft, und die Insel San Jorge tauchte gerade in der Minute auf, wo die Glocke zum Frühstück rief.

Den ganzen Morgen war Morgan in seiner Kabine eingeschlossen geblieben. Roger erwähnte seine Abwesenheit gegenüber der Mistreß Lindsay.

»Der studiert jetzt Terceira, sagte er lachend. Ja, es ist ein merkwürdiger Cicerone, den wir da haben.«

Auf einen fragenden Blick der Frau Alice hin, drückte er sich deutlicher aus. Seine Bemerkung enthielt keineswegs eine verdeckte, verletzende Spitze; im Gegenteil. Außer, daß das elegante, weltmännische Auftreten des Herrn Morgan recht auffallend mit seiner so bescheidnen Stellung kontrastierte, war er auch – das glaubte Roger sicher erkannt zu haben – völlig ununterrichtet von allem und unerfahren in allem, was zu seinem scheinbaren Berufe gehörte. Dieses Urteil stimmte übrigens in allen Stücken mit dem überein, das Alice schon früher über den Dolmetscher der »Seamew« ausgesprochen hatte.

»Überdies, schloß Roger, erinnere ich mich bestimmt, mit ihm irgendwo schon einmal zusammengetroffen zu sein. Ja, ich weiß nur nicht, wann und wo; doch das wird mir schon wieder einfallen, und dann gleichzeitig klar werden, warum dieser junge Welt-und Lebemann sich hier in die Haut eines Professors gesteckt hat.«[111]

Was sie hier eben gehört hatte, erregte lebhaft das Interesse Alice Lindsays, und als Robert Morgan nach dem Frühstück auf das Deck kam, sprach sie ihn an mit dem Vorsatze, den jungen Mann mit ihren Fragen aufs Eis zu führen.

Die »Seamew« fuhr jetzt zwischen Pico und San Jorge hin. Sie lag dabei immer in der Nähe dieser Insel, einer Art dreißig Meilen langen und nur fünf Meilen breiten Deiches oder Dammes, den eine Laune der Natur hier aufgeschüttet zu haben scheint.

»Welche Stadt ist das?« fragte Alice den Dolmetscher, als die »Seamew« nahe an einer Menge hintereinander aufragender Häuser vorüberkam.

Morgan aber hatte seinen Azoren-Baedeker gründlich durchstudiert.

»Urzelina, antwortete er ohne Zögern. Hier war im Jahre achtzehnhundertacht die Stätte des letzten und furchtbarsten Vulkanausbruches, der diese Gegenden verwüstet hat und die Bewohner Picos und die von Fayal in Todesschrecken setzte. Damals hatten sich fünfzehn Krater, darunter ein besonders großer, gebildet, die fünfundzwanzig Tage lang Flammen und Lava spien. Die Stadt wäre unfehlbar zerstört worden, wenn sich der Lavastrom nicht wie durch ein Wunder von ihr abgewendet und dem Meere zugekehrt hätte.

– Nun, und dann?«

Es war Johnson, der diese Frage stellte. Man möchte glauben, daß die Erwähnung der vulkanischen Erscheinungen ihn wie durch unbekannte Wahlverwandtschaft herbeigelockt hatte, denn er war gerade in dem Augenblicke herangetreten, wo er noch den Anfang der Erklärungen Morgans mit anhören konnte. Sofort hatte er seine Promenade unterbrochen, um aufmerksam zu lauschen. Morgan wendete sich ihm zu.

»Dann, sagte er, ist kein eigentlicher Ausbruch mehr vorgekommen, es ist aber nur einige Jahre her, daß die Insel wieder mehr oder weniger erschüttert wurde. San Jorge ist übrigens neuern Ursprungs als die andern Azoren, und es ist, nebst dem westlichen Teile von San Miguel, derartigen Naturereignissen am meisten ausgesetzt.

All right!« sagte Johnson völlig befriedigt, indem er seinen Marsch ohne weitre Förmlichkeit wieder aufnahm.

Warum war er denn jetzt zufrieden? Weil Robert Morgans Antwort seinen Beschluß, das Land hier nirgends zu betreten, weiter bestätigte. Der originelle Kauz schien sich dazu besonders Glück zu wünschen. Das auf das[112] Schiff beschränkte Leben mochte seinem Geschmacke vollkommen entsprechen, und seit der Abfahrt hatte er in seinen Gewohnheiten auch nichts geändert. Am Morgen, am Mittag und am Abend sah man ihn je fünf Minuten lang auf dem Deck von einem Ende zum andern spazieren, wobei er sich, wenn nötig, mit dem Ellbogen Bahn brach, sich drängte, rauchte, ausspuckte und unverständliche Worte murmelte; dann hörte man nichts mehr von ihm. Was die Beschäftigung betraf, die den übrigen Teil seiner Zeit ausfüllte, so konnte man die leicht genug erraten: seine Gesichtsfarbe leuchtete zu Mittag röter als am Morgen, des Abends noch röter als zu Mittag, und da sie Tag für Tag noch um eine Nuance zunahm, konnte man sich über die Ursache dieses Intensitätswechsels in Rot ja kaum täuschen.

Nachmittag zwei Uhr umschiffte die »Seamew« die Rosales-Spitze, in die San Jorge nach Nordwesten hin ausläuft, und näherte sich nun im Nordwesten schnell der Insel Graciosa. Die Passagiere konnten dabei die nördliche Küste von San Jorge sehen, die von einer nackten, sechshundert Meter hohen Felswand gebildet wird, während gleichzeitig der bescheidnere Gipfel von Graciosa auftauchte. Gegen vier Uhr lag die »Seamew« kaum noch drei Seemeilen von dieser Insel entfernt, die sich durch ihre weichern Formen von den andern Ländern der Gruppe so auffallend unterscheidet, als das Schiff auf ein Signal des Kapitäns Pip wendete und schnell auf Terceira zusteuerte, dessen hohe Ufer schon in der Entfernung von fünfundzwanzig Seemeilen am Horizonte sichtbar wurden.

In diesem Augenblicke erschien Piperboom auf dem Deck und ihm folgte der vor Erregung erhitzte Thompson. Der winkte Morgan herbei, welcher den Kreis einiger Zuhörer seiner orientierenden Mitteilungen sofort verließ und auf den General-Unternehmer zukam.

»Ist es denn auf keine Weise möglich, Herr Professor, sagte dieser, auf den wohlbeleibten und wie gewöhnlich in eine Rauchwolke eingehüllten Holländer hinweisend, sich mit dieser Dampf-Pachyderme zu verständigen?«

Morgan deutete durch eine Geste an, daß daran nicht zu denken sei.

»Das ist recht ärgerlich! rief Thompson. Können Sie sich vorstellen, daß der edle Herr es unbedingt ablehnt, für die Nebenspesen, die er verursacht hat, aufzukommen?

– Für welche Nebenspesen? fragte Morgan.

– Welche Nebenspesen? – Nun, für ein getötetes Maultier, und dann für die Benützung vier andrer und der dazugehörigen Treiber.[113]

– Und dessen weigert er sich?

– Mit Händen und Beinen! Ich habe mir die erdenklichste Mühe gegeben, ihm den Sachverhalt mit Worten und mit Gesten zu erklären. Da könnte man aber ebensogut auf einen Kieselstein losreden. Da, sehen Sie nur: als ob ihn die Sache gar nichts anginge.«

Piperboom lag in der Tat höchst behaglich auf einem Schaukelstuhle ausgestreckt und schien sich in die weichen Wolken eines Traumes versenkt zu haben. Die Augen gen Himmel gerichtet, sog er an seiner Pfeife mit der Regelmäßigkeit eines Dampfmaschinenkolbens und hatte offenbar die niedern Sorgen dieser Welt ganz von sich abgeschüttelt. Morgan verglich ironisch lächelnd die erregte Miene Thompsons mit dem friedlichen Antlitz seines Reisenden.

»Ja, Fortuna hat so ihre Launen!« sagte er mit einer unbestimmten Handbewegung, und Thompson mußte sich wohl oder übel mit dieser nichtssagenden Antwort begnügen.

Halb sieben Uhr war die »Seamew« nicht mehr weiter als drei Meilen von der Ostküste Terceiras entfernt. Der Gipfel ihres über tausend Meter hohen Kesselberges war schon deutlich sichtbar. Gegen Mittag erschien der Bergabhang ziemlich sanft und er reichte bis ans Meer heran, wo das Land in Gestalt einer Steilküste endete. Überall aber erkannte man die Zeichen unterirdischer Tätigkeit. Erstarrte Lavaströme stachen dunkel gegen das saftige Grün der Täler ab, und da und dort erhoben sich Aschen- und Bimssteinkegel, lockere Gebilde, die vom Regen und Winde langsam abgenagt werden.

Um sieben Uhr trat ein abschüssiges Vorgebirge, der Mont Brazil, ins Gesichtsfeld, der den Weg völlig abzusperren schien. Eine halbe Stunde später war aber dieses wilde Kap umschifft und die Stadt Angra tauchte vor den Passagieren auf. Vor acht Uhr bohrten sich die Anker in den Grund der Reede und der Kapitän konnte die Worte »Achtung!... Stopp!« dem Maschinenmeister Bishop zurufen, der dann sofort die Kesselfeuer dämpfte, ohne sie jedoch wirklich zu löschen.

Von dem besonders glücklichen Platze des Schiffes in der Mitte der Reede von Angra aus konnten die Passagiere der »Seamew« eines der schönsten Panoramen bewundern, mit denen Mutter Erde ihre Kinder erfreut hat. Hinter ihnen lag das weite Meer, nur unterbrochen von vier Eilanden, den Fadres und den Cabras; rechts und links düstre, drohende Steilküsten, die sich von beiden Seiten her senkten, als wollten sie ein weites, bequemes Lager bilden, auf[114] dem sich die Stadt Angra harmonisch ausdehnte. Im Norden und im Süden von ihren Forts begrenzt, erhob sie im Scheine des hinsterbenden Tages in Form eines Amphitheaters ihre weißen Häuser, Glockentürme und Kuppeln. Weiter draußen stiegen – im Rahmen des schönen Bildes – mit Quintos, Orangenwäldern und Weingärten geschmückte Hügel in sanfter Steigung empor bis zu der grünen, fruchtbaren Feldmark, die die äußersten Gipfel krönte. Die Luft war mild, das Wetter prächtig und eine duftgeschwängerte Brise wehte vom nahen Lande her. An die Reling des Spardecks gelehnt, bewunderten die Passagiere dieses Rundgemälde, das nur seiner geringen Ausdehnung wegen dem von der Bai von Neapel gebotenen etwas nachsteht, bis alles im zunehmenden Dunkel des Abends verschwand. Unempfänglich für die Reize dieses Gestades, wollte sich der Kapitän Pip in seine Kabine zurückziehen, als ein Matrose ihm einen eben an Bord gekommenen Fremden zuführte.

»Herr Kapitän, begann der Mann, als ich von Ihrem Eintreffen auf der Reede von Angra hörte, kam mir der Gedanke, mich Ihren Passagieren anzuschließen, wenn es überhaupt...

– Das sind Fragen, die mich nichts angehen, mein Herr, unterbrach ihn der Kapitän. Bistow, setzte er an den Matrosen gewendet hinzu, führt diesen Herrn zu unserm Herrn Thompson.«

Dieser besprach in seiner Kabine mit Robert Morgan eben das Programm für den nächsten Tag, als der Fremde hereingeführt wurde.

»Ganz zu Ihren Diensten, mein Herr, antwortete er auf die ersten Worte des neuen Ankömmlings. Die Zahl der Plätze, über die wir verfügen, ist zwar beschränkt, es wird jedoch noch möglich sein... Sie kennen, vermute ich, schon die Reisebedingungen?

– Nein, mein Herr,« erwiderte der Fremde.

Thompson sann einen Augenblick nach. Erschien es nicht recht und billig, den ursprünglichen Preis um eine gewisse, dem schon zurückgelegten Teil der Reise entsprechende Summe zu vermindern?... Er glaubte das, jedenfalls nicht, denn er sagte schließlich, wenn auch etwas zögernd:

»Der Preis, mein Herr, ist bisher vierzig Pfund gewesen...

– Schön, schön, sagte der Fremdling. Da wir unser drei sind...

– Ah, Sie sind drei Personen?...

– Jawohl, meine zwei Brüder und ich. Das macht also im ganzen hundertzwanzig Pfund. Hier... bitte...«[115]

Damit entnahm er einem Taschenbuche ein Bündel Banknoten und zählte sie auf dem Tische auf.

»O, das hatte ja keine solche Eile, bemerkte Thompson sehr höflich, der die Scheine, nachdem er sie nachgezählt hatte, einstrich und sich anschickte, darüber eine Quittung auszustellen.

– Erhalten von Herrn...? fragte er, die Feder etwas aufhebend.

– Don Hygino Rodrigues da Veiga,« antwortete der Fremde, während Thompson seine Feder wieder in Bewegung setzte.

Inzwischen beobachtete Morgan schweigend den neuesten Touristen, der ihm trotz seines vornehmen Auftretens, wie man sagt, nicht recht passen wollte. Groß, mit mächtigen Schultern, schwarzem Bart, ebenso schwarzen Haaren und tiefgebräunter Haut, konnte man sich über seine Nationalität gar nicht täuschen: er war Portugiese. Diese Annahme wurde noch weiter bestätigt durch den fremdländischen Akzent, womit er englisch sprach.

Als Don Hygino seine Quittung aus den Händen Thompsons in Empfang genommen hatte, faltete er sie sauber zusammen und steckte sie an Stelle der Banknoten in das Taschenbuch; darauf blieb er aber schweigend, wie unentschlossen, noch einen Augenblick stehen. Er wollte ohne Zweifel noch etwas, und nach dem ernsten Gesichtsausdruck des neuen Passagiers zu urteilen, jedenfalls etwas Wichtiges sagen.

»Noch ein Wort, begann er endlich. Würden Sie mir gefälligst mitteilen, Herr... Herr... (der Agent nannte seinen Namen) Thompson, wann Sie Terceira zu verlassen gedenken?

– Schon morgen, antwortete Thompson.

– Doch.. zu... zu welcher Stunde?«

Don Hygino stieß diese Frage mit etwas nervöser Stimme hervor; offenbar legte er der erwarteten Antwort eine besondre Bedeutung bei.

»Morgen Abend gegen zehn Uhr,« erklärte Thompson.

Don Hygino seufzte sichtlich befriedigt auf, und auf der Stelle verlor er auch die bisher bewahrte stolze und steife Haltung.

»Da haben Sie also wahrscheinlich die Absicht, fuhr er weit vertraulicher fort, diesen Tag einem Besuche Angras zu widmen?

– Ja, das beabsichtigte ich.

– In diesem Fall könnte ich Ihnen einigermaßen behilflich sein. Ich kenne diese Stadt gründlich, da ich fast seit einem Monate darin gewohnt[116] habe, und ich stelle mich Ihnen zur Verfügung, meinen neuen Reisegenossen als kundiger Führer zu dienen.«

Thompson machte eine leichte Verbeugung.

»Ich nehme Ihr Anerbieten dankend an, erwiderte er, um so lieber, als Ihre Gefälligkeit unserm Herrn Professor Morgan, den ich Ihnen hier vorstelle, gestatten wird, sich einige Ruhe zu gönnen.«

Don Hygino und Robert Morgan wechselten einen kurzen Gruß aus.

»Ich werde also morgen früh acht Uhr am Kai sein, um mich gänzlich zur Verfügung zu stellen,« sagte noch der erstere, als er sich verabschiedete und wieder in sein Boot hinunterstieg.

Don Hygino Rodrigues da Veiga hatte sich zum Stelldichein pünktlich eingefunden. Als Thompson Sonntag den 21. Mai an der Spitze seiner Passagiere ans Land stieg, fand er ihn am Kai. Unter dem wachsamen Auge des General-Unternehmers setzte sich die Kolonne sofort in tadelloser Ordnung in Bewegung.

Don Hygino war dabei eine schätzbare Hilfe. Er lootste die Gesellschaft durch ganz Angra so sicher, wie es Morgan gar nicht möglich gewesen wäre. Dabei kam man durch die Straßen der Stadt, die zahlreicher und alle breiter, regelmäßiger und besser bebaut waren, als die von Horta; ebenso wurden die zu dieser Stunde von vielen Andächtigen besuchten Kirchen besichtigt.

Die ganze Zeit über heftete sich der Baronet an die Ferse des neuen Führers.

Seit seiner Einschiffung auf der »Seamew« hatte er sich eigentlich recht allein gehalten, wenn er zur Abwechslung auch einmal mit Saunders verkehrte. Das war aber keine ernsthaftere Verbindung, wenigstens keine, die seiner gesellschaftlichen Stellung angepaßt war. Bisher hatte er sich freilich damit begnügen müssen, denn in der Passagierliste fand sich kein Höherstehender verzeichnet, außer vielleicht Lady Heilbuth. Diese würdige Dame beschäftigte sich aber nur mit ihren Katzen und Hunden, die gleichsam ihre Familie bildeten... die nahmen allein ihr Herz und ihren Geist in Anspruch. Einmal eingeweiht in die Gewohnheiten Cäsars, Jobs, Alexanders, Blacks, Phanns, Punchs, Foolichs und der andern, spürte der Baronet kein Verlangen, sich nach dieser Seite noch weiter zu unterrichten, und vermied es nachher soviel wie möglich, mit der alten Dame – die ein respektloser Franzose kurzweg eine unerträgliche »Bartschererin« genannt hatte – wieder zusammenzutreffen.[117]

Alles in allem stand Sir Hamilton also allein da.

Als er heute aber die aristokratischen Silben hörte, die den Namen des neuen Passagiers bildeten, begriff er, daß der Himmel ihm einen wirklichen Edelmann beigesellt hatte, und er ließ sich deshalb von Thompson dem neuen Passagier sofort vorstellen, worauf der vornehme Engländer und der vornehme Portugiese einen höflichen Händedruck gewechselt hatten. Wie deutlich sah man da an dem Vertrauen und der Natürlichkeit, womit sie diese Begrüßung austauschten, daß die beiden Herren einander völlig erkannt und verstanden hatten.

Von diesem Augenblicke an ging der Baronet sozusagen vollständig in dem neuen Führer auf. Er hatte endlich eine verwandte Seele gefunden! Bei dem an Bord stattfindenden Frühstück, woran Don Hygino nun teilnahm, nahm er diesen gleich in Beschlag und drängte ihn auf einen Platz neben sich. Don Hygino ließ den Baronet mit vornehmem Gleichmut schalten und walten.

Die Tafel war vollzählig, wenn man von dem jungen Ehepaare absah, dessen Fernbleiben von den gemeinschaftlichen Mahlzeiten schon niemand mehr auffiel.

Gleich zu Anfang nahm Thompson das Wort.

»Ich glaube, sagte er, der Dolmetsch aller geehrten Anwesenden zu sein, wenn ich Don Hygino da Veiga den wärmsten Dank ausspreche für die Mühewaltung, die er diesen Morgen freiwillig auf sich genommen hat.«

Don Hygino markierte eine Geste höflicher Ablehnung.

»Ja, es ist so, es ist doch so! versicherte Thompson. Ohne Sie, Señor, hätten wir Angra weder so schnell noch so genußreich besichtigen können Ich frage mich nur, was wir nun beginnen sollen, auch den Nachmittag passend auszufüllen.

– Den heutigen Nachmittag? rief Don Hygino. Das hat doch gar keine Schwierigkeiten. Haben Sie denn nicht daran gedacht, daß heute Pfingsten gefeiert wird?

– Wie?... Pfingsten? wiederholte Thompson.

– Jawohl, Pfingsten, fuhr Don Hygino fort, eines der größten katholischen Feste, das hier mit besondrer Feierlichkeit begangen wird. Ich habe bereits dafür gesorgt, einen Platz für Sie freihalten zu lassen, von wo aus sie die glänzende Prozession sehen können, bei der ein Kruzifix mitgeführt wird, das ich Ihrer besondern Aufmerksamkeit empfehlen möchte.

– Was ist denn Besondres daran, an diesem Kruzifix, lieber Hygino? fragte der Baronet.[118]

– Vor allem seine Kostbarkeit, antwortete der Portugiese. Künstlerisches Interesse bietet es zwar nicht viel, dagegen beträgt der Wert der prächtigen Edelsteine, womit es buchstäblich überdeckt ist, angeblich mehr als zehntausend Milreis (6,000.000 Francs).«

Thompson war entzückt von seinem so unerwarteten neuen Gaste. Sir Hamilton spielte jetzt nur noch die Rolle des fünften Rades am Wagen.

Don Hygino hielt sein Versprechen nach allen Seiten.

Beim Verlassen der »Seamew« glaubte er aber noch eine Bemerkung machen zu müssen, bei der mehr als einer der weiblichen Passagiere etwas kopfscheu wurde.

»Verehrte Reisegenossen, sagte er, noch einen guten Rat, ehe wir in die Stadt gehen.

– Und der wäre...? fragte Thompson.

– Der Menschenmenge so viel wie möglich aus dem Wege zu gehen.

– Das wird nicht leicht sein, bemerkte Thompson, wobei er auf die überfüllten Straßen hinwies.

– Zugegeben, stimmte ihm Don Hygino bei. Tun Sie immerhin, was Sie können, eine unmittelbare Berührung mit den Einwohnern zu vermeiden.

– Warum aber diese auffällige Warnung? fragte Hamilton.

– Mein Gott, lieber Baronet, der Grund dafür läßt sich nicht gut angeben. Die Sache liegt nämlich so, daß... nun ja... daß die Bewohner dieser Insel sehr unreinliche Leute und infolgedessen vor allem zwei Krankheiten ausgesetzt sind, die das Gemeinschaftliche haben, daß sie mit unerträglichem Jucken einhergehen. Schon der Name der einen dieser Plagen ist häßlich genug, denn es handelt sich dabei um die – bitte um Verzeihung – um die widerliche... Krätze. Doch die andre erst...«

Don Hygino unterbrach seine Rede, als ob er keinen Ausdruck fände, dessen er sich hier bedienen könnte. Thompson aber, der vor keiner Schwierigkeit zurückschreckte, kam ihm zu Hilfe. Er nahm seine Zuflucht zur Pantomime, lüftete den Hut und kratzte sich, mit einem fragenden Blicke auf Don Hygino, tüchtig auf dem Kopfe.

»Ja ja, ganz richtig!« rief dieser lachend, während die Damen, die den Zwischenfall höchst »shocking« fanden, sich entsetzt umdrehten.

Unter der Führung Don Hyginos ging die Gesellschaft darauf durch Nebenstraßen und fast ganz verlassene Gäßchen, während sich die Volksmenge[119] in den Hauptstraßen angestaut hatte, durch die die Prozession kommen sollte. Einzelne Menschen zeigten sich jedoch auch in den kleinen Gassen, zerlumpte Gestalten von schmutzigem, düsterm Aussehen, die die Bemerkungen reichlich bestätigten, welche viele der Touristen über sie fallen ließen.

»Die reinen Straßenräuber! sagte Alice Lindsay.

– Ja... wahrhaftig! bestätigte Thompson. Wissen Sie vielleicht, was für Leute das sind? fragte er Don Hygino.

– Nicht mehr als Sie.

– Sollten das nicht etwa verkleidete Polizisten sein? meinte Thompson.

– Dann müßte man zugeben, daß die Verkleidung gelungen ist!« rief Dolly lustig.

Bald war man am Ziele. Die Kolonne lenkte auf einen großen Platz ein, wo es von Neugierigen unter brennender Sonne wimmelte. Dem vornehmen Portugiesen gelang es durch ein geschicktes Manöver die Reisegesellschaft nach einer kleinen Anhöhe am Fuße eines sehr umfänglichen Gebäudes zu geleiten. Einige Polizisten sperrten den Raum ab, der die Fremden von der Volksmenge trennte.

»Hier ist Ihr Platz, meine Damen und Herren, sagte Hygino. Durch meine Beziehungen zu dem Gouverneur von Terceira ist es mir gelungen, Ihnen diesen Raum vor seinem Palais reservieren zu lassen.«

Alle erschöpften sich in Danksagungen für diese liebenswürdige Vorsorge.

»Jetzt aber, fuhr Don Hygino fort, müssen Sie entschuldigen, wenn ich Sie verlasse. Vor der Abreise habe ich noch verschiedenes abzumachen; Sie brauchen mich ja auch weiter nicht. Beschützt von diesen zuverlässigen Polizisten, können Sie alles vorzüglich sehen, und ich denke, Sie werden einem unvergeßlichen Schauspiele beiwohnen.«

Gleich nach diesen Worten grüßte Don Hygino noch mit vornehmem Anstand und verlor sich schnell unter der Menge. Er fürchtete sich offenbar vor einer Ansteckung nicht. Die Touristen hatten ihn bald vergessen. Die Prozession erschien unter Entfaltung des glänzendsten kirchlichen Prunkes.

Am Ausgang der an dem Platze ausmündenden Straße sah man in dem Raume, den ein Polizeiaufgebot vor dem Zuge frei hielt, Banner aus Gold und Seide, auf den Schultern getragne Statuen, Oriflammen, Kronen und Baldachine, die sich in süßlichen Weihrauchwolken dahinbewegten. In der Sonne glänzten Uniformen mitten unter Gruppen weißgekleideter Mädchen.[120]

Dazu ertönten, unterstützt von einem Orchester von Blechinstrumenten, recht gute Stimmen, die das Gebet von zehntausend Erdenwesen gen Himmel trugen, während von allen Kirchen, den Ruhm des Höchsten verkündend, der Glocken metallner Ton herabdrang.

Plötzlich ergriff die Menge eine mächtige Bewegung. Einstimmig riefen alle:

»O Christo!... O Christo!«


Sich aneinander haltend... (S. 123.)
Sich aneinander haltend... (S. 123.)

Das Schauspiel hatte etwas Feierliches an sich. In violettem Ornate, das von seinem goldstrotzenden Baldachin scharf abstach, wurde der Bischof sichtbar. Er ging langsam, wobei er mit beiden Händen die verehrungswürdige, prachtvolle Monstranz in die Höhe hielt. Und vor ihm schimmerte ein Kruzifix, in dessen Edelsteinen sich die Sonnenstrahlen in unzähligen Blitzen brachen. Geblendet von dem Glanze, sank die Volksmenge davor andächtig in die Knie.

Da störte plötzlich eine ungewöhnliche Bewegung den Aufzug in unmittelbarer Nähe des Bischofs. Ohne zu wissen, worum es sich handelte, nur von lebhafter Neugier getrieben, sprang die Volksmenge wieder auf die Füße.

Übrigens sah man nichts. Selbst die Engländer, die einen so vorzüglichen Platz inne hatten, konnten nicht erkennen, was da vorging. Ein furchtbares Hin- und Herwogen, ein Wanken und Schwanken des Baldachins, wie das eines Schiffes, dann dessen Verschwinden samt dem prächtigen Kruzifixe in der Volksmenge, wie in einem Meere, darauf ein Schreien, mehr ein Geheul, das ganze Volk wie irrsinnig entfliehend, die Polizeimannschaft vergeblich bemüht, die Woge der Flüchtigen aufzuhalten, das war alles, was sie sahen, ohne sich die Veranlassung dazu erklären zu können.

In einem Augenblicke wurde die Kette der Polizisten, die sie beschützte, gesprengt, und nun selbst ein integrierender Teil des wahnwitzigen Haufens, wurden sie von dem furchtbaren Strome wie Strohhalme mit fortgerissen.

Sich aneinander haltend, war es Roger, Jack und Morgan wenigstens gelungen, Alice und Dolly vor dem Schlimmsten zu schützen. Ein einspringender Mauerwinkel diente ihnen als rettende Zufluchtsstätte.

Urplötzlich nahm das erstaunliche Schauspiel ein Ende. Fast ohne Übergang lag der Platz still und öde da.

Nahe an der Straßenmündung, an der Stelle, wo, wie in einen brausenden Wirbel, der Baldachin des Bischofs und das Kruzifix verschwunden waren, drängte sich noch ein Hause Menschen, darunter fast in der Mehrzahl die Polizisten, die vorher an der Spitze der Prozession marschiert und, wie das ja[123] gewöhnlich der Fall ist, hierher zu spät gekommen waren. Die Leute bückten und erhoben sich wieder und trugen die Opfer dieser unerklärlichen Panik in benachbarte Häuser.

»Jetzt scheint mir jede Gefahr vorüber zu sein, sagte Morgan nach einiger Zeit. Ich glaube, wir dürften wohl gut tun, unsre Reisegefährten zu suchen.

– Wo denn? ließ sich Jack vernehmen.

– Auf jeden Fall an Bord der »Seamew«. Was hier vorgefallen ist, geht ja uns nichts an, und meiner Ansicht nach werden wir, was auch kommen möge, unter dem Schutze der englischen Flagge am besten in Sicherheit sein.«

Die andern mußten die Richtigkeit dieser Bemerkung anerkennen. Alle fünf eilten also nach dem Kai und sofort auf das Schiff, wo sich die meisten der Passagiere schon befanden, und hier besprachen alle mit großer Lebhaftigkeit die Vorgänge bei dem merkwürdigen Abenteuer. Mehrere ergingen sich in bittern Klagen. Einzelne sprachen davon, vom portugiesischen Kabinett eine entsprechende Schadloshaltung zu verlangen, und daß zu diesen in erster Reihe Sir Hamilton gehörte, das versteht sich ja von selbst.

»Es ist eine Schande... eine wahre Schande! wetterte er in allen Tonarten. Ja freilich... Portugiesen! Wenn England mir glauben wollte, müßte es die Azoren ›zivilisieren‹, dann würden derartige Skandale aufhören!«

Saunders sagte zwar nichts, sein Gesichtsausdruck sprach aber beredt genug. Und wenn er Thompson jemals unangenehme Zwischenfälle gewünscht hätte, einen bessern als den eben erlebten hätte er sich nicht wünschen können, denn das war ein solcher »erster Sorte«. Aller Wahrscheinlichkeit nach würden von den Passagieren jetzt mindestens zehn ausbleiben, und das bedingte, nach einem solchen Erlebnis, die Sprengung der Karawane und eine klägliche Rückkehr nach England. Das Eintreffen der ersten Überlebenden tat der Befriedigung dieser scharmanten Natur noch keinen Abbruch; er hätte ja vernünftigerweise nicht annehmen können, daß die ganze Karawane bei dem unheilvollen Vorfalle zugrunde ging. Seine Stirn umdüsterte sich aber, als auch von einer Minute zur andern die letzten Passagiere an Bord eintrafen, was er diesen fast als einen recht schlechten Spaß anrechnete.

Beim Mittagsmahle zählte Thompson die Anwesenden und fand, daß von der ganzen Reisegesellschaft nur zwei fehlten. Fast sofort erschienen aber auch die beiden Nachzügler im Salon – natürlich war es das junge Ehepaar –[124] und da Saunders sich nun überzeugt hatte, daß sich alle Insassen der »Seamew« wieder eingefunden hatten, nahm er unverzüglich sein wenig Gutes versprechendes Doggengesicht wieder an. Die Neuvermählten machten auch heute auf die andern den gewohnten Eindruck, d. h. sie legten für die übrige Welt eine ebenso amüsante, wie für alle belustigende Teilnahmslosigkeit an den Tag. Offenbar ahnte weder der Mann noch die Frau das Geringste von den ernsten Ereignissen des heutigen Nachmittags. Seite an Seite geschmiegt, beschränkten sie sich wie immer nur auf einander, ein leises Zwiegespräch, das weniger mit dem Munde, als mit den Augen geführt wurde, und die allgemeine Unterhaltung berührte die beiden nicht im geringsten.

Einer, der sich vielleicht ebenso glücklich fühlte wie dieses zärtliche Pärchen, war der durstige Johnson. Heute hatte er sich besonders gehen lassen: noch einige Schlucke mehr, und er wäre völlig berauscht gewesen. Soweit sein Zustand ihm erlaubte, die hinüber und herüber fliegenden Bemerkungen zu verstehen, schätzte er sich glücklich wegen seiner halsstarrigen Weigerung, den Boden der Azoren auch nur mit einem Fuße zu betreten, und schwebte hocherfreut in dem schwankenden Himmel des Alkohols.

Tigg war die vierte vollkommen glückliche Person der zahlreichen Gesellschaft. Als er, wie alle übrigen, von der wütenden Menge mit fortgerissen worden war, hatten seine beiden Leibwächterinnen einen Augenblick der tödlichsten Angst ausgestanden. Welch bessere Gelegenheit, mit dem verhaßten Leben ein Ende zu machen, hätte sich dieser von Selbstmordgedanken und Sucht nach Originalität erfüllten Persönlichkeit darbieten können? Um den Preis einer wahrhaft heroischen Anstrengung war es Beß und Mary jedoch gelungen, Tigg zwischen einander zu halten und ihn mit einer Ergebenheit zu schützen, die ihre eckigen Glieder besonders erfolgreich machten. Tigg war also heil und gesund aus jenem Getümmel herausgekommen, von dem er meinte, daß seine Begleiterinnen dessen Bedeutung stark übertrieben.

Leider traf das nicht ebenso auf das unglückliche Schwesternpaar Beß und Mary zu. Geschlagen und gestoßen, am Körper mit vielen blauen Flecken bedeckt, hatten sie alle Ursache, das Pfingstfest auf Terceira niemals zu vergessen.

Obendrein mußte ihr Vater, der ehrenwerte Blockhead, wenn auch von einem ganz andern Pech betroffen, heut in seiner Kabine allein speisen. Verletzt war er ja nicht, schon von Beginn der Mahlzeit an hatte Thompson, weil[125] er bemerkte, daß sein Passagier mit beunruhigendem Jucken kämpfte, es für angezeigt gehalten, ihm – selbst wenn seine Vermutung falsch wäre – eine schützende Isolierung zu empfehlen. Blockhead hatte sich auch dieser Unannehmlichkeit mit vollendetem Anstande gefügt, wenn er es nicht gar als eine besondre Auszeichnung betrachtete, mit der das Schicksal ihn begnadigte.

»Ich glaube, ich habe mir eine der hierzulande vorherrschenden Krankheiten zugezogen, sagte er wichtigtuend zu seinen Töchtern, indem er sich tüchtig kratzte. Ja, ich bin wirklich der einzige, dem das... gelungen ist.«

Don Hygino erschien auf dem Dampfer erst, als Sandweach den Braten herumreichte. Er brachte jetzt seine Brüder mit.

Da Hygino die beiden ausdrücklich als solche bezeichnet hatte, konnte man ja nicht daran zweifeln, daß alle drei dieselben Eltern gehabt hätten. Erraten hätte diese nahe Blutsverwandtschaft freilich niemand, denn unähnlicher einander konnten die drei gar nicht sein. So ausgesprochen Don Hygino alle Merkmale einer höhern Rasse zeigte, so ordinär, fast gemein sahen seine Brüder aus. Der eine groß und stark, der andre untersetzt, dick und vierschrötig, wären sie, ihrer Erscheinung nach zu urteilen, in einer Ringkämpferbude gewiß nicht am unrechten Platze gewesen.

Ein sonderbarer Umstand war es ferner, daß beide vor kurzem verwundet zu sein schienen. Die linke Hand des Größern war mit Leinentüchern umhüllt, während sich eine tiefe Schramme, deren Ränder durch Heftpflasterstreifen aneinandergehalten wurden, über die rechte Wange des Kleinern hinzog.

»Erlauben Sie, mein Herr, sagte Don Hygino zu Thompson mit einem Hinweis auf seine Begleiter, um mit dem Größern zu beginnen, hier meine beiden Brüder, Don Jacobo, und hier Don Christopho.

– Ich heiße die Herren an Bord der »Seamew« willkommen, antwortete Thompson, sehe aber mit Bedauern, fuhr er fort, als Jacobo und Christopho sich gesetzt hatten, daß diese Herren sich verletzt haben...

– Ja, durch einen unglücklichen Fall in ein Treppenfenster beim Hin- und Herlaufen gelegentlich unsres Aufbruchs, unterbrach ihn Don Hygino.

– Ah, sagte Thompson, Sie kommen da einer Frage, die ich an Sie stellen wollte, zuvor, der Frage nämlich, ob den beiden Herren im Laufe des schrecklichen Getümmels heute Nachmittag so schlimm mitgespielt worden sei.«

Robert Morgan, der unwillkürlich Jacobo und Christopho im Auge hatte, glaubte diese etwas erzittern zu sehen. Er mußte sich aber doch wohl getäuscht haben,[126] denn die beiden Brüder wußten gar nichts von dem ihnen unbegreiflichen Vorgange, auf den Thompson angespielt hatte, und Don Hygino antwortete auf der Stelle mit dem Tone aufrichtigster Verwunderung:

»Von welchem Getümmel sprechen Sie denn? Sollte Ihnen etwas Unangenehmes zugestoßen sein?«

Die ganze Tafelrunde stieß einen lauten Ausruf aus. Wie: Die Herren da Veiga sollten von einem wilden Auflaufe nichts gehört haben, der in eine richtige Empörung auszuarten gedroht hatte?

»Mein Gott, das ist sehr einfach, erklärte Don Hygino. Den ganzen Tag sind wir nicht aus unserm Hause gekommen; außerdem übertreiben Sie wahrscheinlich, ohne es zu wollen, die Bedeutung der ganzen Geschichte.«

Das rief allgemeinen Widerspruch hervor, und Thompson berichtete nun Don Hygino ausführlicher, was am Nachmittage vorgefallen war. Der Portugiese schien davon außerordentlich überrascht zu sein.

»Ich kann mir gar nicht vorstellen, sagte er, wie die fromme Bevölkerung dieser Insel es gewagt haben soll, sich angesichts einer Prozession so zu benehmen. Überlassen wir es getrost der Zukunft, uns die Lösung dieses Rätsels zu bringen. Sie fahren ja doch wohl noch diesen Abend ab? setzte er an Thompson gewendet hinzu.

– Gewiß, heute Abend,« bestätigte dieser.

Kaum waren diese Worte gefallen, als die Fensterscheiben des Salons unter dem dumpfen Krachen eines fernen Kanonenschusses schwach erzitterten. Wenige mochten die Detonation, die hier wie ein verhallendes Echo klang, gehört, noch wenigere ihr eine besondre Bedeutung beigelegt haben.

»Fühlen Sie sich unwohl, lieber Freund? fragte Sir Hamilton, da er Don Hygino plötzlich erbleichen sah.

– Ein leichtes Fieber, das ich mir in Praya geholt habe. Diese Stadt ist, wie bekannt, sehr ungesund,« antwortete der Portugiese, dessen Gesicht schon wieder Farbe bekam.

Da hörte man vom Deck her die Stimme des Kapitäns Pip.

»Ans Ankerspill! Hurtig!«

Gleich darauf vernahm man das trockne und regelmäßige Geräusch des in eine Verzahnung einfallenden Sperrhakens.

Die Passagiere begaben sich nach dem Spardeck, um der Ankerlichtung beizuwohnen.[127]

Der Himmel hatte sich während der Mahlzeit bezogen. In der pechschwarzen Nacht sah man nichts als die Lichter Angras, von wo wirre Geräusche bis zum Schiffe herausdrangen.

Auf dem Vorderteile erschallte jetzt die Stimme Flyships:

»Fertig, Herr Kapitän!

– Fest dranhalten! Zur Abfahrt fertig machen!« antwortete dieser von der Kommandobrücke aus.

Auf diesen Befehl hin strömte der Dampf in die Zylinder, die Maschine wurde geprobt, die Schraube durchwühlte einige Sekunden das Wasser.

»Den Anker ganz aufwinden lassen, Flyship!« kommandierte der Kapitän.

Von neuem wurde das Einfallen des Sperrhakens hörbar und der Anker brach aus dem Grunde los, als eine laute Stimme durch die Nacht aus zwei Kabellängen Entfernung den Dampfer anrief.

Hier wurden die Vorbereitungen zum Abdampfen zunächst unbeirrt fortgesetzt.

Da trat aus dem Dunkel ein von zwei Rudern getriebnes Boot hervor und legte an der Schiffswand an.

»Ich möchte den Kapitän sprechen,« sagte portugiesisch einer der Insassen, den man bei der Finsternis nicht deutlich erkennen konnte.

Robert Morgan übersetzte seine Worte.

»Hier bin ich, sagte der Kapitän Pip, indem er von der Kommandobrücke herunterstieg und sich über das Spardeck hinauslehnte.

– Der Mann da unten, Herr Kapitän, übersetzte Morgan weiter, verlangt, daß ihm die Bordstreppe hinuntergelassen werde, um aufs Schiff kommen zu können.«

Dem Verlangen wurde entsprochen, und bald erschien auf dem Deck ein Mann, an dessen Uniform alle erkannten, daß sie ihn diesen Nachmittag schon einmal gesehen hatten, und zwar als einen ihrer schließlich nutzlosen Beschützer. Nach den Goldborten zu urteilen, die an seinem Ärmelausschlag glänzten, mußte es ein höherer Polizeibeamter sein. Zwischen ihm und dem Kapitän entwickelte sich dann unter Vermittlung Morgans folgendes Gespräch:

»Ich habe doch wohl die Ehre, den Kapitän der »Seamew« vor mir zu sehen?

– Ganz recht.

– Der gestern Abend hier eingetroffen ist.

– Ja, gestern Abend.[128]

– Mir scheint, Sie rüsten sich schon wieder zur Abfahrt?

– Wie Sie sagen.

– Sie haben also den Kanonenschuß wohl nicht gehört?«

Der Kapitän Pip wendete sich nach seinem Artimon um.

»Habt Ihr einen Kanonenschuß gehört Master? Ich begreife nur nicht inwiefern dieser Kanonenschuß uns etwas angehen soll, mein Herr?


»Ich habe die Ehre, werter Herr, mich Ihnen bestens zu empfehlen!« (S. 135.)
»Ich habe die Ehre, werter Herr, mich Ihnen bestens zu empfehlen!« (S. 135.)

– Der Kapitän fragt, übersetzte Morgan etwas frei, was jener Kanonenschuß mit unsrer Abfahrt zu tun haben soll.«[129]

Der Polizeiinspektor schien erstaunt.

»Ist Ihnen denn nicht bekannt, daß der Hafen geschlossen und Embargo auf alle auf der Reede ankernden Schiffe gelegt ist? Hier ist der Befehl des Gouverneurs, antwortete er, während er vor Morgans Augen ein Blatt Papier entfaltete.

– Na gut, erklärte philosophisch Kapitän Pip, wenn der Hafen geschlossen ist, dann fahren wir eben nicht ab. Lassen Sie die Kette schießen, Flyship! rief er nach dem Vorderteile hin.

– Halt, halt! Bitte um Verzeihung... nur einen Augenblick! meldete sich Thompson, wir können uns vielleicht verständigen. Herr Professor, wollen Sie den Herrn gefälligst fragen, warum der Hafen überhaupt geschlossen worden ist.«

Der Vertreter der hohen Obrigkeit gab Morgan aber keine Antwort. Er ließ ihn ohne weiteres stehen und trat plötzlich auf einen der Passagiere zu.

»Ah, ich täusche mich nicht! rief er. Don Hygino an Bord der »Seamew«?

– Wie Sie sehen, antwortete dieser ruhig.

– Sie wollen uns also verlassen?

– Oh, mit der Hoffnung, hierher zurückzukehren.«

Zwischen den beiden Portugiesen entwickelte sich ein lebhaftes Gespräch, dessen Hauptinhalt Don Hygino sogleich der Reisegesellschaft mitteilte.

Im Laufe des Getümmels am Nachmittage hatten Übeltäter die durch ihren Überfall der Prozession entstandne Verwirrung benutzt, sich des berühmten Kruzifixes zu bemächtigen. In einer entlegnen Gasse war nur das hölzerne Gestell, aber beraubt seiner auf sechs Millionen Francs geschätzten Edelsteine, wiedergefunden worden. Der Gouverneur hatte infolgedessen alle an der Insel liegenden Schiffe für so lange mit Beschlag belegen lassen, bis man der kirchenschänderischen Räuberbande habhaft geworden wäre.

»Und wie lange kann das dauern?« fragte Thompson.

Der Inspektor machte eine zweideutige Bewegung, die Thompson mit einem schiefen Gesicht beantwortete. Im ganzen hundertvier Personen ernähren zu müssen, das konnte schon eine mehrtägige Verzögerung recht kostspielig machen.

Auf sein Betreiben erhob Morgan gegen die Verordnung Einspruch... vergeblich: der amtliche Befehl des Gouverneurs lag nun einmal unzweideutig vor.

So wütend Thompson darüber auch war, Saunders war es noch viel mehr. Eine weitere Verletzung des Programmes... das brachte ihn außer sich.[130]

»Mit welchem Rechte wagt man es, uns hier zurückzuhalten? rief er mit Nachdruck. Unter der Flagge, die uns deckt, haben wir meiner Ansicht nach von den Portugiesen keine Befehle anzunehmen.

– Ganz meine Meinung, stimmte der Baronet ihm zu. Was zwingt uns übrigens, diesem Polizeibeamten zu gehorchen? Er wird sich doch nicht einbilden, allein ein Schiff mit sechsundsechzig Passagieren, außer den Offizieren und der Mannschaft, mit Gewalt aufhalten zu wollen?«

Thompson wies mit der Hand nach den Forts hin, deren düstre Massen in der Dunkelheit eben noch erkennbar waren, und diese stumme Antwort erschien dem Baronet sehr deutlich, denn er fand darauf keine Erwiderung. Doch da sollte ihm eine unerwartete Hilfe kommen.

»Sind es die Festungswerke, die Ihnen Respekt einflößen? flüsterte Don Hygino Thompson ins Ohr. Die sind nicht gefährlich. Pulver und Geschütze haben sie zwar, doch Geschosse... das ist ein ander Ding.

– Wie, sie hätten dort keine Kugeln? sagte Thompson ungläubig.

– Vielleicht haben sie noch einige, die taugen aber zu nichts, versicherte Don Hygino halblaut. Glauben Sie etwa, es paßte davon eine einzige in die Geschützrohre? Ich sage Ihnen, hier so wenig wie in den andern Forts der Inselgruppe!

– Sieh da, lieber Hygino, rief der Baronet verwundert, Sie als Portugiese nehmen bei dieser Sache unsre Partei!

– Augenblicklich bin ich nur ein Reisender, der es eilig hat,« antwortete Don Hygino trocken.

Thompson war unentschieden. Er zögerte noch. Ein solches Abenteuer zu wagen, war denn doch kein leichtes Ding. Anderseits war es höchst ärgerlich, die Reise zur allgemeinen Unzufriedenheit der Passagiere und zum großen Schaden der Agentur zu unterbrechen. Ein Knurren des cholerischen Saunders, ein höhnisches Lächeln Hamiltons und eine weitere beruhigende Versicherung Don Hyginos brachten ihn aber dahin, sich für das Wagestück zu entscheiden. Er rief nach dem Kapitän Pip.

»Kapitän, redete er diesen an, das Schiff soll, wie Sie wohl wissen, auf Befehl der portugiesischen Behörde hier zurückgehalten bleiben.«

Der Kapitän gab durch ein Kopfnicken zu erkennen, daß er das wüßte.

»Wenn ich, Thompson, von Ihnen nun verlangte, abzufahren, würden Sie das tun?[131]

– Das versteht sich. Augenblicklich, Herr Thompson.

– Es ist Ihnen aber doch wohl nicht unbekannt, daß Sie sich im Schußbereich der Forts von Angra befinden?«

Der Kapitän sah sich den Himmel an, dann das Meer, hierauf Don Hygino und schließlich rümpfte er die Nase als Ausdruck souveräner Verachtung. In Worten hätte das geheißen, daß er sich bei der finstern Nacht und dem ruhigen Meere so wenig wie ein Fisch um einen Apfel den Teufel um die Kugeln geschert hätte, die ihm portugiesische Kanoniere etwa nachsenden könnten.

»In diesem Falle, Herr Kapitän, fuhr Thompson fort, erteile ich Ihnen den Befehl, abzufahren.

– Wenn's so liegt, antwortete Pip mit größter Seelenruhe, könnten Sie da nicht den Mann hier für fünf Minuten in den Salon hinunterbugsieren? Er wird etwas hungrig sein.«

Dem so bestimmt ausgesprochenen Wunsche nachgebend, nötigte Thompson den Inspektor dringend, eine kleine Erfrischung anzunehmen.

Kaum war er mit dem Gaste verschwunden, da beorderte der Kapitän die Mannschaften schon an das Spill. Hier gebrauchte man die Vorsicht, den Sperrhaken festzulegen, um dessen verräterisches Einfallen in die Zähne des Getriebes zu verhindern. Nach wenigen Minuten war der Anker losgebrochen, aufgegattet und gekippt... alles ohne das geringste Geräusch. Die Mannschaft verrichtete mit Feuereifer ihre Arbeit.

Schon als der Anker vom Grunde frei war, begann das Schiff zu treiben. Seine im Verhältnis zu den Lichtern der Stadt veränderte Lage war bereits leicht bemerkbar, als der Inspektor in Begleitung Thompsons wieder auf dem Deck erschien.

»Herr Kommandant, was fällt Ihnen denn ein? rief er von hier aus dem Kapitän auf der Kommandobrücke zu.

– Was belieben Sie, mein Herr? fragte dieser höflich dagegen, während er sich über die Brüstung beugte.

– Der Herr Inspektor, sagte Morgan, glaubt, daß der Dampfer vor Anker triebe.

– So? Glaubt er das?« lautete die gemütliche Antwort.

Der Inspektor erwies sich jedoch der Lage gewachsen. Mit einem Blicke streifte er die schweigende Mannschaft und begriff sogleich, was hier vorging. Da zog er aus der Tasche eine lange Pfeife und entlockte dieser einen merkwürdig[132] schwirrenden Ton, der in der Stille der Nacht sehr weithin hörbar sein mußte. Bald zeigte es sich auch, daß es so war. Auf der Brustwehr der Forts bewegten sich Lichter hin und her.

Angra wird durch zwei Forts verteidigt, durch das »Morro do Brazil« im Süden und das Fort »San João Baptista« im Norden. Die »Seamew« wurde, den Bug voran, von der Strömung dem zweiten zugetrieben, als die Pfeife den Alarmruf gab.

»Herr, erklärte der Kapitän kaltblütig, noch ein zweiter Pfiff, und ich lasse Sie ohne Federlesen über Bord werfen.«

Der Inspektor erkannte an der drohenden Stimme, daß die Sache ernsthaft werden könnte, und als Morgan ihm Pips Worte übersetzt hatte, gab er klein bei.

Schon seit das Spill gedreht worden war, spie der Schornstein Rauch und sogar Flammen. Das paßte ganz vortrefflich für die Pläne des Kapitäns, der damit einen Vorrat an Dampf bekam, welchen er später vielleicht recht gut brauchen konnte. Schon zischte es aus den Sicherheitsventilen, obgleich sie etwas überlastet waren, während der Feuerschein über dem Schornstein allmählich abnahm. Bald war er auch ganz erloschen.

Denselben Augenblick krachten aber gleichzeitig zwei Kanonenschüsse, und zwei Projektile, die von den beiden Forts kamen, schlugen rikoschettierend je fünfhundert Meter von jeder Schiffsseite ein. Das war eine Warnung.

Bei diesem unerwarteten Zwischenfalle sah man Thompson erbleichen. Don Hygino mußte ja gefaselt haben.

»Stopp, Kapitän, stopp!« rief er mit erschreckter Stimme.

Es ist wohl nicht zu verwundern, daß sich mehr als ein Passagier diesem Verlangen anschloß. Immerhin gab es auch wenigstens einen, der ein wahrhaft heroisches Stillschweigen bewahrte, und das war der hochehrenwerte Gewürzkrämer. Er erschien ja aufgeregt... gewiß... er zitterte sogar, das muß man offen gestehen, um nichts in der Welt aber hätte er auf die Freude verzichtet, zum ersten Male in seinem Leben einer Bataille beizuwohnen. Man bedenke nur: etwas derartiges hatte er ja noch niemals gesehen!

Auch Roger de Sorgues hätte seinen Platz um keinen Preis verlassen. Durch eine wunderliche Ideenverbindung erinnerte ihn der Kanonendonner an das possenhafte Frühstück auf Fayal, und er amüsierte sich über die Sache vortrefflich.[133]

»Nun auch noch bombardiert! dachte er sich, die Seiten haltend. Mehr kann einer doch gar nicht verlangen!«

Bei Thompsons Anruf hatte sich der Kapitän halb umgedreht.

»Ich bedaure, Herr Thompson, Ihnen diesmal nicht gehorchen zu können, sagte er mit so herrischer Stimme, wie man sie von ihm gar nicht gewöhnt war. Nachdem ich auf Anordnung meines Reeders einmal abgefahren bin, bin ich allein der einzige Herr an Bord. Ich werde, wenn es Gott gefällt, das Schiff hinaus aufs hohe Meer führen. Beim Barte meiner Mutter: ein englischer Kapitän kennt kein Zurückweichen!«

In seinem Leben hatte der brave Seebär noch keine so lange Rede gehalten.

Seinen Anordnungen entsprechend, glitt der Dampfer mäßig schnell weiter. Überraschenderweise wendete er sich aber nicht dem Meere zu. Während er, dank seinen Lichtern, die der Kapitän zu aller Verwunderung nicht hatte abblenden lassen, ein deutliches und leicht zu treffendes Ziel bildete, fuhr er in gerader Linie auf das Fort San João Baptista zu.

Bald zeigte es sich jedoch, daß diese List ganz am Platze gewesen war. Durch den jetzt eingehaltenen Kurs getäuscht, stellten die Forts ihr Feuer ein.

»Ruder scharf nach Backbord!« kommandierte da der Kapitän.

Und die »Seamew« drehte sich, noch immer beleuchtet, unter Volldampf nach dem Meere zu.

Plötzlich krachten aber schnell nacheinander drei Geschütze, doch alle drei, ohne Schaden anzurichten. Eins von den Projektilen, das von San João Baptista her kam, sauste über die Toppen der Masten hinweg. Der Kapitän knipp sich vergnüglich in die Nase. Sein Manöver war gelungen. Das Fort war schon zur Ohnmacht verurteilt, und weiterhin wurde das Schiff vom Lande gegen eine nochmalige Beschießung gedeckt. Was die beiden andern, von Morro do Brazil aus abgefeuerten Geschosse betraf, fiel das erste hinter der »Seamew« nieder, und das zweite streifte das Wasser zwei Kabellängen weit vom Vordersteven des Dampfers.

Kaum war der fünfte Kanonenschuß verhallt, als auf Befehl des Kapitäns alle Lichter auf der »Seamew«, auch die beiden Positionslichter, erloschen. Presenninge bedeckten die Glaskappe des Maschinenraumes. Gleichzeitig drehte sich das Schiff, vom Steuermann gewendet, um sich selbst und fuhr unter vollem Dampfdruck nach dem Lande zu zurück.[134]

So steuerte es um die Reede an deren Grenze, wo schon die Lichter der Stadt verschwanden. Schwarz in der schwarzen Nacht, mußte es unbemerkt davonkommen und kam auch unbelästigt davon.

Nach Durchschiffung der Reede in ihrer ganzen Breite glitt die »Seamew« tollkühn längs der Felsenwände des Morro do Brazil hin. Hier wäre ein neuer Pfiff unheilschwanger gewesen. Seit Beginn dieses Manövers hatte der Kapitän aber den Inspektor klugerweise in eine Kabine verwiesen, wo er ihn, samt den beiden Leuten aus dessen Boote, von einigen handfesten Matrosen bewachen ließ.

Übrigens schien jede Gefahr schon jetzt abgewendet zu sein.

Das Fort San João Baptista, das, ohne es zu wissen, jetzt noch der einzige gefährliche Gegner war, feuerte nicht mehr, während man vom Morro do Brazil aus fortfuhr, sein Pulver durch Schüsse ins Blaue zu verpuffen.

Die »Seamew« glitt schnell im pechdunkeln Schatten der Felsenwand hin. An die äußerste Landspitze gelangt, umschiffte sie diese und schlug von hier aus einen Kurs gerade nach Süden ein, während die beiden Forts, die sich nun dafür entschieden hatten, ihr nutzloses Duett wieder aufzunehmen, ihre überflüssigen Geschosse nach Osten hinausschleuderten.

Als er drei Seemeilen weit draußen war, erlaubte sich der Kapitän Pip, an Bord glänzend zu illuminieren. Dann ließ er den Inspektor herausholen und forderte ihn auf, in seinem Boote zurückzukehren. Höflich geleitete er ihn bis an den Ausschnitt der Schanzkleidung und sagte dann, die Mütze in der Hand und über die Reling gebeugt:

»Sie sehen, mein Herr, wie ein englischer Seemann mit portugiesischen Kanonenkugeln Verstecken spielt. Nicht wahr, das nennt man eine kleine Überraschung? – Ich habe die Ehre, werter Herr, mich Ihnen bestens zu empfehlen!«

Leider war der Inspektor, der nicht ein Sterbenswörtchen englisch verstand, nicht in der Lage, den Sinn der hübschen Bemerkung zu verstehen.

Nachdem er die angeführten Worte gesprochen hatte, schnitt der Kapitän die Leine, woran das Boot im Kielwasser des Dampfers schaukelte, mit seinem eignen Messer entzwei, bestieg wieder die Kommandobrücke und befahl einen Kurs nach Südosten. Und während er nachher die Blicke über den Himmel, das Meer und endlich über Terceira schweifen ließ, das in der Nacht schon als dunkle Masse verschwand, spuckte er noch einmal befriedigt und stolz in das ruhige Meer.[135]

Quelle:
Michel Verne: Das Reisebüro Thompson und Comp. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCI–XCII, Wien, Pest, Leipzig 1909, S. 110-121,123-136.
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