[35] Wie am Schlusse des zweiten Bildes. Der Hintergrund noch von Nebel verhüllt, der sich während des Folgenden langsam verzieht. Die Engel sind verschwunden. – Früher Morgen. Taumännchen tritt auf und schüttelt aus einer Glockenblume Tautropfen auf die schlafenden Kinder.
TAUMÄNNCHEN.
Der kleine Tau-mann heiß ich – kling!
Und mit der Sonne reis ich – klang!
Von Ost bis Westen weiß ich – kling!
Wer faul ist und wer fleißig – klang!
Ich komm mit goldnem Sonnenschein
und strahl in eure Äugelein
und weck mit kühlem Taue,
was schläft auf Flur und Aue.
Dann springet auf, wer munter
in früher Morgenstunde,
denn sie hat Gold im Munde,
drum auf, ihr Schläfer, erwachet,
der lichte Tag schon lachet!
Eilt davon. Die Kinder regen sich.
GRETEL öffnet die Augen, richtet sich halb auf und blickt verwundert um sich, während Hänsel sich auf die andere Seite legt, um weiterzuschlafen.
Wo bin ich? Wach ich? Ist es ein Traum?
Hier lieg ich unterm Tannenbaum.
Hoch in den Zweigen da lispelt es leise,
Vöglein singen so süße Weise.
Wohl früh schon waren sie aufgewacht
und haben ihr Morgenlied dargebracht.
Ihr lieben Vöglein, guten Morgen!
Sie erblickt Hänsel.
Sieh da, der faule Siebenschläfer!
Wart nur, dich weck ich!
[35] Sie bückt sich zu ihm nieder und singt.
Tirelireli,
's ist nicht mehr früh!
Die Lerche hat's gesungen
und hoch sich aufgeschwungen.
Aufspringend.
Tirelireli!
HÄNSEL der während des Liedes erwacht ist, reibt sich die Augen und stimmt, gleichfalls aufspringend, munter in Gretels Weise ein.
Kikeriki!
's ist noch früh!
Ja, hab's wohl vernommen,
der Morgen ist gekommen,
Kikeriki!
Dehnt sich.
Mir ist so wohl, ich weiß nicht wie;
so gut wie heute schlief ich noch nie!
GRETEL.
Doch höre nur! Hier unter'm Baum,
hatt' ich 'nen wunderschönen Traum.
HÄNSEL.
Richtig! Auch mir träumte was!
GRETEL.
Mir träumte, ich hör ein Rauschen und Klingen,
wie Chöre der Engel, ein himmlisches Singen.
Lichte Wölkchen in rosigem Schein
wallten und wogten ins Dunkel herein.
Siehe, hell ward's mit einem Male,
lichtdurchflossen vom Himmelsstrahle;
eine gold'ne Leiter sah ich sich neigen,
Engel herniedersteigen,
Engel mit gold'nen Flügelein –
HÄNSEL sie lebhaft unterbrechend.
Vierzehn müssen's gewesen sein!
GRETEL erstaunt.
Hast du denn alles dies auch gesehen?
HÄNSEL.
Freilich! 's war wunderschön –
und dorthin sah ich sie gehn!
Er wendet sich nach dem Hintergrunde. In diesem Augenblick zerreißt der letzte Nebelschleier. An Stelle des Tannengehölzes erscheint glitzernd im Strahl der aufgehenden Sonne das »Knusperhäuschen« am Ilsenstein. Links davon in einiger Entfernung befindet sich ein Backofen, diesem rechts gegenüber ein großer Käfig, beide mit dem Knusperhäuschen durch einen Zaun von Kuchenmännern verbunden.
Ausgewählte Ausgaben von
Hänsel und Gretel
|
Buchempfehlung
Karls gealterte Jugendfreundin Helene, die zwischenzeitlich steinreich verwitwet ist, schreibt ihm vom Tod des gemeinsamen Jugendfreundes Velten. Sie treffen sich und erinnern sich - auf auf Veltens Sterbebett sitzend - lange vergangener Tage.
150 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.
442 Seiten, 16.80 Euro