Das Vaterland

[96] An stillem Sommermorgen walle

So gern ich durch die Einsamkeit,

Wo sich des Tempels Säulenhalle,

Dem Göttervater einst geweiht,

Wo sich in tausendjähr'ger Trauer

Der Eintracht nun zertrümmert Haus,

Des Kapitoles ew'ge Dauer,

Aus Schutt erhebt und ödem Graus.


Gern blick' ich, wenn der Dämm'rung Schleier

Die sieben Hügel schon umwebt,

Dem Grabe mächtiger und freier

Der Geist des Alterthums entschwebt,

Hinunter in die dunkeln Tiefen,

Wo mir, zum ernsten Freund erwählt,

Von jenen Helden, die entschliefen,

Der alte Tibergott erzählt.


Gern wandl' ich auf verlassnen Wegen,

Die kaum ein trüber Schein erhellt,

Mit schauderndem Gefühl entgegen

Des Colosseums Trümmerwelt;

Wenn furchtsam von den wilden Schrecken

Des schwarzen Ungethüms verscheucht,

Der scheue Mond, sich zu verstecken,

In einer Wolke Schooß entfleucht.


Oft daß der furchtbaren Gestalten

Ehrwürd'ger Ernst mein Herz erfüllt,

Und mir der Gottheit strafend Walten

Ihr hoher Sehergeist enthüllt,

Wenn Michel Angelos Propheten

Gleich Stürmen aus den Himmeln wehn,

Und bei des Weltgerichts Trompeten

Die Todten aus dem Grab erstehn.
[97]

Oft daß ich selig mich erhebe

In Tabors heiligem Gesicht,

Daß ich dem sanften Geist erbebe,

Der überstrahlt von reinem Licht,

Mit Gottes glanzumflossnem Sohne,

Von seinen Jüngern treu verehrt,

Im Angesicht vor Gottes Throne,

Der Erd' entschwebend, sich verklärt.


Ich sah wie vom begrünten Saume1

Der Felswand in gewalt'ger Wuth

Dumpfdonnernd in zerstäubtem Schaume

Hinunterbraust des Anio Fluth,

Wie tief in uralt finstern Klüften

Der Meergott in den Wassern rauscht,

Und oben in den milden Lüften

Im Tempel die Sibylle lauscht.


Wenn endlich an Dianens Bade

Durch Alba's duft'gen Veilchenwald,

Fernhin das blumige Gestade,

Das Echo Jubel wiederhallt,

Durchs Schattenlaub, o welch Entzücken!

Des Abends goldner Regen träuft,

Durch blendend helle Blätterlücken

Der Blick zum nahen Meere schweift, –


Doch ohne Zagen, ohne Schwanken,

Weih' ich selbst in Elysium

Nur Einem herrlichen Gedanken

Mein Herz zum treuen Heiligthum,

Ob mir der Zauber aller Fernen

Und aller Meere sich erschließt,

Doch glaub' ich, daß ihn fliehn zu lernen

Auf dieser Welt kein Lethe fließt.
[98]

Du bist es, große theure Wiege,

Ach einst mein einzig Paradies,

Du Heimath schwer errungner Siege,

Die ich voll bittern Grams verließ,

O Mutter, die vom eignen Sohne

So schrecklich zürnend los sich wand,

Verschließe meinem Klagetone

Dein Ohr nicht, deutsches Vaterland!

Fußnoten

1 Wem ist die Cascade von Tibur nicht bekannt? Wer hat nicht schon ein Bild von ihr gesehen und bewundert?


Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Gedichte aus Italien, Band 1: Lieder des Römischen Karnevals und andere Gedichte, Leipzig 1893/1895, S. 96-99.
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