16.
Antipater an Diogenes.

[253] Mehr als zehn Jahre sind schon verflossen, seit ich mit Aristipp bekannt wurde, und das Glück hatte, seines Umgangs während eines großen Theils dieser Zeit täglich zu genießen. Ich habe ihn in mancherlei Lagen und Verhältnissen gesehen und beobachtet; oder, richtiger zu reden, er zeigte sich mir immer so offen, unzurückhaltend und anspruchlos, daß ich, um ihn kennen zu lernen, nichts als das Paar gesunde Augen brauchte, womit mich die Natur ausgestattet hat. Es müßte also nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn ich von den Grundsätzen, die er in seinem Leben befolgt (und er hat keine andern) nicht besser unterrichtet seyn sollte, als[253] Leute die ihn bloß von Hörensagen kennen, oder aus einem zufälligen Umgang und im Flug aufgeschnappten einzelnen Worten über ihn abzusprechen sich vermessen.

Du wirst dich daher nicht wundern, Freund Diogenes, wenn ich dir sage, daß ich nicht ohne Unwillen hören kann, mit welcher Dreistigkeit er noch immer von einigen Sokratikern, besonders von den eifrigsten Anhängern der Akademie, öffentlich beschuldigt wird, daß er die Grundsätze des gemeinschaftlichen Meisters der Athenischen Schule nicht nur verfälsche, sondern sogar das förmliche Gegentheil derselben lehre und ausübe, indem er die Wollust, und zwar bloß die körperliche oder den groben thierischen Sinnenkitzel, für das höchste Gut des Menschen erkläre, ausdrücklich behauptend: es gebe kein anderes Vergnügen als die Sinnenlust, und alles übrige bestehe bloß in leeren Einbildungen, womit nur Leute sich zu täuschen suchten, denen es an den Mitteln fehle, sich den wirklichen Genuß aller Arten von sinnlichen Vergnügungen zu verschaffen.

Ich gestehe dir, Diogenes, meine Geduld reißt, wenn ich diese alten abgeschmackten Verleumdungen noch immer von Männern, denen der Name Sokratiker zur Beglaubigung dient, erneuern, und, auf deren Verantwortung, aus so manchen schnatternden Gänsehälsen und gähnenden Eselskinnladen widerhallen höre; und mehr als einmal bin ich schon im Begriff gewesen, nach der Aristophanischen Geißel zu langen und die Thoren öffentlich dafür zu züchtigen, wenn mich nicht die Achtung für Aristippen, der keiner Rechtfertigung bedarf, und die Verachtung seiner Verleumder, die der[254] Züchtigung nicht werth sind, jedesmal zurückgehalten hätte. Indessen kann ich mir doch die Befriedigung nicht versagen, wenigstens dir, mein alter Freund, wiewohl du es (denke ich) nicht schlechterdings vonnöthen hast, einen Aufschluß über diese Sache zu geben, der dir begreiflich machen wird, wie eine so alberne Sage unter den morosophirenden43 Müßiggängern und Schwätzern zu Athen entstehen konnte.

Den ersten Anlaß mag wohl der starke Abstich gegeben haben, den die verhältnißmäßig etwas üppige Lebensweise Aristipps mit dem schlechten Aufzug und der sehr magern Diät der meisten Sokratiker und des Meisters selbst machte, und der jenen um so anstößiger seyn mochte, weil er im ersten Jahre seines Umgangs mit Sokrates sich ihnen in allem ziemlich gleich gestellt hatte. Indessen war Aristipp nicht der einzige, der sich auf diese Art auszeichnete; mehrere begüterte Freunde des Weisen lebten auf einem ihrem Vermögen angemessenen Fuß, und er selbst (sagt man) war weit entfernt mit seiner Armuth zu prunken, und diejenigen mit stolzer Verachtung anzusehen, die nicht, wie er, von einem Triobolon des Tages leben wollten, weil sie wollen mußten. Warum wurde denn Aristippen allein so übel genommen, was man an andern nicht ungehörig fand? Ohne Zweifel lag der wahre Grund darin, daß Aristipp überhaupt nicht recht zu den meisten Sokratikern paßte, und da er dieß bald genug gewahr wurde, von Zeit zu Zeit aus ihrem Kreise heraustrat und sich auch mit andern, die nicht zu ihnen gehörten, sogar mit einem Hippias und Aristophanes, in freundschaftliche Verhältnisse setzte. Hierzu kam noch, daß er, bei aller seiner[255] Verehrung für den Geist und Charakter des Sokrates, eben so wenig zum Nachtreter und Widerhall desselben geboren war als Plato, und sich eben so wenig verbunden hielt über alle Dinge einerlei Meinung mit ihm zu seyn, als sich ihm in seiner absichtlichen Beschränkung auf das Unentbehrliche gleich zu stellen. So reizten z.B. eine Menge wissenschaftlicher Gegenstände seine Neugier, welche Sokrates für unnütze Grübeleien erklärte; und so machte er auch kein Geheimniß daraus, daß der Attische Weise ihm die eigentliche Lebensphilosophie zu sehr in den engen Kreis des bürgerlichen Lebens und auf das Bedürfniß eines Attischen Bürgers einzuschränken scheine; da er selbst hingegen schon damals Trieb und Kraft in sich fühlte, einen freiern Schwung zu nehmen, und die Verhältnisse des Bürgers von Cyrene den höhern und edlern des Kosmopoliten, wo nicht aufzuopfern, doch nachzusetzen.

Indessen hinderte dieß alles nicht, daß Aristipp, so lange Sokrates lebte, für einen seiner Freunde und Homileten44 vom engern Ausschuß, und selbst in Ansehung des Wesentlichsten seiner Philosophie für einen Sokratiker galt. Als aber nach dem Tode des Meisters Antisthenes und Plato sich an die Spitze dessen, was man jetzt die Sokratische Schule zu nennen anfing, stellten, und die Stifter zweier Secten wurden, welche, ihrer Verschiedenheit in andern Stücken ungeachtet, darin übereinkamen, daß sie gewisse Sokratische Grundbegriffe und Maximen weit über den Sinn des Meisters und bis auf die äußerste Spitze trieben: so mußte nun, wie Aristipp von seinen langen Wanderungen nach Athen zurückkam und ebenfalls[256] eine Art von Sokratischer Schule eröffnete, nothwendig eine öffentliche Trennung erfolgen, wobei die Pflichten der Gerechtigkeit und Anständigkeit, wenigstens auf Einer Seite, ziemlich ins Gedränge kamen. Beide, Plato und Antisthenes, sprachen von allen Vergnügungen, woran der Körper Antheil nimmt, mit der tiefsten Verachtung: dieser, weil er »nichts bedürfen« für ein Vorrecht der Gottheit hielt, und also, nach ihm, der nächste Weg zur höchsten Vollkommenheit ist, sich, außer dem schlechterdings Unentbehrlichen, alles zu versagen was zum animalischen Leben gerechnet werden kann; jener, weil er den Leib für den Kerker der Seele, und die Ertödtung aller sinnlichen Triebe für das kürzeste Mittel ansieht, das innere Leben des Geistes frei zu machen, und die Seele aus der Traumwelt wesenloser Erscheinungen zum unmittelbaren Anschauen des allein Wahren, der ewigen Ideen und des ursprünglichen Lichts, worin sie sichtbar werden, zu erheben. Aristipp, dem alles Uebertriebene, Angemaßte und über die Proportionen der menschlichen Natur Hinausschwellende lächerlich oder widrig ist, mochte sich, als er noch zu Athen lebte, bei Gelegenheit erlaubt haben, über diese philosophischen Solöcismen45 seiner ehemaligen Lehrgenossen in einem Tone zu scherzen, den der sauertöpfische Antisthenes so wenig als der feierliche Plato leiden konnte. Beide rächten sich (jeder seinem Charakter gemäß, jener gallicht und plump, dieser fein und kaltblütig) durch die Verachtung, womit sie von dem Manne und seiner Lehre sprachen. Aristippen hieß die Sinnenlust eben sowohl ein Gut als irgend ein anderes; er sah keinen Grund, warum er es über diesen Punkt[257] nicht mit dem ganzen menschlichen Geschlecht halten sollte, welches stillschweigend übereingekommen ist, alles gut zu nennen, was dem Menschen wohl bekommt; ja er war so weit gegangen, zu behaupten: auch das geistigste Vergnügen sey im Grunde sinnlich, und theile den Organen des Gefühls eine Art angenehmer Bewegung mit, deren Aehnlichkeit und Verwandtschaft mit andern körperlichen Wollüsten von jedem sich selbst genau beobachtenden nicht verkannt werden könne. Diese Sätze wurden, ohne daß man sich auf ihre Beweise und genauere Erörterung einließ, in der Akademie und im Cynosarges für übeltönend und antisokratisch erklärt; und so erzeugte sich unvermerkt bei allen, denen Aristipp nicht besser als von bloßem Ansehen oder Hörensagen bekannt war, jene ungereimte Meinung, die ihm und seinen Freunden von den Anhängern der beiden Tyrannen, die sich damals in die Beherrschung der philosophischen Republik theilten, den Spitznamen Wollüstler (Hedoniker) zugezogen haben. Das Mißverständniß wäre leicht zu heben gewesen, oder würde vielmehr gar nicht stattgefunden haben, wenn jene Herren nicht so einseitig und steifsinnig wären, ihre persönliche Vorstellungsart zum allgemeinen Kanon der Wahrheit zu machen. Die meisten Fehden über solche Dinge hörten von selbst auf, wenn die verschieden Redenden vor allen Dingen gelassen untersuchen wollten, ob sie auch wirklich verschieden denken; und in zehn Fällen gegen einen würde sogleich Friede unter den Kämpfern werden, wenn sie anstatt um Worte zu fechten und in der Hitze der Rechthaberei sich selbst immer ärger zu verwickeln, die Begriffe kaltblütig auseinander setzen und, so[258] weit es angeht, in ihre einfachsten Elemente auflösen wollten. Daher kommt es ohne Zweifel, daß Aristipp in solchen Fällen immer das allgemeine Wahrheitsgefühl der Zuhörer auf einer Seite hat. Wie stark auch das gegen ihn gefaßte Vorurtheil bei einer sonst unbefangenen Person seyn mag, sobald er sich erklärt hat, wird man entweder seiner Meinung, oder sieht, daß man es bereits gewesen war und sich die Sache nur nicht deutlich genug gemacht hatte; oder man begreift wenigstens, wenn man gleich selbst nicht völlig überzeugt ist, wie es zugeht, daß andere verständige Leute seiner Meinung seyn können.

Mit Plato und Antisthenes hat es nun freilich eine andere Bewandtniß. Ihre Philosophie ist von Aristipps zu sehr verschieden, um eine Vereinigung zuzulassen. Die seinige begnügt sich menschliche Thiere zu Menschen zu bilden – was jenen zu wenig ist; die ihrige vermißt sich Menschen zu Göttern umzuschaffen, was ihm zu viel scheint. Sie gehen von Begriffen und Grundsätzen aus, die mit den seinigen in offenbarem Widerspruch stehen. Die Fehde zwischen ihnen kann also nur durch eine Unterwerfung aufhören, zu welcher wohl keine von den streitenden Mächten sich je verstehen wird. Ich verlange aber auch für meinen Lehrer und Freund sonst nichts von ihnen, als nur nicht unbilliger gegen ihn zu seyn, als er gegen sie ist. Mögen sie doch sein System mit stolzem Naserümpfen verhöhnen, oder mit gerunzelter Stirne verdammen! Nur verfälschen sollen sie es nicht.

Uebrigens ist bekannt genug, oder könnt' es wenigstens seyn, daß Aristipp nie eine eigene philosophische Secte zu stiften[259] begehrt, und so wenig als Xenophon oder Sokrates selbst, seine Lebensweisheit jemals schulmäßig gelehrt hat. Denn daß er vor vielen Jahren, während seines letzten Aufenthalts in Athen, die Philosophie des Sokrates einigen Liebhabern, die sich schlechterdings nicht abweisen lassen wollten, zu großem Aergerniß der übrigen Sokratiker, um baare Bezahlung, unverändert und ohne etwas von dem Seinigen hinzuzuthun, vorgetragen, gehört nicht hierher. Er that damit nichts anders, als was ein Maler thut, wenn er eine mit allem Fleiß gearbeitete Copei eines berühmten Gemäldes eines ältern Meisters, nicht für das Urbild selbst, sondern für das was es ist, für ein Nachbild verhandelt. Das, was man seine eigene Philosophie nennen kann, stellt er weniger in mündlichen und schriftlichen Unterweisungen als in seinem Leben dar; ob er gleich kein Bedenken trägt, seine Art über die menschlichen Dinge zu denken. und die Gründe, die sein Urtheil, es sey nun zum Entscheiden oder zum Zweifeln, bestimmen, bei Gelegenheit an den Tag zu geben, zumal in Gesellschaften, die zu einer freien und muntern Unterhaltung geeignet sind. Unter vertrautern und kampflustigen Freunden läßt er sich auch wohl in dialektische Gefechte ein, wo es oft zwischen Scherz und Ernst so hitzig zugeht, als ob um einen Olympischen Siegeskranz gerungen würde; aber auch diese Spiegelgefechte endigen sich doch immer, wie alle Kämpfe dieser Art billig endigen sollten: nämlich daß die Ermüdung der Kämpfer dem Spiel ein Ende macht, und jeder mit heiler Haut, d.i. mit seiner eigenen unverletzten Meinung davon geht, zufrieden sich wie ein Meister der Kunst gewehrt zu[260] haben, und die Zuhörer ungewiß zu lassen, welcher von beiden der Sieger oder der Besiegte sey. Ich will damit keinesweges sagen, daß Aristipp von seinem System, in wiefern es ihm selbst zum Kanon seiner Vorstellungsart und seines praktischen Lebens dient, nicht wenigstens eben so gut überzeugt sey als Plato von dem seinigen; nur glaubt er nicht, daß eine ihm selbst angemessene Denkweise und Lebensordnung sich darum auch für alle andern schicken, oder was ihm als wahr erscheint, auch von allen andern für wahr erkannt werden müsse.

Gestehe, Diogenes, daß man mit einem so anspruchlosen Geistescharakter eher alles andere als ein Sectenstifter seyn wird, und daß es sogar widersinnisch ist, denjenigen dazu machen zu wollen, der eben darum, weil er seine Art zu denken und zu leben unter seine persönlichen und eigenthümlichen Besitzthümer rechnet, andern nur so viel davon mittheilt, als sie selbst urtheilen, daß ihnen ihrer innern Verfassung und ihren äußerlichen Umständen nach zuträglich seyn könne.

Uebrigens sehe ich nicht, warum er nicht eben so gut als andere berechtigt wäre, seine Grundbegriffe für allgemein wahr und brauchbar zu geben. Was er unter jener, seinen Tadlern so unbillig verhaßten Hedone (welche, nach ihm, das Wesen der menschlichen Glückseligkeit ausmacht) versteht, ist nicht Genuß wollüstiger Augenblicke, sondern dauernder Zustand eines angenehmen Selbstgefühls, worin Zufriedenheit und Wohlgefallen am Gegenwärtigen mit angenehmer Erinnerung des Vergangenen und heiterer Aussicht in die Zukunft ein so harmonisches Ganzes ausmacht, als das gemeine Loos der[261] Sterblichen, das Schicksal, über welches wir gar nichts – und der Zufall, über den wir nur wenig vermögen, nur immer gestatten will. Ist etwa die Eudämonie der andern Sokratiker im Grunde etwas anders als ein solcher Zustand? Warum hält man sich, anstatt sich um Worte und Formeln zu entzweien, nicht lieber an das, worin alle übereinkommen? Wer wünscht nicht so glücklich zu seyn als nur immer möglich ist? Und, wie verschieden auch die Quellen sind, woraus die Menschen ihr Vergnügen schöpfen, ist das Vergnügen an sich selbst nicht bei allen eben dasselbe? Warum soll es Aristippen nicht eben so wohl als andern erlaubt seyn, Worte, die der gemeine Gebrauch unvermerkt abgewürdigt hat, wieder zu Ehren zu ziehen und z.B. die schuldlose Hedone, wiewohl sie gewöhnlich nur von den angenehmen Gefühlen der Sinne gebraucht wird, zu Bezeichnung eines Begriffs, der alle Arten zusammenfaßt, zu erheben? Daß durch einen weisen Genuß alle unsrer Natur gemäßen Vergnügungen, sinnliche und geistige, sich nicht nur im Begriff, sondern im Leben selbst sehr schön und harmonisch vereinigen lassen, hat Aristipp noch mehr an seinem Beispiel als durch seine Lehre dargethan. Seine Philosophie ist eine Kunst des Lebens unter allen Umständen froh zu werden, und bloß zu diesem Ende, sich von Schicksal und Zufall, und überhaupt von aller fremden Einwirkung so unabhängig zu machen als möglich. Nicht wer alles entbehren, sondern wer alles genießen könnte, wär' ein Gott; und nur, weil die Götter das letztere sich selbst vorbehalten, den armen Sterblichen hingegen über alle die Uebel, welche sie sich selbst zuziehen, noch so viel Noth und Elend von außen aufgeladen[262] haben als sie nur immer tragen können, nur aus diesem Grund ist es nothwendig, daß der Mensch entbehren lerne was er entweder gar nicht erreichen kann, oder nur durch Aufopferung eines größern Gutes sich verschaffen könnte.

Doch ich sehe, daß ich mich unvermerkt in Erörterungen einlasse, die zu meiner Absicht sehr entbehrlich sind. Denn es versteht sich, daß ich dich nicht zur Philosophie Aristipps bekehren, sondern nur geneigt machen möchte, dich des Charakters eines Mannes, den ich als einen der edelsten und liebenswürdigsten Sterblichen kenne, bei Gelegenheit mit so viel Wärme, als deiner wohlbekannten Kaltblütigkeit zuzumuthen ist, gegen seine unbilligen Verächter anzunehmen. Ich befriedige dadurch bloß mein eigenes Herz; Aristipp weiß nichts von diesem Briefe, und scheint sich überhaupt um alles, was seine ehemaligen Mitschüler von ihm sagen und schreiben, wenig zu bekümmern. Indessen nährt er doch für die Athener noch immer eine Art von Vorliebe, die ihn über ihre gute oder böse Meinung von ihm nicht so ganz gleichgültig seyn läßt als er das Ansehen haben will. Zuweilen wenn die Rede von den Albernheiten, Unarten und Verkehrtheiten ist, wodurch sie ehemals dem Witz ihres Aristophanes so reichen Stoff zu unerschöpflichen Spöttereien und Neckereien gegeben haben, sollte man zwar meinen, er denke nicht gut genug von ihnen, um sich viel aus ihrem Urtheil zu machen: aber im Grund entspringt sein bitterster Tadel bloß aus dem Unmuth eines Liebhabers, der sich wider seinen Willen gestehen muß, daß seine Geliebte mit Mängeln und Untugenden behaftet ist, die es ihm unmöglich machen sie hoch zu achten, und[263] worin sie sich selbst so wohl gefällt, daß keine Besserung zu hoffen ist.

Ich höre, daß du seit dem Tode des alten Antisthenes nach Athen zurückgekehrt seyest, um, wie man sagt, von seiner Schule im Cynosarges Besitz zu nehmen, da du itzt als das Haupt der von ihm gestifteten Secte betrachtet werdest. Ich kenne dich zu gut, Freund Diogenes, um nicht zu wissen, wie dieß zu verstehen ist. Du wirst so wenig als Sokrates und Aristipp in dem gewöhnlichen Sinn des Worts, an der Spitze einer Schule oder Secte stehen wollen, und deine Philosophie läßt sich so wenig als die ihrige durch Unterweisung lernen. Aber die Athener bedürfen deines scherzenden und spottenden Sittenrichteramts mehr als jemals; und wenn gleich wenig Hoffnung ist, daß du sie weiser und besser machen werdest, so kann es ihnen doch nicht schaden, einen freien Mann, dessen sämmtliche Bedürfnisse auf einen Stecken in der Hand und eine Tasche voll Wolfsbohnen am Gürtel eingeschränkt sind, unter sich herum gehen zu sehen, der sie alle Augenblicke in den Spiegel der Wahrheit zu sehen nöthigt, und ihnen wenigstens das täuschende Vergnügen des Wohlgefallens an ihrer eignen – Häßlichkeit möglichst zu verkümmern sucht. Wenn deine Gegenwart endlich ihnen, oder ihre unheilbare Narrheit dir, gar zu lästig fiele, so wirst du die Arme deiner Freunde in Korinth immer wieder offen finden; und sollte dich zuletzt die ganze Hellas nicht mehr ertragen können, so lass' dich irgend eine freundliche Nereide an die Küste Libyens zu deinem Antipater geleiten, der die Tage, die er in seiner Jugend mit dir verlebte, und die traulichen[264] Wallfahrten nach dem Eselsberg, und die Schwimmpartien nach dem Inselchen Psyttalia, immer unter seine angenehmsten Erinnerungen zählen wird.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 24, Leipzig 1839, S. 253-265.
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