Vierte Szene

[290] Ein langer Zug von Frauen in prächtigen Gewändern schreitet langsam aus der Pforte der Kemenate auf den Söller; er wendet sich links auf dem Hauptwege am Palas vorbei und von da wieder nach vorn dem Münster zu, auf dessen Stufen die zuerst gekommenen sich aufstellen. – Elsa tritt im Zuge auf: die Edlen entblößen ehrfurchtsvoll die Häupter.


DIE EDLEN UND MANNEN.

Gesegnet soll sie schreiten,

die lang in Demut litt;

Gott möge sie geleiten,

Gott hüte ihren Schritt!


Die Edlen, die unwillkürlich die Gasse wieder vertreten hatten, weichen hier vor den Edelknaben aufs Neue zurück, welche dem Zuge, der bereits vor dem Palas angekommen ist, Bahn machen. – Elsa ist auf der Erhöhung vor dem Palas angelangt; die Gasse ist wieder offen, Alle können Elsa sehen, welche eine Zeitlang verweilt.


Sie naht, die Engelgleiche,

von keuscher Glut entbrannt!

Heil dir, o Tugendreiche!


Von hier an schreitet Elsa aus dem Hintergrunde langsam nach vorn durch die Gasse der Männer.


Heil Elsa von Brabant!


Außer den Edelknaben sind auch die vordersten Frauen bereits auf der Treppe des Münsters angelangt, wo sie sich aufstellen, um Elsa den Vortritt in die Kirche zu lassen. – Als Elsa den Fuß auf die zweite Stufe des Münsters setzt, tritt Ortrud, welche bisher unter den letzten Frauen des Zuges gegangen, heftig hervor, schreitet auf dieselbe Stufe und stellt sich so Elsa entgegen.


ORTRUD.

Zurück, Elsa! Nicht länger will ich dulden,

daß ich gleich einer Magd dir folgen soll!

Den Vortritt sollst du überall mir schulden,

vor mir dich beugen sollst du demutvoll!

DIE EDELKNABEN UND DIE MÄNNER.

Was will das Weib?


Ortrud wird von den Edelknaben nach der Mitte der Bühne zurückgedrängt.
[290]

ELSA heftig erschrocken.

Um Gott! Was muß ich sehn!

Welch jäher Wechsel ist mit dir geschehn?

ORTRUD.

Weil eine Stund ich meines Werts vergessen,

glaubest du, ich müßte dir nur kriechend nahn?

Mein Leid zu rächen, will ich mich vermessen,


Mit großer Kraft.


was mir gebührt, das will ich nun empfahn!


Lebhaftes Staunen und Bewegung Aller.


ELSA.

Weh, ließ ich durch dein Heucheln mich verleiten!

Die diese Nacht sich jammernd zu mir stahl:

wie willst du nun in Hochmut vor mir schreiten, –

du eines Gottgerichteten Gemahl?

ORTRUD mit dem Anschein tiefer Gekränktheit und stolz.

Wenn falsch Gericht mir den Gemahl verbannte,

war doch sein Nam' im Lande hochgeehrt;

als aller Tugend Preis man ihn nur nannte,

gekannt, gefürchtet war sein tapfres Schwert.

Der Deine, sag! wer sollte hier ihn kennen,

vermagst du selbst den Namen nicht zu nennen!

MÄNNER UND FRAUEN in großer Bewegung.

Was sagt sie? Ha, was tut sie kund?

Sie lästert! Wehret ihrem Mund!

ORTRUD.

Kannst du ihn nennen, kannst du uns es sagen,

ob sein Geschlecht, sein Adel wohl bewährt?

Woher die Fluten ihn zu dir getragen,

wann und wohin er wieder von dir fährt?

Ha, nein! Wohl brächte ihm es schlimme Not –

der kluge Held die Frage drob verbot.

MÄNNER UND FRAUEN.

Ha, spricht sie wahr? Welch schwere Klagen!

Sie schmähet ihn; darf sie es wagen?

ELSA nach großer Betroffenheit sich ermannend.

Du Lästerin! Ruchlose Frau!

Hör, ob ich Antwort mir getrau!


Mit großer Wärme.


So rein und edel ist sein Wesen,

so tugendreich der hehre Mann,

daß nie des Unheils soll genesen,

wer seiner Sendung zweifeln kann!

DIE MÄNNER.

Gewiß! Gewiß!

ELSA.

Hat nicht durch Gott im Kampf geschlagen

mein teurer Held den Gatten dein?


Zum Volke.
[291]

Nun sollt nach Recht ihr Alle sagen,

wer kann da nur der Reine sein?

MÄNNER UND FRAUEN.

Nur er! Nur er! Dein Held allein!

ORTRUD Elsa verspottend.

Ha, diese Reine deines Helden,

wie wäre sie so bald getrübt,

müßt er des Zaubers Wesen melden,

durch den hier solche Macht er übt;

wagst du ihn nicht darum zu fragen,

so glauben Alle wir mit Recht,

du müssest selbst in Sorge zagen,

um seine Reine steh es schlecht!

DIE FRAUEN Elsa unterstützend.

Helft ihr vor der Verruchten Haß!


Der Palas wird geöffnet; die vier Trompeter des Königs schreiten heraus und blasen.


DIE MÄNNER dem Hintergrund zu blickend.

Macht Platz! Macht Platz! Der König naht!


Quelle:
Richard Wagner: Die Musikdramen. Hamburg 1971, S. 290-292.
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