5. Auf den Socrates

[331] Was hilfft's dass ich den Socrat preise,

Was schadt es, dass sein Weib ihn schalt'?

Er war der Welt nach, Ungestalt,

Und nach der Götter Ausspruch, Weise:

Schön war sein Sinn, sein Leib verstellt,

Doch die Benennung ungewiss:1

Als eine Missgebuhrt betrat er diese Welt;

Und schien' ein Gott zu sein, indem er sie verliess.


Fußnoten

1 Doch die Benennung ungewiss. Ein Mann, welcher sich berühmte, dass er die Eigenschafften eines Menschen aus dessen Gesicht erkennen könne, kam einsten in des Socrates Schule; und als er auf der Schüler Ersuchen an ihrem Lehrmeister seine Kunst sehen lassen solte, und hierauf denselben als einen eifrigen, neidischen, hinterlistigen und bosshafften Menschen beschrieb; so wurden die Schüler hierüber so erbittert, dass sie diesen Gesichtkucker ohne Zweifel würden ums Leben gebracht haben, wenn sich nicht Socrates in die Mitte gestellet, und dieselbe versichert hätte: Dass er allen diesen greulichen Lastern von Natur ergeben gewesen wäre; durch die Welt-Weissheit aber nach gerade sich derselben entledigt hätte. So dass unser schon offt angezogene Poet mit recht gesaget:


Invidus, iracundus, iners, vinosus, amator,

Nemo adeo ferus est, ut non mitescere possit,

Si modo culturae patientem commodet aurem.


Ep. I. lib. I.


Quelle:
Christian Wernicke: Epigramme, Berlin 1909, S. 331.
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