Zweiter Akt

[1465] Wohnstube im Humbrechtischen Haus, bürgerlich möbliert; auf der Seite ein Klavier. – Martin Humbrecht sitzt ganz mürrisch in einer Ecke, den Kopf auf die Hand gestützt; Frau Humbrecht arbeitet.


FRAU HUMBRECHT. Ich weiß auch gar nicht, wie du mir vorkommst, Mann! – du gönnst deinem Kind die liebe Sonne nicht, die es bescheint, viel weniger ein anders Vergnügen.

HUMBRECHT. Du hast recht, Frau! – hast immer recht!

FRAU HUMBRECHT. Ist's nicht wahr, sag? – – sitzt er nicht da, und[1465] macht ein Gesicht, wie eine Kreuzspinne: – wenn wir alle halb Jahr nur einmal zum Haus naus schmecken, so ist gleich Feuer im Dach.

HUMBRECHT. Hast recht, Frau! hast immer recht! – wenn ich dir aber gutmeinend raten soll, so halt 's Maul – verschwören will ich's jemals wieder aus dem Haus zu gehn, und sollt alles den Krebsgang nehmen!

FRAU HUMBRECHT. So sag doch warum? du hast keine Ursach über mich zu klagen; ich verschleck dir nichts; ich versauf dir nichts; ich geh nicht neben hinaus. –

HUMBRECHT lacht ihr unter die Nase. Oh! du bist ein Muster von einer guten Frau; das ist ja stadtkundig! – ewig schade! daß du nicht katholisch bist; könntst mit der Zeit wohl gar noch kanonisiert werden. – Heilige Frau Humbrecht bitt für uns! ha ha ha!

FRAU HUMBRECHT. Spott, wie du willst: ich bin und bleib doch, was ich bin.

HUMBRECHT. Wer leugnet's? du bist und bleibst halt in alle Ewigkeit eine –

FRAU HUMBRECHT. Was eine? – heraus! wenn du was weißt: heraus! – kannst mir beweisen, daß ich dir das geringste verwahrlose? – hab ich die Augen nicht allerwärts?

HUMBRECHT. Nur da nicht, wo du sie am allerersten haben solltst. – Deiner Tochter läßt du zuviel Freiheit, wenn ich denn doch alles zehnmal sagen muß.

FRAU HUMBRECHT. Und du läßt ihr zuwenig – es ist wohl eine große Sache, daß sie einmal auf dem Ball gewesen ist; was ist denn Übels dran? he! – gehn nicht soviel andre honette Leute auch drauf?

HUMBRECHT. Es gehört sich aber nicht für Bürgersleut – ich bin funfzig Jahr mit Ehren alt geworden, hab keinen Ball gesehn, und leb doch noch.


Magister Humbrecht kommt herein.


FRAU HUMBRECHT. Er kommt eben recht, Herr Vetter Magister; mein Mädel wird heut keine Klavierstunde nehmen, und da kann Er mir jetzt helfen meinem Mann dort den Kopf zurechtsetzen.

MAGISTER. Das werden die Frau Bas wohl ohne mich können. – Aber – Sich das weiße Krägelchen zurechtlegend. darf ich fragen, ist die Jungfer Tochter krank?

HUMBRECHT. Gar nicht, Vetter! gar nicht! sie fängt nur an nach[1466] der neuen Mode zu leben, macht aus Nacht Tag und umgekehrt.

MAGISTER. Das heißt wohl soviel, als sie schläft noch?

FRAU HUMBRECHT. Ich will Ihm nur sagen, Herr Vetter Magister. Wir waren gestern nachts auf dem Ball, meine Eve und ich; unser Herr Leutenant hier oben, ließ uns die leibliche Ruh nicht: – die ganze Fasnachten über hat er uns alle Sonntag sehr inständig gebeten, ihm die Ehr anzutun; – gestern kam er wieder und lud uns ein; und da es der letzte Ball war, wie er sagte, auf den man mit Ehren gehn könnte, denn am mardi gras, sagte er, gingen nur Peruckenmacher drauf, so wollt er sich absolut keinen Korb geben lassen, und –

HUMBRECHT. Und, weil ich just in meinem Beruf ausgeritten war, so machten sie sich's zunutz, und schwänzelten auf den Ball.

FRAU HUMBRECHT. Ist denn da aber was Übels dran, Herr Vetter Magister?

HUMBRECHT. Da fragst du den Rechten! was weiß ein Klosterer vom Ball? da versteht er grad soviel davon, als von der Mast. – Hängen will ich mich lassen, wenn er Buch- und Eichmast zu unterscheiden weiß!

FRAU HUMBRECHT. Je nun! die Herren kommen aber doch überall herum; sie hören doch auch, was mores ist: – sag Er nur ungescheut, Herr Vetter, ist's denn so was Sündlichs ums Ballgehn?

MAGISTER. Ihnen diese Frage zu beantworten, muß ich unterscheiden, wertste Frau Bas! erstlich das Ballgehn an sich selbst, und zweitens die verschiedene äußere Umstände, die damit verbunden sind, oder verbunden sein können, betrachten. – Was nun den erstern Punkt betrifft, so seh ich am Ballgehn an und für sich eben nichts Sündliches; es ist eine Ergötzung, und nach der neuen Theologie, die aber im Grund auch die älteste und natürlichste ist, ist jede Ergötzung, in einem gewissen Betracht, auch eine Art von Gottesdienst.

HUMBRECHT. Vetter! Vetter! gebt acht, daß man euch Schwarzkittel nicht all zum Teufel jagt, wenn dieser neue Gottesdienst erst eingeführt wird!

MAGISTER. Ich sagte ja nur, Ergötzung wäre eine Art von Gottesdienst: dies schließt aber die andern Arten alle noch nicht aus, und folglich sind wir Lehrer auch noch nicht überflüssig. Doch – diesen Beweisgrund, den ich Ihnen bei einer andern[1467] Gelegenheit besser erklären, deutlicher exegesieren will, beiseite gesetzt – will ich mit Ihrer Erlaubnis, Herr Vetter, sokratisch demonstrieren, und nur zwo Fragen an Sie tun; – erstens, glauben Sie denn, daß so viele rechtschaffene Mütter, brave Weiber, die sogar Personen vom Stande sind, teils selbst auf den Ball gehn, teils ihre Töchter darauf führen würden, wenn sie sich ein Gewissen darüber machen müßten?

FRAU HUMBRECHT. So recht! Herr Vetter Magister; das war's!

HUMBRECHT. Die mögen meintwegen auch ein Gewissen haben, das größer ist als die Metzger-Au draußen; – Was scheren mich die mitsamt ihrem Stand? – ich hab auch einen Stand, und jeder bleib bei dem seinigen! – Und dann, so hab ich ja noch nicht gesagt, daß das Ballgehn überhaupt nichts taugte; – meine Leut aber sollten nicht drauf gehn, das sagt ich! – Laßt die immerhin drauf herumtänzeln, die drauf gehören, wer wehrt's ihnen? – für die vornehmen Herren und Damen, Junker und Fräuleins, die vor lauter Vornehmigkeit nicht wissen, wo sie mit des lieben Herrgotts seiner Zeit hinsollen, für die mag es ein ganz artigs Vergnügen sein; wer hat was darwider? – aber Handwerksweiber, Bürgerstöchter sollen die Nas davon lassen; die können auf Hochzeiten, Meisterstückschmäusen, und was des Zeugs mehr ist, Schuh genug zerschleifen, brauchen nicht noch ihre Ehr und guten Namen mit aufs Spiel zu setzen. – – Wenn denn vollends ein zuckersüßes Bürschchen in der Uniform, oder ein Barönchen, des sich Gott erbarm! ein Mädchen vom Mittelstand an solche Örter hinführt, so ist zehn gegen eins zu verwetten, daß er sie nicht wieder nach Haus bringt, wie er sie abgeholt hat.

FRAU HUMBRECHT. Ei Mann! bist du närrisch? – du wirst doch etwa nicht gar glauben, daß unsre Tochter –

HUMBRECHT ihr nachäffend. Du wirst doch etwa nicht gar glauben – – über die Fratze! – ich glaub nur, was ich weiß – wenn ich's aber glaubte! – wenn! wenn! – Mit geballten Fäusten. Himmel, wie wollt ich mit euch umspringen! –

MAGISTER. Nicht doch, Herr Vetter! Sie werden ja, hoff ich, nicht in Harnisch geraten über eine Handlung, die an sich so gleichgültig ist, die vollkommen unter diejenigen gehört, die nach der strengsten Kasuistik weder für gut noch für bös können gehalten werden.

HUMBRECHT. Gibt's viel solcher Handlungen in Seinem Katechismus?[1468]

MAGISTER. Verschiedene! und daß das Ballgehn mit dazu zu rechnen sei, bin ich so sehr überzeugt, daß ich Ihnen – doch unter uns – gestehn will, ich bin selbst einmal drauf gewischt.

HUMBRECHT mit Hitze aufspringend. So wird davor alle Jahr zweimal für euer Kloster an den Kirchtüren kollektiert! – Im Fortgehn. Adieu Vetter! und hol mich der Teufel, wenn ich noch einen Sols in die Schüssel werfe. Adieu!


Ab.


FRAU HUMBRECHT. Das hat Er nun eben nicht gescheut gemacht, Herr Vetter! ich förcht, Er hat es jetzt wieder auf lange Zeit bei meinem Manne verdorben.

MAGISTER. Soll's wohl sein Ernst sein?

FRAU HUMBRECHT. Freilich ist er's; er ist noch ganz von der alten Welt; Er kann sich's nicht vorstellen, wie ich mein Kreuz mit ihm hab! – Vor zwei Jahren zu Anfang des Winters hätten wir uns bei einem Haar von Tisch und Bett, Gott verzeih mir's! geschieden, weil ich mein martern Paladin, das er von seiner Großmutter geerbt hatte, gegen ein neumodischers vertauschte! und noch erst vor acht Tagen sollte mein Evchen ein Kind heben, da bestand er mit Leib und Seel darauf, sie müßte die goldne Haube aufsetzen, und doch sieht man sie keinem Menschen mehr aufhaben, als höchstens Gärtners- und Leinweberstöchtern. – – Nein! das hätt Er pfeifen sollen, Herr Vetter Magister! aber nicht sagen.

MAGISTER. Sobald ich mir keinen Vorwurf mache etwas getan zu haben, so kann ich's auch sagen. Freilich mit Unterschied! meinen Vorgesetzten, zum Beispiel, die um den Mißbrauch zu verhindern, manche Dinge ganz verbieten müssen, das sie nicht tun würden, wenn jener nicht zu befürchten wäre, so etwas auf die Nase zu hängen, verbietet die Klugheit; sonst aber mach ich so wenig ein Geheimnis daraus, daß ich's vielmehr für Pflicht halte, alles zu sehn, alles zu prüfen, um selbst davon urteilen zu können.


Der Lieutenant von Gröningseck kommt hastig herein, lauft auf Trau, Humbrecht los; Magister steht auf.


VON GRÖNINGSECK. So ganz tête à tête! das ist schön, das will ich dem Herrn Liebsten sagen, Frau Wirtin, wenn Sie mir nicht gleich den Mund stopfen.

FRAU HUMBRECHT. Hi hi, hi hi hi! das tun Sie, mein Mann weiß es schon, er ist erst fortgegangen.

VON GRÖNINGSECK. So! Singt. der gute Mann, der brave Mann![1469] – können Sie das Liedchen nicht? – das muß ich Sie lehren. – Den Herrn soll ich schon mehr gesehn haben.

FRAU HUMBRECHT. Es ist mein Herr Vetter: er instruwiert mein Evchen auf dem Klavier.

VON GRÖNINGSECK nimmt nachlässig eine Prise Tobak. So, so! der Herr Vetter Klaviermeister also! –

MAGISTER. Ihr gehorsamer Diener! Der Lieutenant nimmt den Stuhl des Magisters, und setzt sich hart neben die Frau Humbrechtin: dieser holt sich einen andern Stuhl, und setzt sich auf die andre Seite. – Mit Ihrer Erlaubnis, Frau Bas!

VON GRÖNINGSECK. Ohne Komplimenten! – pardieu! ich glaub gar, das war Ihr Stuhl, – verzeihn Sie, Herr Klaviermeister! –

MAGISTER. Ich bin's nur für Freunde, denen ich einen Gefallen damit erweisen kann, und verbitte mir also –

VON GRÖNINGSECK. Gar gern! gar gern! – es geschah nicht mit Vorsatz, Herr Abbé! –

FRAU HUMBRECHT. Ja, wenn Sie wüßten, Herr Leutenant, was ich mit meinem Mann vor eine Hatze gehabt habe! wegen dem gestrigen Ballgehn – o das können Sie sich gar nicht denken!

VON GRÖNINGSECK. Comment? wegen dem Ballgehn? c'est drôle! – das ist auf meine Ehr toll genug!

FRAU HUMBRECHT. Und denken Sie nur: da kam der Herr Vetter eben dazu, und da glaubt ich, er sollte mir helfen ihm den Kopf wieder zurechtsetzen, aber da ist er grad noch rappelköpfischer geworden.

VON GRÖNINGSECK. Das bedaur ich! – es geht aber den Herren Schwarzröcken sehr oft so.

FRAU HUMBRECHT. Es wär alles gut gewesen, sehn Sie; er hat ihm tüchtig die Wahrheit gesagt; aber da verschnappt er sich in der Hitze, und platzte heraus, er wär selbst schon drauf gewesen, und da wollt mein Mann nichts mehr hören noch wissen. – Sehn Sie, das hat's verdorben – das ganz allein!

VON GRÖNINGSECK. Ho ho! der Herr Abbé selbst schon auf dem Ball gewesen! – das hätt ich wahrlich nicht hinter Ihnen gesucht: gewiß nicht!

MAGISTER. Und weswegen nicht, mein Herr?

VON GRÖNINGSECK. Hm! des Rocks wegen.

MAGISTER. Wahrhaftig! Dies Vorurteil kleidet Sie, da Sie sich sonst so einen großen Ton zu geben wissen, sehr schlecht: wären Sie tiefer in Frankreich, oder auch an den geistlichen[1470] Höfen Teutschlands gewesen, so würden Sie wissen, daß Prälaten vom ersten Rang ihrem Anspruch, den sie auf alle menschliche erlaubte Vergnügungen zu machen berechtigt sind, keineswegs entsagen. – Würde man bei unsrer Kirch anfangen, ebenso klug zu denken und zu handeln, so würde es weniger übertriebene Zeloten, und eben dadurch auch weniger Religionsspötter geben.

FRAU HUMBRECHT. Ei, ei! Herr Vetter!

VON GRÖNINGSECK. Der Teufel, war das eine Predigt! – Ma foi, die erste Hofmeisterstelle, die ich zu vergeben habe, sollen Sie bekommen.

MAGISTER. Ich zweifle. – Der Vater wenigstens, der mir, wenn ich eine Viertelstunde erst mit ihm gesprochen, dennoch seinen Sohn anvertrauen wollte, ist schwerlich schon geboren.

VON GRÖNINGSECK. Wieso! bald machen Sie mich aufmerksam.

MAGISTER. Sie wollen spotten, mein Herr!

VON GRÖNINGSECK. Parole d'honneur! nein! – ich wiederhol es, Sie haben mich neugierig gemacht Ihre Ursachen anzuhören.

MAGISTER. Die alle hier gleich anzuführen, ist mir unmöglich. Überhaupt aber würden meine Erziehungsgrundsätze wohl schwerlich heutzutag wo Beifall finden.

FRAU HUMBRECHT. Ei, Herr Vetter Magister! Er wird doch nicht so altväterisch denken, wie mein Mann?

MAGISTER. Im Gegenteil! – zu neu, als daß ich nicht darüber sollte verfolgt werden.

VON GRÖNINGSECK. Ein Pröbchen nur, Herr Magister! nur ein einziges! ich höre so was gar zu gern; ich glaube, man nennt es Paradoxe, nicht wahr?

MAGISTER. So würd ich zum Exempel in dem kritischen Zeitpunkt, in welchem der Knabe zum Jüngling übergeht, sich selbst zu fühlen, und der physischen Ursache seines Daseins nachzuspüren beginnt – ein Zeitpunkt, der der Tugend fast aller junger Leute ein Stein des Anstoßes, eine gefährliche Klippe ist –

FRAU HUMBRECHT steht auf. Das ist mir viel zu hoch, meine Herren; ich will einmal meine Tochter herausstöbern. Lauft ab.

MAGISTER. So würd ich, wollt ich sagen, in diesen Jahren meinen Eleven auf eine Manier behandeln, die der gewöhnlichen grad entgegengesetzt ist. – Statt ihn in seiner Unwissenheit auf gut Glück einem bloßen Ungefähr – das unter zwanzigen[1471] gewiß neunzehn irreführt – zu überlassen; würde ich ihm den ganzen Adel, die ganze Größe seiner Bestimmung begreiflich zu machen bedacht sein. –

VON GRÖNINGSECK. Das haben schon mehrere vorgeschlagen!

MAGISTER. Noch mehr! – ihm auf zeitlebens vor allen Vergehungen dieser Art einen schaudernden Ekel beizubringen, würde ich – wie die Spartaner, ihre junge Leute vor dem Laster der Trunkenheit zu warnen, ihnen ein paar trunkne Sklaven zum Gespötte preisgaben – so würde ich meinen Eleven selbst an die zügellosesten und ausgelassensten Örter begleiten: das freche, eigennützige, niederträchtige Betragen solcher feilen Buhldirnen müßte auf sein zartes noch unverdorbenes Herz ganz gewiß einen unauslöschlichen Eindruck machen, den keine Verführung jemals auslöschen könnte.

VON GRÖNINGSECK. Sie können vielleicht recht haben: – bei alledem aber scheint mir die Kur verdammt scharf.

MAGISTER. Um so viel sicherer ist sie auch. – Alle andere Präservativmittel kann ein Glas Wein, ein ausschweifender Freund, ein unglücklicher Augenblick über einen Haufen werfen. – Und ganz sicherzugehn, hab ich noch ein andres Rezept im Hinterhalt.

VON GRÖNINGSECK. Nämlich?

MAGISTER. Das erste beste Lazarett oder Siechhaus. – Den jungen Herrn, wenn er obige Szene gehörig verdaut, und selbst darüber nachgedacht hat, in diesen Wohnplatz des Jammers geführt, ihm die erbärmlichen scheußlichen Folgen eines einzigen Fehltritts, einer einzigen Ausschweifung dieser Art anschauend vor Augen gestellt: – wen das nicht in Schranken zurückhält, der muß weder Kopf noch Herz haben.

VON GRÖNINGSECK. Sie werden warm, Herr Magister: und das gefällt mir: – ich haß alles, was Phlegma heißt; – verzeihn Sie, wenn mein erstes Betragen vorhin Ihren Verdiensten nicht angemessen war: – Wir müssen uns mehr sprechen; schlagen Sie ein!


Magister gibt ihm treuherzig die Hand, indem kommen Frau Humbrecht und Evchen.


FRAU HUMBRECHT. Ei guck doch! – wie artig! schon so bekannt?

VON GRÖNINGSECK. Jetzt kenn ich Ihren Herr Vetter: vorher nahm mich das Kleid wider ihn ein. – Guten Morgen, Mademoiselle Evchen!

MAGISTER. Schon ausgeschlafen, Bäschen? Evchen schlägt errötend[1472] die Augen nieder, verneigt sich, und setzt sich hin zu arbeiten. – So rote Augen! haben Sie geweint?

FRAU HUMBRECHT. Nicht doch! – Er weiß ja wohl, Herr Vetter, wer selten reitet, dem – – sie ist halt das Aufbleiben nicht gewohnt, und das ist alles.

VON GRÖNINGSECK. Es sollte mir wahrhaftig sehr leid tun, wenn ich – wenn der Ball –

EVCHEN unterbricht ihn. Sie sind sehr gütig, Herr Lieutenant.

FRAU HUMBRECHT. So sei doch nicht so mürrisch! ich weiß gar nicht, wie sie mir heut vorkommt; wenn ich nicht immer um sie gewesen wäre, wenn ich nicht wüßte, daß sie alles Liebs und Guts genossen hat, so sollt ich wunder denken, was ihr vor ein Unglück widerfahren ist.

VON GRÖNINGSECK. Wenn ich etwas zu Ihrer Beruhigung – Zerstreuung wollt ich sagen! beitragen kann, Mademoiselle! – so soll's mir eine Freude sein.

EVCHEN mit gezwungenem Lächeln. Ich will's erwarten, Herr Lieutenant, ob Sie Wort halten?

VON GRÖNINGSECK. Ganz gewiß! Sieht auf die Uhr. – Pardieu! kaum noch Zeit auf die Parade zu springen!

MAGISTER. Ich begleite Sie: – für heute scheint mir die Jungfer Bas doch nicht zur Musik gestimmt.

EVCHEN. Nein, heute nicht! – ich hab Kopfweh.


Lieutenant und Magister ab.


FRAU HUMBRECHT. Ei Mädel! Mädel! ich bitt dich um Gottes willen, häng mir den Kopf nicht so – wenn dein Vater wiederkommt – du weißt wie er ist – und sieht dich so niedergeschlagen, so geht der Tanz wieder von vornen an.

EVCHEN. Sie hat gut reden, Mutter! – Mit einem tiefen Seufzer. – wär Sie nicht eingeschlafen! – so –

FRAU HUMBRECHT. Fort! – was so?

EVCHEN. So wär Sie vielleicht nicht muntrer als ich, oder ich so munter als Sie.

FRAU HUMBRECHT. Kindskopf! das bißchen Schlaf wird's ihm wohl tun! – Du sagtest ja selbst, ich hätte nicht lang geschlafen? –

EVCHEN. Nein, nicht lang: und doch länger als –

FRAU HUMBRECHT. Bald werd ich wild: – soll ich dir jedes Wort aus dem Hals heraushaspeln? – Ihr nachspottend. nein, nicht lang; und doch länger als – was denn als –

EVCHEN. Ei nun, als ich! ist's etwa nicht wahr?[1473]

FRAU HUMBRECHT. Dachte wunder, was herauskommen würde! – Schau, Evchen! tu's deiner Mutter zu Gefallen, und mach kein finster Gesicht so: dein Vater hat sich so schon merken lassen, daß er glaubt, ich wär mehr meinetwegen als deinetwegen auf den Ball gegangen; findet er dich nun vollends so niedergeschlagen, so muß ich gewiß alles allein fressen. Nicht wahr, Evchen, du tust mir's zulieb? wenn's dir auch nicht drum ist.

EVCHEN. Ich will tun, was ich kann.

FRAU HUMBRECHT. Potztausend noch eins! – weißt du nicht, wo meine Tobaksbüchs hingekommen ist?

EVCHEN. Nein! – die silberne mit vergoldeten Reifen?

FRAU HUMBRECHT. Die nämliche; – dein Vater gab sie mir noch in unserm Brautstand: – ich nähm nicht weiß was –

EVCHEN. Den Morgen hatte Sie sie noch in der Hand, das sah ich.

FRAU HUMBRECHT. Ach Gott! – wenn ich sie verloren hätte! – den Augenblick will ich gehn, und noch einmal alles durchsuchen: find ich sie nicht, so laß ich sie gleich nach dem Essen ausrufen –


Lauft ab.


EVCHEN. Arme Mutter! jammert um eine Dose! – Wenn dies der größte Verlust wäre! – – Fataler Augenblick! unglücklicher Ball! – Wie tief bin ich gefallen! – Mir selbst zur Last! – Die Zöpf hätt ich mir beim Aufbinden herabreißen mögen, wenn ich mich nicht vor der Magd geschämt hätte. – Dürft ich nur niemanden ansehn, säh mir nur kein Mensch in die Augen! – Wenn die Hoffnung nicht wär – die einige Hoffnung! – er schwur mir's zwei-, dreimal! – Sei ruhig mein Herz! – – Erschrocken. Gott! ich hör meinen Vater; – jedes Wort von ihm wird mir ein Dolchstich sein! – Wie er lärmt! Himmel! sollt er meinen Fehltritt schon entdeckt haben? Kehrt das Gesicht ängstlich von der Türe weg, und verbirgt's mit den Händen.

HUMBRECHT zu seiner Frau, die mit ihm hereinkommt. Das Lumpengezeug! der verdammte Nickel! – Den Augenblick soll sie mir aus dem Haus: hast's gehört, Frau? den Augenblick! sag ich. Keinen Bissen kann ich in Ruhe fressen, solang die Gurr noch unter einem Dach mit mir ist: – Wirst's ihr bald ankündigen oder nicht? wenn ich's ihr selbst sagen muß, so steh ich nicht dafür, daß ich sie nicht mit dem Kopf zuerst die Treppen hinunterschmeiß.

EVCHEN. Gott! das gilt mir!

FRAU HUMBRECHT. So sag mir doch erst – ich muß ihr doch auch[1474] eine Ursache sagen können – du hast ja doch die ganze Zeit über nichts über sie zu klagen gehabt.

HUMBRECHT. Ursache? Die soll ich dir sagen? – Schäm dich ins Herz hinein, so eine schlechte Hausmutter zu sein, nicht bessere Ordnung zu halten! – weil sie ein Nickel ist, eine Hure! das ist die Ursache. –

EVCHEN aufspringend. Länger halt ich's nicht aus! Ihrem Vater, der sie noch nicht gesehn, plötzlich zu Füßen fallend. Vater! liebster Vater! Vergebung –


Verstummt, und läßt den Kopf zur Erde sinken.


FRAU HUMBRECHT ihr nach dem Arm greifend. Ei Mädel! was ist dir? – träumst? – Steh doch auf! – Ich glaube gar, sie meint, du wärst so böse auf sie

HUMBRECHT. Der Narr – hat sie mich nicht erschreckt! – vor mir da niederzufallen wie ein Sack: – steh auf! steh auf! – Hilft ihr in die Höh. – Die Grimassen kann ich nicht leiden, dies weißt du: – Ich hatte mir zwar freilich vorgenommen, dich tüchtig auszufilzen, aber – es ist grad, als wenn ich kein Quentchen Gall mehr im Leib hätte – der Schrecken hat, glaub ich, alles verwischt. – Nu –! dankst mir nicht einmal für meine Nachsicht? – Diesmal sollst noch so durchschlupfen; – wenn's aber noch einmal geschieht, Blitz und Donner! nur noch einmal, so tret ich dir alle Rippen im Leib entzwei, daß dir der Lusten zum dritten Mal vergehen soll.

EVCHEN. Ich schwör's Ihm, Vater! hätt ich's noch zu tun, ich tät's gewiß nicht.

HUMBRECHT. Nicht? tätst's nicht? – so gefällst du mir, Evchen: Das war brav: es reut dich also? – komm her, daß ich dich küsse dafür – Was! du wirst rot, wenn dich dein Vater küßt! – sollst du wohl schon so verdorben – doch, ich vergaß, daß die Mamsell auf dem Ball war; – in Zukunft bleib hübsch zu Haus; der Ball wird doch Ball bleiben, ohne dich –

EVCHEN. Mamsell!

FRAU HUMBRECHT. So geh doch auch nicht so gar unbarmherzig mit ihr um – sieh, wie sie zittert –

HUMBRECHT Evchen bei der Hand fassend. Fiel dir das Wort auf, meine Tochter? das freut mich! – man muß nie mehr sein wollen, als man ist. – Ja so Frau! das Nötigst hätten wir bald verplaudert: daß du es denn nur weißt, wenn ich's dir doch erst sagen muß – die schöne Jungfer da hinten hat sich von einem Sergeanten eins anmessen lassen, die Mutter weiß drum,[1475] und läßt alles so hingehen: die ganze Nachbarschaft hält sich drüber auf. – Jetzt marsch! und kündig ihnen das Logis auf: du weißt jetzt, warum? – Wollt eher den ganzen Hinterbau zeitlebens leer stehen lassen, Ratten, Mäusen und Nachteulen preisgeben, eh ich solch Lumpengesindel beherbergen wollt. – Meine eigne Tochter litt ich keine Stund mehr im Haus, wenn sie sich so weit verging. – Frau Humbrecht geht ab, er ruft ihr nach. Noch vor Sonnenuntergang sollen sie aufpacken, sonst schmeiß ich alles zum Fenster hinaus, und sie beide, alt und jung hinterdrein! – Gelassen zur Tochter. Du, laß den Tisch zurechtmachen.

EVCHEN. Seine eigne Tochter! – – in den paar Worten liegt mein ganzes Verdammungsurteil! – Welch ein Schatz ist doch ein gutes Gewissen! – Sich im Abgehn vor die Brust schlagend. – Das verloren – alles verloren! – Ab.

Quelle:
Sturm und Drang. Band 2, München 1971, S. 1465-1476.
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