Erste Szene

[28] Tiefer Wald. Im Hintergrunde der Ilsenstein, von dichtem Tannengehölz umgeben. Rechts eine mächtige Tanne, darunter sitzt Gretel auf einer moosbedeckten Wurzel und windet einen Kranz von Hagebutten; neben ihr liegt ein Blumenstrauß. Links, abseits im Gebüsch, Hänsel, nach Erdbeeren suchend. Abendrot.


GRETEL.

Ein Männlein steht im Walde ganz still und stumm,

es hat von lauter Purpur ein Mäntlein um.

Sagt, wer mag das Männlein sein,

das da steht im Wald allein

mit dem purpurroten Mäntelein?

Das Männlein steht im Walde auf einem Bein

und hat auf seinem Kopfe schwarz Käpplein klein.

Sagt, wer mag das Männlein sein,

das da steht im Wald allein

mit dem kleinen schwarzen Käppelein?


Sie hält das Hagebuttenkränzchen in die Höhe und betrachtet es von allen Seiten.
[28]

HÄNSEL kommt hervor und schwenkt jubelnd sein Körbchen.

Juchhe!

Mein Erbelkörbchen ist voll bis oben;

wie wird die Mutter den Hänsel loben!

GRETEL aufstehend.

Mein Kränzel ist auch schon fertig, sieh!

So schön wie heute ward's noch nie!


Will den Kranz Hänsel auf den Kopf setzen.


HÄNSEL barsch abwehrend.

Buben tragen doch so was nicht,

's ist nur für ein Mädchengesicht!


Setzt ihr den Kranz auf.


Hei, Gretel, feines Mädel!

Ei, der Daus,

siehst ja wie die Waldkönigin aus!

GRETEL.

She' ich wie die Waldkönigin aus,

so reich mir auch den Blumenstrauß.

HÄNSEL gibt ihr den Strauß.

Waldkönigin mit Zepter und Kron',

da, nimm auch die Erbeln, doch nasch nicht davon!


Er gibt ihr das Körbchen voll Erdbeeren in die andere Hand und läßt sich gleichsam huldigend auf die Knie vor ihr nieder. In diesem Augenblick ertönt der Ruf eines Kuckucks.


HÄNSEL mit der Hand deutend.

Kuckuck! Eierschluck!

GRETEL schalkhaft.

Kuckuck! Erbelschluck!


Nimmt eine Beere aus dem Körbchen und schiebt sie Hänsel in den Mund, der sie schlürft, als ob er ein Ei austränke.


HÄNSEL springt auf.

Hoho! Das kann ich auch! Gib nur acht!


Nimmt einige Beeren und läßt sie Gretel in den Mund rollen.


Wir machen's, wie der Kuckuck schluckt,

wenn er in fremde Nester guckt!


Der Kuckuck ruft abermals. Es beginnt zu dämmern.


HÄNSEL greift wieder zu.

Kuckuck! Eierschluck!

GRETEL ebenso.

Kuckuck! Erbelschluck!

HÄNSEL.

Setzest deine Kinder aus!

Kuckuck![29]

Trinkst die fremden Eier aus!

Gluckgluck!


Läßt sich eine Handvoll Beeren in den Mund rollen.


GRETEL.

Sammelst Beeren schön zuhauf,

Kuckuck!

Schluckst sie, Schlauer, selber auf!

Schluckschluck!


Sie werden immer übermütiger und raufen sich schließlich um die Beeren. Hänsel trägt den Sieg davon und setzt den Korb vollends an den Mund, bis er leer geworden. Indessen hat die Dunkelheit immer mehr zugenommen.


GRETEL Hänsel den Korb entreißend.

Hänsel, was hast du getan? O Himmel!

Alle Erbeln gegessen, du Lümmel!

Wart nur, das gibt ein Strafgericht,

denn die Mutter, die spaßt heute nicht!

HÄNSEL ruhig.

Ei was, stell dich doch nicht so an,

du, Gretel, hast es ja selber getan!

GRETEL.

Komm, wir wollen rasch neue suchen!

HÄNSEL.

Im Dunkeln wohl gar, unter Hecken und Buchen?

Man sieht ja nicht Blatt, nicht Beere mehr!

Es wird schon dunkel ringsumher!

GRETEL.

Ach, Hänsel, Hänsel! Was fangen wir an?

Was haben wir törichten Kinder getan?

Wir durften hier nicht so lange säumen!

HÄNSEL.

Horch, wie es rauscht in den Bäumen! –

Weißt du, was der Wald jetzt spricht? –

»Kindlein, Kindlein«, fragt er, »fürchtet ihr euch nicht?«


Er späht unruhig umher. – Endlich wendet er sich verlegen zu Gretel.


Gretel! Ich weiß den Weg nicht mehr!

GRETEL bestürzt.

O Gott! Was sagst du? den Weg nicht mehr?

HÄNSEL sich mutig stellend.

Was bist du für ein furchtsam Wicht!

Ich bin ein Bub und fürcht mich nicht!

GRETEL.

Ach, Hänsel! Gewiß geschieht uns ein Leid![30]

HÄNSEL.

Ach, Gretel, geh, sei doch gescheit!

GRETEL.

Was schimmert denn dort in der Dunkelheit?

HÄNSEL.

Das sind die Birken im weißen Kleid.

GRETEL.

Und dort, was grinset daher vom Sumpf?

HÄNSEL stotternd.

D–d–das ist ein glimmender Weidenstumpf!

GRETEL hastig.

Was für ein wunderlich Gesicht

macht er soeben – siehst du's nicht?

HÄNSEL sehr laut.

Ich mach dir 'ne Nase, hörst du's, du Wicht?

GRETEL ängstlich.

Da sieh, das Lichtchen – es kommt immer näh'r.

HÄNSEL.

Irrlichtchen hüpfet wohl hin und her!

Gretel, du mußt beherzter sein –

wart, ich will einmal tüchtig schrei'n!


Er geht einige Schritte zum Hintergrund und ruft durch die hohlen Hände.


Wer da?

ECHO.

Er da!


Die Kinder schmiegen sich erschreckt aneinander.


GRETEL zaghaft.

Ist Jemand da?

ECHO leise.

Ja!


Die Kinder schaudern zusammen.


GRETEL.

Hast du gehört: 's rief leise: Ja!

Hänsel, sicher ist jemand nah!


Weinend.


Ich fürcht mich, ich fürcht mich!

O wär' ich zu Haus!

Wie sieht der Wald so gespenstig aus!

HÄNSEL.

Gretelchen, drücke dich fest an mich!

Ich halte dich, ich schütze dich!


Ein dichter Nebel steigt auf und verhüllt den Hintergrund gänzlich.


GRETEL.

Da kommen weiße Nebelfrauen,

sieh, wie sie winken und drohend schauen!

Sie kommen, sie kommen,

sie fassen uns an!


Schreiend.


Vater, Mutter!


Eilt entsetzt unter die Tanne und verbirgt sich, auf die Knie stürzend, hinter Hänsel.

In diesem Augenblick zerreißt links der Nebel; ein kleines graues Männchen, mit einem Säckchen auf dem Rücken, wird sichtbar.
[31]

HÄNSEL.

Sieh, dort das Männchen, Schwesterlein!

Was mag das für ein Männlein sein?


Quelle:
Engelbert Humperdinck: Hänsel und Gretel, von Adelheid Wette, Stuttgart 1981, S. 28-32.
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