10. Daphnis beklagt sich, die Fillis habe in seiner Gegenwart den Strefon geküst

[86] 1.

Ach mein Leben tödtet mich!

Fillis will nichts von mir wissen,

Und hingegen lässt sie sich,

Weil ich da bin andre küssen:

Wann der stoltze Strefon will

Sich zu ihren Lippen legen,

Kommt sie selbst ihm halb entgegen,

Und befördert ihm das Spiel.


2.

Doch ich armer Daphnis muß,

Böses sehn und gutes dencken,

Denn es will kein feuchter Kuß,

Meine dürre Lippen träncken;

Mein Verhängnüß tröstet wohl,

Daphnis sey du nur geduldig,

Fillis bleibt dir etwas schuldig,

Das dir endlich werden soll.


3.

Unterdessen steckt mein Sinn,

Zwischen Eyver, Scham und Liebe,

Daß in dem ich lustig bin,

Ich mich ebenfalls betrübe.

Stell ich meine Freundschafft ein,

Oder bleib ich ihr ergeben?

Sol ich auf ihr falsches Leben

Günstig oder böse seyn?


4.

Weicht ihr Augen kehrt euch weg!

Wolt ihr meine Treu verfluchen,

Oder einen frembden Fleck

Auff den falschen Mündgen suchen?

Schliest die schwachen Lieder zu,

Denn ich brauch euch nur zur Straffe,

Gebt mir lieber als im Schlaffe

Finstre doch gewisse Ruh.


5.

Aber bleibt nur immer da,

Sol ich mich nur ärger straffen

Ihre Zier beliebt mir ja,

Drum so dörfft ihr auch nicht schlaffen,[87]

Sonst verdoppelt ihr die Noth,

Eilt und öffnet eure Lieder

Und erblickt die Schöne wieder,

Denn wo nicht, so bin ich tod.


6.

Ist es ja so weit geschehn,

Ach so wil ich ihr Gesichte,

Lieber falsch als gar nicht sehn,

Alldieweil ich mich verpflichte,

Daß die Fillis ihre Stadt,

Ohne liederliches Wancken

Zwar zuförderst im Gedancken,

Doch im Augen gleichfalls hat.


7.

Fillis aber dencke nach

Willst du meine Noth verlachen

Und durch solches Ungemach

Mir das Leben sauer machen?

Nun so thu es immerhin.

Doch daß ich nicht alles wisse,

So verspahre deine Küsse,

Biß ich nicht zugegen bin.

Quelle:
Christian Weise: Der grünenden Jugend überflüssige Gedanken, Halle a.d.S. 1914, S. 86-88.
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