2. Auf. Creon

[409] Es war Verachtung meine Frucht,

So lang' ich Creons Gunst in tiefster Demuht sucht';

Denn als mir die Geduld entfiel,

Erreicht' ich unverhofft durch Keckheit Zweck und Ziel.

Er war besorgt vor seine Ruh',

Und schrieb mir einen Brief voll Anerbietung zu:

Ich lahs ihn, und erkant hiebey,

Dass eines Narren Gunst gleich seinem Briefe sey;

Dass ehe man liesst seinen Gruss,1

Man erst sein Siegel brechen muss.


Fußnoten

1 Dass ehe man liesst seinen Gruss etc. Nichts ergetzet den Verstand eines sinnlichen Lesers mehr, als wenn man ihm ein Ding in dem andern; und in einem gemeinen Bilde eine nachdenckliche Sache vorstellet. Ein gemeiner Leser hält sich an die eigentliche Worte: Ein Sinnlicher aber siehet im ersten Augenblick so weit als der Verfasser, und weiss ihm Danck, dass indem er geschrieben, er nicht alle seine Leser vor Dudentöpfe gehalten habe.


Quelle:
Christian Wernicke: Epigramme, Berlin 1909, S. 409-410.
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