[1487] Evchens Schlafzimmer; rechter Hand der Bühne ist die Tür, gegenüber sind Fenster, die auf die Straße gehn. Frau Humbrecht macht eben, wie der Vorhang aufgezogen wird, das Fenster zu; Evchen liest.
FRAU HUMBRECHT. Noch seh und hör ich nichts von ihm.
EVCHEN. Heut wird er schwerlich mehr kommen, Mutter! geh Sie lieber ins Bett! Die Tore sind ja schon längst zu.
FRAU HUMBRECHT. Wer weiß, kommt er nicht zum Judentor herein? es hat ja noch nicht eilf geschlagen.
EVCHEN seufzend. Daran dacht ich nicht.
FRAU HUMBRECHT. Schon wieder ein Seufzer! – hast du mir nicht soeben versprochen, das ewige Geächz und Gekrächz zu unterlassen? bist mir ein rechter Mann von Parole!
EVCHEN. O wenn ich ein Mann wäre!
FRAU HUMBRECHT. Was wär's?[1487]
EVCHEN. Noch heute macht ich mich auf den Weg nach Amerika, und half für die Freiheit streiten.
FRAU HUMBRECHT. Und ließest Vater und Mutter allein hier sitzen? Pfui, Evchen! aber ich weiß schon, wo es steckt, du liebst uns halt nicht mehr.
EVCHEN. Wie kann Sie das denken, Mutter!
FRAU HUMBRECHT. Wie? – weil du kein Zutrauen mehr zu deinen Eltern hast; wo das nicht ist, ist auch keine Liebe.
EVCHEN gerührt. Mutter!
FRAU HUMBRECHT. Nicht anders: es tut mir leid, daß ich dir's sagen muß; – sonst, wenn dir nur ein Finger weh tat, kamst du zu mir geloffen es mir zu klagen; – jetzt, verzeih dir's der liebe Gott, geht dir allemal eine Gänshaut aus, wenn du eins von uns beiden erblickst.
EVCHEN. Gewiß nicht! – Sie tut mir das größte Unrecht von der Welt, Mutter! wenn Sie das sagt: ich lieb Sie noch immer ebenso stark – aber –
FRAU HUMBRECHT. Nun? –
EVCHEN schüchtern. Aber – es gibt Sachen, die man niemand entdecken kann.
FRAU HUMBRECHT. Warum nicht?
EVCHEN. Weil sie noch nicht reif sind; weil man sie sich selbst nicht so gestehn mag oder kann.
FRAU HUMBRECHT. Lauter Rätsel! – wenn dein Vater wieder so eine Antwort hörte, fuchswild würd er darüber. – Du weißt, er kann das Hinter- dem-Berg-Halten nicht ausstehn! ich auch nicht. Gestern, eh er zu Pferd stieg, glaubt ich, er wollte rasend werden, da er dich so recht vertraut auf sei nen Schoß setzte, dir die besten Wort gab, dich herzte und drückte –
EVCHEN. Und auf einmal von sich stieß, daß ich bis ans Bett dort taumelte –
FRAU HUMBRECHT. Da war dein Starrkopf schuld dran; und doch tat's ihm gleich wieder leid; das konnt ich ihm an den Augen ansehn. – Noch an der Trepp aber hat er sich heilig vermessen, wenn er zurückkäm, und du den Kopf noch so hingst, und ihm die Ursache nicht gestehn würdest, so wollt er dich nicht mehr für sein Kind erkennen. »Länger«, sagte er, »will ich mich nicht von ihren Kaprissen, wie ein Kalb am Seil, herumzerren lassen.«
EVCHEN. So wahr Gott lebt! Mutter! es ist keine Kaprisse; wollt es wär! – Soll ich aber die Wahrheit gestehn, Mutter, so hat[1488] der Ungestüm, mit dem Sie mir die Ursache meines Kummers, die ich mir selbst noch nicht gestehn mag, bald in den Augen lesen, bald mit Drohen, bald mit Liebkosen herauspressen wollten, sehr viel dazu beigetragen, meine Melancholie oder Kopfhängerei, wie Sie's nennt, zu vermehren. Es ist von Ihrer Seit gut gemeint, das weiß ich, das fühl ich, und leide doppelt drunter, weil ich Ihnen jetzt wenigstens keinen Dank für diese Zärtlichkeit geben kann. – Probier Sie's einmal, Mutter! laß Sie mich ein Weilchen in meiner Träumerei so hinschlendern, tu Sie, als bemerkte Sie's gar nicht, überlaß Sie mich mir selbst, bered Sie den Vater es auch zu tun; nur auf ein Weilchen! vielleicht hebt sich alles – es muß sich heben, und dann bin ich ganz wieder Ihre Tochter, oder –
FRAU HUMBRECHT. Oder? –
EVCHEN. Ein Kind des Tods.
FRAU HUMBRECHT. Wieder ein neuer Stich ins Herz! – O Evchen! Evchen! Du wirst uns noch ins Grab bringen. –
EVCHEN. Nicht doch, Mutter! nicht doch! euch nicht! mich eher, wenn ihr mir nicht Ruh laßt. Probiert's nur, wie ich gesagt habe, ich bitt euch darum: es wird noch alles gut werden. – Fällt ihr um den Hals. Hier an Ihrem Hals hängend beschwör ich Sie, versperrt eurer Tochter den einigen Weg nicht, auf dem sie sich noch retten kann.
FRAU HUMBRECHT wickelt sich los. Dein Vater! – ich hör ihn.
EVCHEN. Sie verspricht mir doch –
FRAU HUMBRECHT nimmt ein Licht vom Tisch, ihm entgegenzugehn. Was kann ich halt machen! ich muß wohl.
HUMBRECHT kommt gestiefelt und gespornt. Was zum Henker sitzt du denn da oben, Frau! und läßt das Haus drunten leer stehn?
FRAU HUMBRECHT. Den Augenblick ging ich herauf zu sehn, was sie macht.
HUMBRECHT. Allerliebst! wenn die Mutter der Tochter entgegengehn muß: hat sie nicht ebenso nah zu dir? – Wie das wieder dasteht, als wenn ihm Gott nicht gnädig war! – Dem Vater nicht einmal guten Abend zu sagen!
EVCHEN schüchtern. Guten Abend, Vater!
HUMBRECHT spottend im nämlichen Ton. Guten Abend, meine Jungfer Tochter!
FRAU HUMBRECHT. Du fährst sie aber auch immer so an; – kein Wunder, wenn sie sich vor dir fürchtet.[1489]
HUMBRECHT. Fürchtet! vor mir! – Tausend Element! bin ich nicht ihr Vater! he, Evchen, bin ich's nicht? soll ich etwa, wenn ich mit meinem Kind rede, jedes Wort auf die Goldwaage legen? – Das ging mir, hol mich der Kuckuck, noch ab!
FRAU HUMBRECHT. Närrchen! wer sagt denn das? – nur dein Ton –
HUMBRECHT. Mein Ton, mein Ton! ist freilich keiner von den zuckersüßen, mit Butter geschmierten, in dem unsre glattzüngichte Herren ihre Komplimenten herkrähen; – meine Tochter, dächt ich aber, hätt in siebzehn, achtzehn Jahren, ihn schon gewohnen können! – Ich bin doch auch, bei meiner Seelen Seligkeit, kein Menschenfresser nicht! – Komm her, Evchen, komm! – bist ein guts Mädchen gewesen, hast deiner Mutter gebeichtet? gelt! du hast?
EVCHEN verwirrt. Liebster Vater!
FRAU HUMBRECHT. Ja ja! sie hat; laß sie nur zufrieden jetzt, sollst alles hören.
HUMBRECHT. Das ist brav! Das ist recht! – Küßt sie. jetzt bist du mir wieder doppelt lieb. – War's denn aber auch der Müh wert, den Kopf so zu hängen?
FRAU HUMBRECHT. Du wirst's schon hören, sag ich.
HUMBRECHT. Fast sollt ich bös werden, daß du mir die Gunst nicht angetan hast; gestern erst, meint ich, ich müßt dir's heraushexen. – Da war aber mein Ton wohl schuld dran. – Wirst also wieder hübsch munter sein, Evchen?
EVCHEN. Soviel mir möglich.
HUMBRECHT. Wieder in Gesellschaften, in die Kirch gehn? nicht immer in deinem Stall sitzen? –
FRAU HUMBRECHT. Puh! was Fragen! das wird sich schon finden: eins nach dem andern. – Jetzt ist's Zeit schlafen zu gehn, es schlägt gleich zwölf. – Komm Alter! Zieht ihn am Ärmel fort. Gut Nacht, Evchen!
HUMBRECHT. Busoir, Busoir! – heut will ich dir einen Stiefel wegschnarchen, Frau! – Macht sich los, kehrt um, und nimmt Evchen bei der Hand. verzeih dir der liebe Gott alle die schlaflosen Nächte, die du uns eine Zeit her gemacht hast. – Schau! ich weiß, er hat alle meine Seufzer, alle Tränen deiner Mutter gezählt; mög er dir keine aufrechnen, mein Kind! – keine! – sonst müßten sie aufs neu fließen. – Evchen fällt ihm weinend um den Hals, und küßt ihn. Jetzt schlaf wohl!
Ab.
EVCHEN ihm nachsehend. Armer Mann! guter, unglücklicher Vater![1490] – Tief seufzend. ich fürcht, ich fürcht, die schlaflosesten Nächte hast du noch zu erwarten! – Sein Zorn ist mir fürchterlich, aber, Gott weiß es, seine Liebe noch mehr! – – Setzt sich hin, und liest eine Zeitlang. – Umsonst! es tut's nicht – ich les und lese, und wenn ich das Blatt umschlag, weiß ich kein Wort mehr von allem, was drauf steht. – Legt das Buch hin, geht sehr bewegt ein paarmal auf und ab. – Gröningseck! Gröningseck! was hast du nicht zu verantworten! –
VON GRÖNINGSECK der mittlerweil ganz angezogen doch ohne Hut und Degen, zur Tür hereinschlich, stellt sein Licht auf den Tisch, und stürzt ihr plötzlich zu Füßen. Das weiß ich, Liebste, Teuerste! will's verantworten, will alles gutmachen. –
EVCHEN bebt zurück. Wie! Sie erkühnen sich – um Mitternacht – was wollen Sie? was ist Ihre Absicht?
VON GRÖNINGSECK. Die reinste, tugendhafteste, die je ein Mann gehabt hat. Ihnen Ihre Ruhe wiederzugeben –
EVCHEN. Können Sie das? können Sie geschehne Sachen ungeschehn machen? – oder wollen Sie sich zum Gott lügen, und mich noch einmal täuschen?
VON GRÖNINGSECK. Das nicht, Evchen! wahrhaftig nicht! – Das letzte mag ich nicht, das erste kann ich nicht – und doch wollt ich, ich könnt's! mit meinem Blut wollt ich ihn wiederkaufen, den unglücklichen Augenblick, da ich im Taumel –
EVCHEN. Er ist mir tief genug in die Seele gebrennt, Sie brauchen mich nicht noch selbst daran zu erinnern; – oder – sind Sie Satans genug, Verführer und Kläger zugleich zu sein? –
VON GRÖNINGSECK springt auf. Ums Himmels willen, für welch ein scheußliches Ungeheuer halten Sie mich! Ich kam hierher –
EVCHEN. Zu einer Zeit, in einer Stunde, in der Sie nicht gekommen wären, wenn Sie nur die geringste Hochachtung noch für mich hätten.
VON GRÖNINGSECK. Verzeihn Sie! Evchen! ich schwör Ihnen das Gegenteil: da ich Ihre Delikatesse kenne und billige, so stand ich lang an, eh ich mich zu diesem unzeitigen Besuch entschließen konnte: es mußte aber gewagt sein! – ich war Ihnen und mir es schuldig, Sie nochmals allein zu sprechen, eh ich nach Haus reise.
EVCHEN. Sie verreisen?
VON GRÖNINGSECK. So bald als möglich, um noch zu rechter Zeit wiederkommen, und Ihnen meine Hand anbieten zu können.[1491]
EVCHEN. Ist das Ihr Ernst, Gröningseck? spricht Ihr Herz so? mich deucht, Sie schwuren mir's schon ehmals.
VON GRÖNINGSECK. Und wiederhol's hier aufs feierlichste. – Ihrer beleidigten Tugend alle mir mögliche Genugtuung zu geben, war, sobald ich fand, daß Sie das nicht waren, für das ich Sie in meinem Leichtsinn versehn hatte, meine erste Empfindung, und wird auch da noch, wenn alle andren Empfindungen mit Blut und Atem stocken, meine letzte sein. – Möchte Sie dieses Versprechen doch in etwas beruhigen! Ich hab nur ein Wort – Aber du, Evchen – hast mir nicht Wort gehalten.
EVCHEN. Wieso!
VON GRÖNINGSECK. Versprachst du mir nicht, dir Gewalt anzutun – dir nichts merken zu lassen! –
EVCHEN. Es ist wahr, ich versprach, mir alle Mühe desfalls zu geben; tat's auch, und –
VON GRÖNINGSECK. Und doch kam ich niemals ins Zimmer, daß du nicht bis in die Augen rot geworden wärst! – War's Zorn, Verachtung, Abscheu?
EVCHEN. Das war's nicht, Gröningseck! ich liebte Sie, so wie ich Sie kennenlernte, jetzt kann ich's Ihnen sagen – sonst hätten Sie mich nicht so schwach gefunden – und kann Sie auch noch nicht hassen, wenn ich auch nie die Hoffnung hätte, die Ihrige zu werden: – aber den Gewissenswurm, der mir am Herzen nagt, zu ersticken, hab ich noch nicht gelernt! – wenn ich's könnte, würde ich doppelt vor mir erröten.
VON GRÖNINGSECK. Göttliches Mädchen!
Ergreift ihre Hand, und führt sie dem Mund zu.
EVCHEN zieht sie schnell zurück. Ich dachte, Sie hätten nur ein Wort! – ist's Vergessenheit? –
VON GRÖNINGSECK. Vergessenheit! Ergießung der Seelen! wie du's nennen willst – Kurz, ich kann nicht, ich muß den Schwur meiner ewigen Treue mit einem Handkuß versiegeln.
Will ihre Hand mit Gewalt küssen, sie stößt ihn von sich.
EVCHEN. Nein, Herr Lieutenant! – Sollten Sie es auch für Ziererei halten: ein Handkuß ist nichts, das weiß ich, und dennoch kann er zu allem führen. – Wenn Sie in Kleinigkeiten nicht Wort halten, wie soll ich Ihnen in wichtigern Angelegenheiten trauen! Ich will Ihnen wenigstens einen Meineid ersparen. – Wer einmal in Feuersnot gewesen, und das zweitemal nicht vorsichtig ist, verdient es, daß er darin umkommt. – Bis wann denken Sie wieder hier zu sein?[1492]
VON GRÖNINGSECK. Zwei Monat werden mit der Reise wohl draufgehn.
EVCHEN. Zwei Monat! – Da wird mir das Herz noch manchmal klopfen: – aber, das muß nun sein, folglich muß ich mir's auch gefallen lassen. – Ich heiß Sie nicht eilen, wenn Sie Ihr Herz das nicht selbst heißt – so bin ich ohnehin verloren. –
VON GRÖNINGSECK. Das tut's gewiß.
EVCHEN. Jetzt, Gröningseck! ja! das glaub ich Ihnen, trau's Ihrer Rechtschaffenheit zu. Wer kann mir aber für die Zukunft stehn? – niemand; Sie selbst nicht! – Keins von uns hat im Buche der Vorsehung sein Schicksal gelesen; – eine innre Stimme, die ich aber immer zu betäuben suche, sagt mir, das meinige wäre mit Blut geschrieben.
VON GRÖNINGSECK. Evchen! wie kommen Sie da dran?
EVCHEN. Wie? auf die leichteste, simpelste Art von der Welt. – Den Fall gesetzt, Sie hielten Ihr Wort nicht –
VON GRÖNINGSECK. Der Fall ist aber un möglich! –
EVCHEN. Das kann nur die Zeit lehren: – ich setz indessen – hören Sie nur! – Sie hielten Ihr Wort nicht, überließen mich meinem Schicksal, dem ganzen Gewicht der Schande, die mich erwartet, dem Zorn meiner Anverwandten, der Wut meines Vaters, glaubst du, daß ich dies alles abwarten würde? abwarten könnte? – gewiß nicht! – Die grauenvollste Wildnis würd ich aufsuchen, von allem, was menschliches Ansehn hat, entfernt, mich im dicksten Gesträuch vor mir selbst verbergen, nur den Regen des Himmels trinken, um mein Gesicht, mein geschändetes Ich nicht im Bach spiegeln zu dürfen; und wenn dann der Himmel ein Wunderwerk täte, mich und das unglückliche Geschöpf, das Waise ist, noch eh es einen Vater hat, beim Leben zu erhalten, so wollt ich, sobald es zu stammlen anfing, ihm statt Vater und Mutter, die gräßlichen Worte, Hure und Meineid, so lang ins Ohr schrein, bis es sie deutlich nachspräche, und dann in einem Anfall von Raserei durch sein Schimpfen mich bewöge, seinem und meinem Elend ein Ende zu machen. – Wär das nicht blutig? Gröningseck! –
VON GRÖNINGSECK. Nur zu sehr – die Haar stehn mir – ich bin Soldat – war sehr jung schon im Feld mit; hab manche schreckliche Szene mit angesehn – aber so was –
EVCHEN. Kannst nur du veranlassen, und ich ausführen!
VON GRÖNINGSECK. Da bewahr Sie Gott vor! – mir schaudert schon beim Gedanken! – Ums Himmels willen, Evchen! entsagen[1493] Sie doch allen diesen melancholischen Träumereien, schlagen Sie sich dieselben ganz aus dem Sinn – verlassen Sie sich auf mich, auf mein gegebenes Ehrenwort, auf meinen Überrest von Gefühl und Tugend; wenn's auch nur ein Fünkchen wär; so haben Sie es doch wieder angefacht.
EVCHEN. Gut, Gröningseck! so sei's denn! – ich versprech's Ihnen.
VON GRÖNINGSECK. Versprechen Sie mir aber auch ruhig und gelassen die Zeit zu erwarten?
EVCHEN nachdenkend. Ich möchte nicht gern mehr versprechen, als ich halten kann.
VON GRÖNINGSECK. Du kannst es, Liebchen! sobald du mir zutraust, daß ich ein ehrlicher Mann bin.
EVCHEN. Will ich mich nicht selbst verraten, und meine Eltern auf die wahre Spur bringen, so werd ich wohl müssen. – Sie glauben nicht, wie nah sie mir's schon gelegt, wie sehr sie mir zugesetzt haben! – mehr als einmal zitterte mir das fatale Geheimnis auf den Lippen, nur die Furcht –
VON GRÖNINGSECK. Behalten Sie's ja bei sich; ich beschwöre Sie darum; ich zittre, wenn ich mir Ihren Vater denke; – wenden Sie alles an, bieten Sie Ihre ganze Munterkeit auf, ja keinen Verdacht zu erwecken. – Es mutmaßt doch wohl niemand –
EVCHEN. Dem Magister trau ich am allerwenigsten! seine Luchsaugen haben mich schon mehr als einmal außer Fassung gebracht. – Der Auftrag, den Sie ihm gestern gaben, ging ihm gewaltig im Kopf herum; ich sah's ihm an, und stellte mich, als wäre mir gar nichts daran gelegen.
VON GRÖNINGSECK. Sollte er wohl niederträchtig genug sein, Ihnen schaden zu wollen?
EVCHEN. Das nicht, Gröningseck! – bös meint er's nicht mit mir, vielleicht nur zu gut. Soviel ich merke, hat er heimlich Absichten auf mich; meine Mutter mag mit drunter stecken. – Die Herren sind's gewohnt, sich als Kandidaten schon ihr Mädchen zu wählen; kriegen sie hernach in zehn, funfzehn Jahren eine Dorfpfarrei, so dörfen sie nicht lang nach einer Frau suchen.
VON GRÖNINGSECK. Bis dorthin können wir ihm vielleicht selbst mit einer Tochter bedient sein.
EVCHEN. Sorgen Sie nur, daß sie sich ihrer Mutter nicht schämen darf. – Jetzt gehn Sie; die Nachbarn sind's nicht gewohnt, so lange Licht bei mir zu sehn. –[1494]
VON GRÖNINGSECK. Bekümmert sich Evchen auch um die? –
EVCHEN. Wenn's da Aufs Herz deutend. nicht richtig ist – wenn das uns Vorwürfe macht, so fürchtet man sich vor seinem eignen Schatten. – Jetzt gehn Sie, sag ich; – morgen können Sie mich noch bei meiner Mutter sehn. Sie nehmen doch Abschied bei ihr?
VON GRÖNINGSECK. Sehn! aber nicht sprechen!
EVCHEN. Ich werde jeden Blick verstehn. – Sie gehn der Türe zu. Zwei Monat, sagten Sie?
VON GRÖNINGSECK. Zwei Monat aufs längste! das schwör ich Ihnen nochmals, im Angesicht des Monds und aller der Sterne, die dort am Firmament glänzen: mein letzter Blick, wenn ich morgen in Wagen steig, soll's Ihnen noch einmal schwören. – Nur ruhig, mein Liebchen!
Drückt Evchen die Hand, und geht ab. Evchen öffnet halb die Türe, steckt den Kopf hinaus, und ruft mit gedämpfter Stimme.
EVCHEN. Gröningseck! noch eins! Er kommt zurück, sie küßt ihn mit den Worten. Den kann ich Ihnen morgen nicht auf die Reis geben! Und riegelt die Tür schnell hinter ihm zu.
Der Vorhang fällt.
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