7.
An Ebendenselben.

[44] Ich finde je länger je mehr, wie falsch der Begriff ist, den man sich im Auslande von Sokrates macht, indem man ihn für einen Philosophen oder Sophisten50 von Profession und das Haupt einer eigenen Schule hält. Er ist, wiewohl er vielerlei Kenntnisse besitzt, kein eigentlicher Gelehrter, und ob er gleich ein sehr weiser und kluger Mann ist, weder das, was man einen Philosophen noch was man einen Staatsmann zu nennen pflegt; oder, richtiger zu reden, seine Weisheit und Klugheit war es eben, was ihn abhielt sich aus dem einen oder dem andern dieser Qualitäten eine Lebensart zu machen. Er ist ein zu edler und guter Mensch um ein bloßer Bürger von Athen, und gleichwohl zu sehr Bürger von Athen um ein ächter Weltbürger zu seyn. Man erstaunt, bei einem Manne, der (wenn man ein Paar Feldzüge ausnimmt) nie aus Athen gekommen ist, einen solchen Umfang von Welt- und Menschenkenntniß, einen so hellen, von Vorurtheilen[44] und Wahnbegriffen so gereinigten Verstand, und einen so feinen Sinn für die rechte Art mit allen Gattungen von Menschen umzugehen, zu finden; und doch däucht mich (wenn ich dieß ohne Schein eines thörichten Dünkels gestehen darf) ich sehe zuweilen eine gewisse Beschränktheit in seiner Vorstellungsart, die mir bloß daher zu kommen scheint, daß er sich unvermerkt angewöhnt hat, Athen, den Mittelpunkt seiner eigenen Thätigkeit, für den Mittelpunkt der Welt, und was außer Athen ist, keiner sonderlichen Aufmerksamkeit werth zu halten. Ob ich mich hierin irre, darüber werde ich vielleicht in der Folge Gelegenheit finden, dich selbst zum Richter zu machen.

Um mir beim Erforschen dieses in seiner Art so ganz einzigen Mannes viele Zeit und manchen Fehlschluß zu ersparen, habe ich mir Mühe gegeben, über seine Lebensgeschichte so viele und so zuverlässige Erkundigungen einzuziehen als mir nur immer möglich war.

Sein Vater Sophroniskus war ein Steinmetz, und seine Mutter Phänarete die geschickteste und ihres Charakters wegen geschätzteste Hebamme ihrer Zeit in Athen. Er scheint sich auf diese Mutter etwas zu gute zu thun; denn er liebt ihrer bei Gelegenheit öfters zu erwähnen, und soll einst, da ihm über sein Talent junge Leute zu bilden ein Compliment gemacht wurde, in seiner gewohnten Manier Ernst in Scherz einzukleiden, zur Antwort gegeben haben: es ist ein Erbstück von meiner Mutter; meine ganze Kunst besteht in einer gewissen Geschicklichkeit die Entbindung schwangerer Seelen zu befördern.51 Die Frucht die ans Tageslicht kommen soll, muß[45] freilich schon lebendig, gesund und wohlgestaltet in der Seele verborgen liegen, und alles was ich bei der Geburt thun kann, ist, ihr leicht und mit guter Art herauszuhelfen. Personen, die seine Eltern gekannt haben, versicherten mich, daß er äußerlich seinem Vater, und dem Gemüth und der Sinnesart nach seiner Mutter sehr ähnlich sey.

Sophroniskus that an seinem Sohne – was er konnte; er gab ihm die gewöhnliche Erziehung aller jungen Athener jener Zeit, die du aus der Scene der beiden Streithähne, Dikäos und Adikos Logos52, in den berüchtigten Wolken des Aristophanes kennst. Der junge Sokrates lernte bei einem Schulhalter vom gewöhnlichen Schlage den Homer und Hesiod, wo nicht verstehen, wenigstens fertig lesen; von einem Singmeister auf der Cither klimpern und alte Lieder nach alten Weisen singen; und übte sich übrigens fleißig im Wettlaufen, Ringen und Fechten auf der Palästra. Der Vater, um seiner Pflicht (nach einem bekannten Gesetze Solons) volle Genüge zu thun, lehrte ihn seine eigene Kunst; die Mutter, welche bei Zeiten merkte, an diesem Sohn etwas mehr als einen künftigen Steinhauer geboren zu haben, wollte wenigstens einen Bildhauer aus ihm werden sehen; und so wurde er, ich weiß nicht welchem damaligen Meister dieser Kunst, in die Lehre gegeben. Es scheint nicht daß er selbst eine besondre Anlage oder Neigung zu ihr in sich gefühlt habe; indessen bracht' er es doch darin auf einen gewissen Grad; machte bis über sein dreißigstes Jahr seine hauptsächlichste Beschäftigung daraus, und fertigte binnen dieser Zeit unter andern Arbeiten verschiedene Statuen, wovon die meisten in[46] einem Landhause seines Freundes Kriton zu sehen sind, der sich viele Mühe gegeben hat, so viele derselben zusammenzubringen, als für Geld zu haben waren. Ich habe sie gesehen, und da ich auch die Werke des Polyklet und Phidias gesehen habe, so darf ich dir ohne Scheu bekennen, daß Sokrates, dessen wahre Bestimmung war der weiseste und beste unter den Weisen und Guten seiner Zeit zu seyn, schwerlich weder der erste noch der zweite, noch der dritte unter den Bildhauern seiner Zeit geworden wäre. Indessen zeichnet sich doch unter seinen Versuchen in der Kunst eine Gruppe der Grazien aus, an welcher er wirklich mit Liebe und unter dem Einfluß der holdseligen Töchter Jupiters gearbeitet zu haben scheint; man sieht, daß ihm Pindars σεμναι Χαριτες, παντων ταμιαι εργων εν ουρανῳ53 wirklich erschienen, und daß er im Bestreben, die Ideale, die seiner Seele vorschwebten, im Marmor festzuhalten, vielleicht noch mehr geleistet hätte, wenn er weniger hätte leisten wollen. Denn das einzige was an diesen Grazien auszusetzen ist, und was jedem der sie sieht auffällt, ist daß sie gar zu ehrwürdig sind.

Dem besagten Kriton hat es Griechenland zu danken, daß es sich unter seinen Heroen aller Art auch eines Sokrates rühmen kann; ohne ihn wäre dieser wahrscheinlich Bildhauer geblieben, und die reinste sittliche Gestalt, in welcher die Humanität je der Welt persönlich im wirklichen Leben sichtbar geworden ist, würde wo nicht unenthüllt, doch auf ewig mit dem Schleier der Unbekanntheit und Vergessenheit bedeckt geblieben seyn. Kriton, noch jetzt der erste, so wie der älteste unter den Freunden des Sokrates, dem er an Alter etliche[47] Jahre vorgeht, ist in den Augen aller, die ihn kennen und Menschenwerth zu schätzen wissen, einer der Edelsten, die dieses an vortrefflichen Männern fruchtbare Land seit Deukalion und Pyrrha hervorgebracht hat. Glücklicher Weise ist er auch einer der wohlhabendsten Athener, und im Gebrauch seines ansehnlichen Vermögens so großmüthig und freigebig als der berühmte Cimon, ja selbst auf eine noch verdienstlichere Weise, da kein Verdacht auf ihn fallen kann, daß ein ehrsüchtiges Streben nach Volksgunst oder irgend eine andere unlautere Absicht den mindesten Einfluß auf seine Freigebigkeit habe. Zufälliger Weise (wie man, vielleicht sehr uneigentlich, zu sagen pflegt) kam er in die Werkstatt des alten Sophroniskus, als der Sohn die erwähnte Graziengruppe eben vollendet hatte. Er betrachtete das Werk und den Werkmeister mit gleicher Aufmerksamkeit, ließ sich mit dem angehenden Künstler in ein Gespräch ein, und beschloß von Stunde an, sich um sein Vertrauen zu bewerben, und wenn er es gewonnen hätte, alles anzuwenden um ihn mit guter Manier aus der Stein-und Bildhauer-Werkstatt in eine seinen natürlichen Anlagen angemessenere Art von Thätigkeit zu versetzen.

Es befanden sich damals drei Männer in Athen, deren jeder in dem Fache von Gelehrsamkeit, welches er vorzüglich bearbeitete, für den ersten galt: Anaxagoras54 von Klazomene, ein Philosoph aus der Schule des Thales, der Sophist Prodikus von Ceos und Damon, ein geborner Athener, einer der berühmtesten Tonkünstler seiner Zeit. Der erste hatte das Studium der Natur, wiewohl auf einem falschen Wege, der zweite die Kunst zu reden, als eines der mächtigsten Werkzeuge,[48] wodurch man in Republiken auf die Menschen wirken kann, der dritte, die Theorie der Musik, insofern sie eine Art von magischer Gewalt über das Gemüth und die Leidenschaften auszuüben fähig ist, zum Hauptgeschäfte seines Forschens gemacht. Alle drei genossen des Schutzes und der Achtung des großen Perikles, die vornehmsten Athener suchten ihren Umgang, und jedermann schätzte es für ein besondres Glück, wenn er seinem Sohne den Zutritt bei dem ersten, und den Unterricht der beiden an dern verschaffen konnte.

Sobald Kriton den Vorsatz gefaßt hatte, sich des jungen Sokrates mit Ernst anzunehmen, war seine erste Sorge, ihn mit diesen drei Männern, mit welchen er selbst auf einem freundschaftlichen Fuße lebte, in Bekanntschaft zu setzen; denn er zweifelte nicht, daß sie stark auf den jungen Mann wirken und gar bald den Gedanken in ihm erwecken würden, die Natur habe ihn zu einer höhern Bestimmung berufen, als in Thon, Holz und Stein zu arbeiten. Verehrern der Kunst, wie du und ich, mag dieß etwas anstößig klingen; aber die meisten Griechen machten sich damals und noch jetzt einen viel zu geringen Begriff von derselben, und ein Bildhauer war in ihren Augen am Ende doch nichts weiter als ein Handwerksmann, der sein Brod durch mechanische Handarbeit in einer harten Materie sauer und mühselig verdienen müsse. Wahrscheinlich hatte Kriton selbst damals keinen andern Gedanken, als den jungen Sokrates in eine höhere Classe hinaufzurücken, und durch Entwicklung und Ausbildung seiner Fähigkeiten in den Stand zu setzen, dereinst eine bedeutende Rolle in der Republik zu spielen. Auch erreichte er seine Absicht, wiewohl[49] in einem ganz andern Sinne, und in der That auf eine weit vollkommnere Art als er sich vorgestellt haben mochte. Der Sohn des Sophroniskus gewann in kurzer Zeit die Zuneigung des gelehrten Triumvirats; sie machten sich ein Vergnügen daraus, ihm Anleitung zu geben und von ihren Kenntnissen so viel mitzutheilen als er davon gebrauchen konnte und wollte. Denn, wiewohl er sich mehrere Jahre lang mit allen Arten der speculativen Wissenschaften, die von der Ionischen Philosophenschule damals mit ungemeinem Beifall betrieben, und von den sogenannten Sophisten nach ihrer eigenen Weise popularisirt wurden, mit vielem Fleiß gelegt haben soll, so scheint er doch ziemlich bald einen Beruf in sich gefühlt zu haben, seinen eigenen Weg zu gehen, und sich sowohl in Meinungen als im Leben unabhängig und frei von fremdem Einfluß zu erhalten. Es war ein Leichtes gewesen seine Wißbegierde zu erwecken: die sogenannte physische Philosophie, von welcher Anaxagoras Profession machte, hatte unendlich viel Anziehendes. Denn sie versprach nichts Geringeres, als den undurchdringlichen Vorhang, hinter welchem die Natur ihre Mysterien treibt, wegzuziehen, und über die angelegensten Fragen, die der menschliche Geist an sich selbst zu thun sich nicht erwehren kann, befriedigende Aufschlüsse zu geben. Aber sein guter Verstand ließ ihn bei Zeiten wahrnehmen, nicht nur daß sie nicht hielt was sie versprach, sondern auch, daß sie weit mehr versprach als sie halten konnte. Er suchte Wahrheit, und man fertigte ihn mit Hypothesen ab, die man zwar mit vielem Scharfsinn zu möglich scheinenden Auflösungen der Räthsel, die uns die Natur aufzurathen gibt, anzuwenden wußte, die[50] aber keinen festen Halt hatten, und, wenn sie scharf geprüft wurden, weder den Verstand noch die Einbildungskraft befriedigten. Er suchte nützliche Wahrheit, und man wollte daß er einen großen Werth auf Speculationen legen sollte, von welchen nicht der mindeste Gebrauch im menschlichen Leben zu machen war. Alles was er mit den Nachforschungen, die einen guten Theil seiner schönsten Jahre aufzehrten, gewonnen zu haben glaubte, war – und konnte für einen so reinen Wahrheitssinn, wie der seinige, nichts anderes seyn, als »das Bewußtseyn, daß er vom Ursprung der Welt und ihren elementarischen Bestandtheilen, von Materie und Geist, von Raum und Zeit, von den unsichtbaren Kräften, mit deren sichtbaren Wirkungen die Natur uns überall umgibt, kurz, von den überirdischen und übersinnlichen, himmlischen und überhimmlischen Dingen, gerade so viel wisse als vorher, nämlich nichts oder wenig mehr als nichts.« – Dieß war ein großer Abfall von den glänzenden Erwartungen, die man ihm vorgespiegelt hatte, und was für ein anderes Resultat konnte aus einer solchen Erfahrung hervorgehen, als die innigste Ueberzeugung, daß der größte Theil der Probleme, womit die speculativen Philosophen seiner Zeit sich selbst und ihre Lehrlinge unterhielten, ganz und gar keine Gegenstände des menschlichen Wissens seyen, und daß ein gesunddenkender Mensch in der kurzen Lebenszeit, die ihm von der Natur so kärglich zugemessen wird, mehr als genug zu thun habe, wenn er nur zu einem hinlänglichen Grade von Kenntniß dessen was allen Menschen zu wissen nöthig und was nicht zu wissen ein großes Uebel ist, gelangen wolle. Er schätzte diese Ueberzeugung[51] um so höher, je mehr Zeit und Mühe sie ihm gekostet hatte, und sie war's was seinem Geiste diese Richtung auf das Sittlichgute und überhaupt auf das Nützliche in allen Dingen gab, die er von dieser Zeit an nie wieder aus dem Auge verlor. Indessen fuhr er noch immer fort, die Bildhauerkunst nebenher zu treiben, insofern sie ihm zu Gewinnung seines nothdürftigen Unterhalts unentbehrlich war. Denn es währte ziemlich lange, bis der edle Kriton so viel über ihn vermochte, daß er, um sich aller mechanischen Arbeiten entschlagen zu können, diesem mit ganzer Seele an ihm hangenden Freunde gestattete dafür zu sorgen, daß es ihm für sein übriges Leben nie am Nothwendigen fehlen könne. Auch scheint dieß nicht eher geschehen zu seyn, als nachdem Sokrates in der Kenntniß seiner Selbst so weit gekommen war, daß er seinen innern Beruf, ein Menschenbildner in einem ganz andern und unendlich höhern Sinne zu seyn, nicht länger bezweifeln konnte.

Eine der wichtigsten Folgen des Verhältnisses, worin er mit Anaxagoras und Kriton stand, war (meines Erachtens) der freie Zutritt in das Haus des Perikles, und die Gelegenheit, die er dadurch erhielt, diesen großen Mann und seine Staatsverwaltung näher kennen zu lernen, und in dieser Absicht auch den Umgang mit der berühmten Aspasia, der Juno dieses Attischen Jupiters (wie sie der alte Kratinus in einer seiner Komödien nennt), sich zu Nutze zu machen. Aus dieser Zeit schreibt sich auch seine Bekanntschaft mit dem berüchtigten Neffen des Perikles, Alcibiades, her, von welchem er schon damals sehr richtig urtheilte, daß er entweder zum Heil oder[52] zum Verderben Griechenlands geboren sey, je nachdem sein guter oder böser Dämon die Oberhand über ihn gewinnen würde; und diese Ueberzeugung allein war es, was ihn bewog, sich unter die erklärten Liebhaber, von welchen dieser so viel Gutes und Böses versprechende Jüngling beständig umgeben war, zu mischen, und alles Mögliche anzuwenden, um das Vertrauen desselben zu gewinnen, die Liebe des Schönen und Guten in ihm zu entzünden, und ihm für seine Schmeichler und Verführer Gleichgültigkeit und Verachtung einzuflößen.

Ohne Zweifel trugen alle diese Verhältnisse vieles dazu bei ihn auf den wahren Standpunkt in seinem künftigen Wirkungskreise zu stellen, und über den Plan seines Lebens in sich selbst gewiß zu machen. Vermuthlich faßte er schon damals den festen Entschluß, dem er bisher immer treu geblieben ist, der strengsten Erfüllung aller seiner Bürgerpflichten unbeschadet, sich jeder Einmischung in die Staatsverwaltung zu enthalten, so selten als möglich in den Volksversammlungen zu erscheinen, und nie als öffentlicher Redner aufzutreten. Weder seine Familie, noch seine Glücksumstände, noch seine Neigung bestimmten ihn eine politische Rolle in Athen zu spielen; so viele andere hatten dazu einen nähern Beruf, und waren, wofern sie nur wollten, weit besser im Stande, sich auf diesem Wege um den Staat verdient zu machen. Ihm hingegen zeigte sich ein neuer, von keinem andern noch betretener Weg, wie er seinen Mitbürgern und Zeitgenossen auf eine ihm eigene Weise ungleich nützlicher als auf jede andere werden konnte. Die Republik hatte ein sehr dringendes Bedürfniß, an welches keiner von ihren Vorstehern und Rathgebern[53] dachte, und diesem nach Vermögen zu Hülfe zu kommen, fühlte er sich von seinem Genius berufen. In einer Zeit, wo niemand zu bemerken schien, daß die täglich zunehmende Ausartung der alten Sitten den Staat eben so unvermerkt dem Verderben immer näher bringe; in einer Zeit, wo der allzurasche Uebergang von der ehmaligen goldnen Mittelmäßigkeit zu der hohen Stufe von Macht und Reichthum, worauf Perikles die Republik erhoben hatte, den eiteln Athenern so glänzende Aussichten eröffnete, daß sie, aller Mäßigung vergessend, nichts als Alleinherrschaft und unbegränzte Vermehrung ihrer Besitzthümer und Einkünfte träumten; zu einer Zeit, wo ein Mann von so ruhigem Blick und gesundem Urtheil, wie er, leicht voraussehen konnte, daß sich ein furchtbares Ungewitter gegen Athen zusammenziehe und daß bald genug Umstände eintreten würden, in welchen der allgemeine Mangel an sittlicher und politischer Tugend durch die unseligsten Folgen tief gefühlt werden müßte: in einer solchen Zeit, sich selbst in Gesinnungen und Grundsätzen, Worten und Werken zum Vorbilde aller häuslichen und bürgerlichen Tugenden darzustellen, und Jünglinge von edler Art durch den Reiz seines Umgangs an sich zu ziehen, um sie zu gleichen Grundsätzen und Gesinnungen zu bilden; dieß war unläugbar der größte Dienst, den ein Mann dem Vaterlande leisten konnte; und der einzige Mann der es wollte und konnte – war Sokrates.

Du siehest nun, lieber Kleonidas, in welchem Sinne Sokrates ein öffentlicher Lehrer genennt werden kann, wiewohl er nie eine Schule gehalten noch gestiftet, nichts geschrieben,[54] und mit allen seinen Bemühungen, die Leute die mit ihm umgehen weiser und besser zu machen, keinen Obolus gewonnen hat. Auch ist zwischen ihm und den Sophisten, die den Unterricht in den Wissenschaften, besonders in der Moral, Politik und Demagogik55 als eine Profession treiben, nicht die geringste Aehnlichkeit. Er gibt sich so wenig für einen Gelehrten aus, daß er sich vielmehr im Scherz, zuweilen auch wohl in vollem Ernst, auf seine Unwissenheit viel zu Gute thut. Der ganze Unterschied, hörte ich ihn einmal sagen, zwischen mir, der nichts weiß, und diesen bewunderten Herren, die alles wissen und sich dafür bezahlen lassen, besteht darin, daß sie zu wissen glauben was sie nicht wissen, ich hingegen weiß, daß ich nichts weiß. Offenherzig zu reden, scheint er sich in diesem Punkte zuweilen ein wenig zu täuschen, und die Geringschätzung gewisser spekulativer Wissenschaften, deren Nutzen nicht sogleich in die Augen fällt, oder vielleicht erst künftig noch entdeckt werden mag, weiter zu treiben, als er thun würde, wenn er sich seiner Unwissenheit immer bewußt wäre. Uebrigens, und wenn er auch mit einigen Fächern des menschlichen Wissens zu wenig bekannt ist, um ein vollgültiges Urtheil über ihren Werth fällen zu können, so ist er hingegen desto gelehrter in den Künsten und Handwerken, die im gemeinen und bürgerlichen Leben von anerkanntem Nutzen sind. Er spricht mit einem jeden sehr verständig von seiner Profession und gibt ihnen nicht selten Anleitung oder Winke, wie sie dieß oder jenes besser einrichten oder ihre Fabricate und Kunstwerke zu einer größern Vollkommenheit bringen könnten; benimmt sich aber so geschickt dabei, daß er, indem[55] er sich mit ihnen über ihre Kunst bespricht, vielmehr das Ansehen eines Unwissenden hat, der durch bescheidene Fragen von ihnen belehrt zu werden sucht, als eines Klüglings, der sich anmaßt den Meistern Lehren zu geben. Er hat sich in verschiedenen Feldzügen als einen guten Soldaten bewiesen, versteht sich auf alles was zum Kriegsdienst zu Wasser und zu Lande gehört, und weiß im Nothfall das Steuerruder so geschickt zu führen als der erfahrenste Schiffer. Schwerlich gibt es irgend ein Geschäft, das durch ruhige Besonnenheit, unerschütterliche Festigkeit, ausharrende Geduld, Nüchternheit, Wachsamkeit, Gleichgültigkeit gegen Vergnügen und Schmerz, gegen Hunger und Durst, Frost und Hitze, mit Einem Worte, durch alle Eigenschaften und Tugenden, die einen ächten Mann von Marathon ausmachen, und nur durch diese wohl gelingen kann, schwerlich gibt es ein solches Geschäft im Frieden oder im Krieg, womit er nicht zu seiner Ehre zu Stande kommen würde; und ich bin gewiß, wenn die Götter den armen Kechenäern zu einem so klugen Einfall verhelfen wollten, wie der wäre, wenn sie, anstatt ihre Kriegsobersten zu Duzenden aus dem Glückstopf zu ziehen, ihn zu ihrem Oberfeldherrn machten, ihre Angelegenheiten sollten gar bald eine bessere Gestalt gewinnen. Mit Einem Wort, Freund Kleonidas, Sokrates ist ein – tugendhafter Mann im höchsten und vollständigsten Sinne des Wortes, und darin besteht sein eigenthümlicher Charakter, Werth und Vorzug vor allen seinen Zeitgenossen. Er taugt zu allem wozu ein Mann taugen soll, kann alles was jedermann können sollte, weiß gerade so viel als niemand ohne seinen Schaden nicht wissen kann, und ist,[56] in jedem Verhältniß des Lebens, was man seyn muß, um ein Vorbild für alle zu seyn.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 22, Leipzig 1839, S. 44-57.
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