6. Mütterliche Liebe

[331] Der Zeuchnüss' ernster Gunst, die von der Mutter Hand[331]

Ein unerzognes Kind empfängt, der sind so viel,

Dass vor dem einen nicht das andre wird erkant;

Den bleichen Sternen gleich, die, in dem fernen Ziel,

Kaum dass es Sterne sind, das Auge kan verspüren;

Und die sich in der Zahl bescheidentlich verlieren:

So dass, weil Mutter-Gunst trit an der Götter stat,

Dem Himmel gleich die Lieb' auch ihre Milchstrass' hat.1


Fußnoten

1 Dem Himmel gleich die Lieb' auch ihre Milchstrass' hat. Dass der weisse Zug welchen man des Nachts am Himmel siehet, und die Milchstrasse oder via lactea genant wird, in unzehlig viel kleinen Sternen bestehe, ist einem jeden bekannt. Wannenhero man die Mütterliche Wohlthaten mit dieser Milchstrasse desto füglicher vergleichen können, weil die erstere derselben mit der Milch von den Brüsten gesogen werden; Und man also in der vorigen Ausgabe diese Uberschrifft mit folgendem Verse so ungereimt nicht, geschlossen:


Der Liebe Milchstrass fängt an ihren Brüsten an.


Weil man aber vermerckt, dass der Leser in der vorigen Ausgabe sich an die Verkürtzung einiger Worte, ohne dass ein selbstlauter Buchstabe auf dieselbe gefolget, gestossen habe; und man folgends gedacht, er würde auch allhier in dem Wort: Milchstrass, das E. am Ende vermissen; so hat man, wie in allen andern Versen, also auch in diesem den vermeinten Fehler ersetzen, und damit die Verbesserung der Mühe wehrt schiene, auch gemeiniglich den Verstand zu verbessern gesucht. Wie denn ein geschickter Leser den Unterscheid zwischen diesen zweyen Schlüssen gar leicht erkennen wird. Sintemahl der letzt angezogene nur einen artigen, der andere aber einen edlen Verstand hat. Sonsten hat man wegen des Buchstabs E. allhier beyläuffig zu erinnern, dass man auch hierinnen seine Richtschnur von den Schlesiern allein nicht nehmen muss; dieweil dieselbe diesen Buchstaben nicht allein unnöthig zu vielen Worten setzen, sondern auch offtmahls durch denselben der Sprache gewalt thun. Als: Abe vor ab. Er geht ihm gleiche. Das Gelücke. Ohre. Geiste. Die Furchte. Er sprachte. Abereisen. Welche alle, wie ich sie nebst vielen andern in des Herrn von Hoffmanswaldaus Briefen im Durchblättern gefunden; also weiss ich mich wol zu erinnern, dass dergleichen auch im Herrn von Lohenstein häuffig anzutreffen sind. Wie mir den zum Beweiss folgende Verse einfallen:


Das Thier beym Hyppanis, das eine Nacht gebiehrt,

Stirbt mit dem Abende.


Ibrahim Trauersp.


Nun möchte ich fragen, ob nicht in vielen Worten ein am Ende abgeschnittenes E. die Ohren minder verletze, als ein in diesen angezogenen Worten hinzugesetztes E. Etsi enim suus cuique modus est, tamen magis offendit nimium quam parum. Cicero de Orat.


Quelle:
Christian Wernicke: Epigramme, Berlin 1909, S. 331-332.
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