Drittes Capitel

Eine unverhoffte Entdeckung

[840] Archytas hatte zwei Söhne, deren wetteifernde Tugend die seltene und verdiente Glückseligkeit seines Alters vollkommen machte. Diese liebenswürdige Familie lebte in einer Harmonie beisammen, deren Anblick unsern Helden in die selige Einfalt und Unschuld des goldnen Alters versetzte. Niemals hatte er eine so schöne Ordnung, eine so vollkommne Eintracht, ein so regelmäßiges und schönes Ganzes gesehen, als das Haus des weisen Archytas darstellte. Alle Hausgenossen, bis auf die unterste Classe der Bedienten, waren eines solchen Hausvaters würdig. Jedes schien für den Platz, den es einnahm, ausdrücklich gemacht zu sein. Archytas hatte keine Sclaven; der freie, aber sittsame Anstand seiner Bedienten, die Munterkeit, die Genauigkeit, der Wetteifer, womit sie ihre Pflichten erfüllten, das Vertrauen, welches man auf sie setzte, bewies, daß er Mittel gefunden hatte, selbst diesen rohen und mechanischen Seelen ein Gefühl von Ehre und Tugend einzuflößen; die Art wie sie dienten, und die Art, wie ihnen begegnet wurde, schien das unedle und demütigende ihres Standes auszulöschen; sie waren stolz darauf, einem so vortrefflichen Herrn zu dienen, und es war nicht einer, der die Freiheit auch unter den vorteilhaftesten Bedingungen angenommen hätte, wenn er der Glückseligkeit hätte entsagen müssen, ein Hausgenosse des Archytas zu sein. Das Vergnügen mit seinem Zustande leuchtete aus jedem Gesicht hervor; aber keine Spur dieses üppigen Übermuts, der gemeiniglich den müßiggängerischen Haufen der Bedienten in großen Häusern bezeichnet; alles war in Bewegung; aber ohne dieses lärmende Geräusch, welches den schweren Gang der Maschine ankündiget; das Haus des Archytas glich dem inwendigen Mechanismus des animalischen Körpers, in welchem alles in rastloser Arbeit begriffen ist, ohne daß man eine Bewegung wahrnimmt, wenn die äußern Teile ruhen.

Agathon befand sich noch in diesem angenehmen Erstaunen, welches in den ersten Stunden, die er in einem so sonderbaren Hause zubrachte, sich mit jedem Augenblick vermehren mußte,[840] als er auf einmal, und ohne daß ihn die mindeste innerliche Ahnung dazu vorbereitet hätte, durch eine Entdeckung überrascht wurde, welche ihn beinahe dahin gebracht hätte, alles was er sah, für einen Traum zu halten.

Das Gynäceum war, wie man weiß, bei den Griechen den Fremden, welche in einem Hause aufgenommen wurden, ordentlicher Weise, eben so unzugangbar als der Harem bei den Morgenländern. Aber Agathon wurde in dem Hause des Archytas nicht wie ein Fremder behandelt. Dieser liebenswürdige Alte führte ihn also, nachdem sie sich ein paar Stunden, welche unserm Helden sehr kurz wurden, mit einander besprochen hatten, in Begleitung seiner beiden Söhne in das Innerste des Hauses, welches von dem weiblichen Teil der Familie bewohnt wurde; um, wie er sagte, seinen Töchtern ein Vergnügen, worauf sie sich schon so lange gefreuet hätten, nicht länger vorzuenthalten. Stellet euch vor, was für eine süße Bestürzung ihn befiel, da die erste Person, die ihm beim Eintritt in die Augen fiel, seine Psyche war! – Augenblicke von dieser Art lassen sich besser malen, als beschreiben – diese Erscheinung war so unerwartet, daß sein erster Gedanke war, sich durch eine zufällige Ähnlichkeit dieser jungen Dame mit seiner geliebten Psyche betrogen zu glauben. Er stutzte; er betrachtete sie von neuem; und wenn er nunmehr auch seinen Augen nicht hätte trauen wollen, so ließ ihm das, was in seinem Herzen vorging, keinen Zweifel übrig. Und doch kam es ihm so wenig glaublich vor, daß er glücklich genug sein sollte, nach einer so langen Abwesenheit und bei so wenigem Anschein, sie jemals wieder zu sehen, sie in dem Gynäceo seiner Freunde zu Tarent wieder zu finden! Ein andrer Gedanke, der in diesen Umständen sehr natürlich war, vermehrte seine Verwirrung, und hielt ihn zurück, sich der Freude zu überlassen, welche ein eben so erwünschter als wenig verhoffter Anblick über seine Seele ergoß. Psyche sah nicht so aus, als ob sie eine Sclavin in diesem Hause vorstelle; was konnte er also anders denken, als daß sie die Gemahlin eines von den Söhnen des Archytas sein müßte? Es ist wahr, er hätte eben so wohl denken können, daß sie seine wiedergefundene Tochter sein könnte; aber in solchen Umständen bildet man sich immer das ein, was man am meisten[841] fürchtet. In der Tat erriet er die Sache aufs erstemal; Psyche war seit einigen. Monaten die Gemahlin des Critolaus.

Unsere Leser sehen nun auf den ersten Blick, was für schöne Gelegenheit zu pathetischen Beschreibungen und tragischen Auftritten uns dieser kleine Umstand gibt – – was für eine Situation! Den Gegenstand der zärtlichsten Neigung seines Herzens, seine erste Liebe, nach einer langen schmerzlichen Trennung unverhofft wieder finden, aber nur dazu wieder finden, um sie in den Armen eines andern, und was uns nicht einmal das Recht zu klagen, zu wüten und Rache zu schnauben übrig läßt, in den Armen unsers liebsten Freundes zu sehen! – – Zu gutem Glück für unsern Helden – – und für den Autor – – waren diejenigen, welche in diesem Augenblick Zeugen von seiner Bestürzung waren, keine so passionierte Liebhaber pathetischer Auftritte, daß sie hätten fähig sein können, an seiner Qual Vergnügen zu finden. Sie wollten sich ein Vergnügen daraus machen, ihn zu überraschen; aber es würde grausam gewesen sein, eine Tragödie mit ihm zu spielen, so glücklich auch am Ende die Entwicklung immer hätte sein mögen. Die zärtliche Psyche sah etliche Augenblicke seiner Verwirrung zu; aber länger konnte sie sich nicht zurückhalten. Sie flog ihm mit offnen Armen entgegen, und indem ihre Freuden-Tränen seine glühende Wangen betauten, hörte er sich mit einem Namen benennen, der ihre zärtlichste Liebkosungen selbst in Gegenwart eines Gemahls rechtfertigte.

Wäre die Liebe, welche sie ihm in dem Hain zu Delphi eingeflößt hatte, weniger platonisch gewesen, so würde die Entdeckung einer Schwester in der Geliebten seines Herzens nicht so erfreulich gewesen sein, als sie ihm war. Aber man erinnert sich noch, daß ihre Liebe, so ausnehmend zärtlich sie auch gewesen war, doch mehr der Liebe, welche die Natur zwischen Geschwistern von übereinstimmender Gemüts-Art stiftet, als derjenigen geglichen hatte, welche sich auf die Zauberei eines andern Instincts gründet, von dessen fiebrischen Symptomen die ihrige allezeit frei geblieben war. Sie hatten damals schon ein sonderbares Vergnügen daran gefunden, sich einzubilden, daß ihre Seelen wenigstens einander verschwistert seien, da sie nicht Grund genug hatten, so sehr sie es auch wünschten, die unschuldige[842] Anmutung, welche sie für einander fühlten, der Würkung der Sympathie des Blutes zu zuschreiben. Agathon befand sich also über alles was er hätte wünschen können, glücklich, da er, nach den Erläuterungen, welche ihm gegeben wurden, nicht mehr zweifeln konnte, in Psyche eine Schwester, welche er nach der ehmaligen Erzählung seines Vaters für tot gehalten hatte, wieder zu finden, und durch sie ein Teil einer Familie zu werden, für welche sein Herz bereits so eingenommen war, daß der Gedanke sich jemals wieder von ihr zu trennen, ihm unerträglich gewesen sein würde. Nun meine zärtlichen Leserinnen, mangelte ihm, um so glückselig zu sein, als es Sterbliche sein können, nichts als daß Archytas – nicht irgend eine liebenswürdige Tochter oder Nichte hatte, mit der wir ihn vermählen könnten. Aber unglücklicher Weise für ihn hatte Archytas keine Tochter; und wofern er Nichten hatte, welches wir nicht für gewiß sagen können, so waren sie entweder schon verheiratet, oder nicht dazu gemacht, das Bild der schönen Danae, und die Erinnerungen seiner ehmaligen Glückseligkeit, welche von Tag zu Tag wieder lebhafter in seinem. Gemüte wurden, auszulöschen.

Diese Erinnerungen hatten schon zu Syracus in melancholischen Stunden wieder angefangen einige Gewalt über sein Herz zu bekommen; der Gram, wovon seine Seele in der letzten Periode seines Hof-Lebens, ganz verdüstert und niedergeschlagen wurde, veranlaßte ihn, Vergleichungen zwischen seinem vormaligen und nunmehrigen Zustande anzustellen, welche unmöglich anders als zum Vorteil des ersten ausfallen konnten. Er machte sich selbst Vorwürfe, daß er das liebenswürdigste unter allen Geschöpfen, in einem Anstoß von schwärmerischem Heldentum, aus so schlechten Ursachen, auf die bloße Anklage eines so verächtlichen Menschen als Hippias, über welche sie sich vielleicht, wenn er sie gehört hätte, vollkommen hätte rechtfertigen können, verlassen habe. Diese Tat, auf welche er sich damals, da er sie für einen herrlichen Sieg über die unedlere Hälfte seiner selbst, für ein großes Versöhn-Opfer, welches er der beleidigten Tugend brachte, ansah, so viel zu gut getan hatte, schien ihm izt undankbar und niederträchtig; es schmerzte ihn, wenn er dachte, wie glücklich er[843] durch die Verbindung seines Schicksals mit dem ihrigen hätte werden können; und der Enthusiasmus gewann nichts dabei, wenn er zugleich dachte, durch was für schimärische Vorstellungen und Hoffnungen er ihn um seine Privat-Glückseligkeit gebracht habe. Aber der Gedanke, daß er durch ein so schnödes Verfahren die schöne Danae gezwungen habe, ihn zu verachten, zu hassen, sich der Zärtlichkeit, die er ihr eingeflößt, niemals anders als wie einer unglücklichen Schwachheit zu erinnern, deren Andenken sie mit Gram und Reue erfüllen mußte – dieser Gedanke war ihm ganz unerträglich; Danae, so sehr sie auch beleidigt war, konnte ihn unmöglich so sehr verabscheuen, als er in den Stunden, da diese Vorstellungen seine Vernunft überwältigten, sich selbst verabscheuete. Allein diese Stunden gingen endlich vorüber, und das ungeduldige Gefühl der gegenwärtigen Übel trug nicht wenig dazu bei, ihm die Ursachen und Umstände seiner Entfernung von Smyrna in einem so splenetischen Lichte vorzustellen. Die glückliche Veränderung, welche die Versetzung in den Schoß der liebenswürdigsten Familie, die vielleicht jemals gewesen ist, in seinen Umständen hervorbrachte, veränderte notwendiger Weise auch die Farbe seiner Einbildungs-Kraft. Hätte er Danae nicht verlassen, so würde er weder seine Schwester gefunden, noch mit dem weisen Archytas persönlich bekannt worden sein. Diese Folgen seiner tugendhaften Untreue machten den Wunsch, sie nicht begangen zu haben, unmöglich; aber sie beförderten dagegen einen andern, der in den Umständen, worin er zu Tarent lebte, sehr natürlich war. Die heitre Stille, welche in seinem ohnehin zur Freude aufgelegten Gemüt in kurzem wieder hergestellt wurde; die Freiheit von allen Geschäften und Sorgen; der Genuß alles dessen, womit die Freundschaft ein gefühlvolles Herz beseligen kann; der Anblick der Glückseligkeit seines Freundes Critolaus, welche im Besitz der liebenswürdigen Psyche alle Tage zu zunehmen schien; der Mangel an Zerstreuungen, wodurch die Seele verhindert wird, sich in die Sphäre ihrer angenehmsten Ideen und Empfindungen zu concentrieren; die natürliche Folge hievon, daß diese Ideen und Empfindungen desto lebhafter werden müssen – alles dieses vereinigte sich, ihn nach und nach wieder in Dispositionen zu setzen, welche die zärtlichste Erinnerungen[844] an die einst so sehr geliebte Danae erweckten, und ihn von Zeit zu Zeit in eine Art von sanfter wollüstiger Melancholie setzten, worin sein Herz sich ohne Widerstand in diese zauberischen Scenen von Liebe und Wonne zurückführen ließ, welche – – aus Ursachen, die wir den Moralisten zu entwickeln überlassen wollen – – durch die in seiner Seele vorgegangene Revolution ungleich weniger von ihrem Reiz verloren hatten, als die abstractern und bloß intellectualischen Gegenstände seines ehmaligen Enthusiasmus. Können wir ihn verdenken, daß er in solchen. Stunden die schöne Danae unschuldig zu finden wünschte – – daß er dieses so oft und so lebhaft wünschte, bis er sich endlich überredete, sie für unschuldig zu halten – – und daß die Unmöglichkeit, ein Gut wieder zu erlangen, dessen er sich selbst so leichtglaubig und auf eine so verhaßte Art beraubt hatte, ihn zuweilen in eine Traurigkeit versenkte, die ihm den Geschmack seiner gegenwärtigen Glückseligkeit verbitterte, und sich nur desto tiefer in sein Gemüt eingrub, weil er sich nicht entschließen konnte, sein Anliegen denjenigen anzuvertrauen, denen er, diesen einzigen Winkel ausgenommen, das Innerste seiner Seele aufzuschließen pflegte – – Wohin uns diese Vorbereitung wohl führen soll? – – werden vielleicht einige von unsern scharfsinnigen Lesern denken – – ohne Zweifel wird man uns nun auch die Dame Danae von irgend einem dienstwilligen Sturmwind herbeiführen lassen, nachdem uns, ohne zu wissen, wie? das gute Mädchen Psyche, durch einen wahren Schlag mit der Zauberrute, aus dem Gynäceo des alten Archytas entgegengesprungen ist – – »Und warum nicht? – – nachdem wir nun einmal wissen, wie glücklich wir unsern Freund Agathon dadurch machen könnten« – Aber wo bleibt alsdann das Vergnügen der Überraschung, welches andre Autoren ihren Lesern mit so vieler Mühe und Kunst zu zuwenden pflegen. Es bleibt aus, meine Herren; und Diderot kann Ihnen, wenn Sie wollen, sagen, warum Sie wenig oder nichts dabei verlieren werden. Inzwischen ist uns lieb, erinnert worden zu sein, daß wir Ihnen einige Nachricht schuldig sind, wie Psyche (welche wir, in einen Ganymed verkleidet, in den Händen eines Seeräubers verlassen hatten,) dazu gekommen sei, die Gemahlin des Critolaus und die Schwester Agathons zu werden. Ein kurzer[845] Auszug aus der Erzählung, welche dem Agathon teils von seiner Schwester selbst, teils von ihrer Amme gemacht wurde, (und die letzte hatte den Fehler, ein wenig weitläufiger in ihren Erzählungen zu sein, als wir selbst,) wird hinlänglich sein, dero gerechte Wissens-Begierde über diesen Punct zu befriedigen.

Ein heftiger Sturm ist ein sehr unglücklicher Zufall für Leute, die sich mitten auf der offenen See, nur durch die Dicke eines Brettes von einem feuchten Tode geschieden finden; aber für die Geschichtschreiber der Helden und Heldinnen ist es beinahe der glücklichste unter allen Zufällen, welche man herbeibringen kann, um sich aus einer Schwierigkeit herauszuhelfen. Es war also ein Sturm, (und Sie haben sich nicht darüber zu beschweren, meine Herren, denn es ist, unsers Wissens, der erste in dieser Geschichte,) der die liebenswürdige Psyche aus der fürchterlichen Gewalt eines verliebten Seeräubers rettete. Das Schiff scheiterte an der Italiänischen Küste, einige Meilen von Capua; und Psyche, von den Nereiden oder Liebes-Göttern beschirmt, war die einzige Person auf dem Schiffe, welche auf einem Brette glücklich von den Zephyrn ans Land getragen wurde. Die Zephyrn allein wären hiezu vielleicht nicht hinreichend gewesen; aber mit Hülfe einiger Fischer, welche glücklicher Weise bei der Hand waren, hatte die Sache keine Schwierigkeit. Das war nun alles sehr glücklich; aber es ist nichts in Vergleichung mit dem, was nun folgen wird. Einer von den Fischern (der mitleidigste ohne Zweifel) führte die verkleidete Psyche, welche sehr vonnöten hatte, sich zu trocknen, und von dem ausgestandenen Ungemach zu erholen, zu seinem Weib in seine Hütte. Die Fischerin, (eine hübsche, dicke Frau von drei oder vier und vierzig Jahren) welche die Mine hatte, in ihrer Jugend kein unempfindliches Herz gehabt zu haben, bezeugte ungemeines Mitleiden mit dem Unglück eines so liebenswürdigen jungen Herrn, als die schöne Psyche zu sein schien; sie pflegte seiner, so gut es nur immer möglich war, und konnte sich nicht satt an ihm sehen. Es war ihr immer, sagte sie, als ob sie schon einmal ein solches Gesicht gesehen hätte, wie das seinige; und sie konnte es kaum erwarten, bis der schöne Fremdling im Stande war, nach eingeführter Gewohnheit, seine Geschichte zu erzählen. Aber Psyche hatte der Ruhe vonnöten; sie[846] wurde also zu Bette gebracht; und bei dieser Gelegenheit entdeckte die Fischerin, welche auf die kleinsten Umstände aufmerksam war, daß der vermeinte Jüngling ein überaus schönes Mädchen – – aber doch nicht mehr so schön war, als sie in ihren Manns-Kleidern ausgesehen hatte. Es war natürlich, über diese Verwandlung im ersten Augenblick ein wenig mißvergnügt zu sein; aber dieser kleine vorübergehende Unmut verwandelte sich bald in die lebhafteste und zärtlichste Freude – kurz, es entdeckte sich, daß die Fischerin Clonarion, die Amme der schönen Psyche war, welche, mit Hülfe dieses Namens, ihrer geliebten Amme sich wieder eben so gut zu erinnern glaubte, als diese aus den Gesichts-Zügen der Psyche, aus ihrer Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, Musarion, und besonders aus einem kleinen Mal, welches sie unter der linken Brust hatte, ihre allerliebste Pflegtochter erkannte. Clonarion war die vertrauteste Sclavin der Mutter unsrer Heldin gewesen, und ihrer Pflege wurde nach dem Tode derselben die kleine Psyche, oder Philoclea, wie sie eigentlich hieß, anvertraut; denn Psyche war nur ein Liebkosungs-Name, den ihr ihre Amme aus Zärtlichkeit gab, und welchen die kleine Philoclea, weil sie sich niemals anders als Psyche oder Psycharion nennen gehört hatte, in der Folge als ihren würklichen Namen angab. Stratonicus hatte der Clonarion mit der noch unmündigen Psyche eine hinlängliche Summe Gelds übergeben, und befohlen, sie in der Nähe von Corinth zu erziehen, weil er dort die beste Gelegenheit hatte, sie von Zeit zu Zeit unerkannt zu sehen. Die junge Psyche, die Freude und der Stolz ihrer zärtlichen Amme, von der sie wie ihr eigenes Kind geliebet wurde, wuchs so schön heran, daß man nichts liebenswürdigers sehen konnte. Die Hoffnung des Gewinsts reizte endlich einige Bösewichter, sie, da sie ungefähr fünf bis sechs Jahre alt war, heimlich wegzustehlen, und an die Priesterin zu Delphi zu verkaufen. Ein Halsgeschmeide, woran ein kleines Bildnis ihrer Mutter hing, und womit die junge Psyche allezeit geschmückt zu sein pflegte, wurde zugleich mit ihr verkauft, und diente in der Folge zur Bestätigung, daß sie würklich die Tochter des Stratonicus sei. Clonarion raufte sich einen guten Teil ihrer Haare aus, da sie ihre Psyche vermißte; und nachdem sie eine ziemliche Zeit zugebracht hatte, sie allenthalben[847] (außer da, wo sie würklich war,) zu suchen, wußte sie kein ander Mittel, sich bei ihrem. Herrn von der Schuld einer strafbarn Nachlässigkeit entledigen zu können, als vorzugeben, daß sie gestorben sei; und Stratonicus konnte desto leichter hintergangen werden, weil er damals eben in Geschäfte verwickelt war, welche ihn lange Zeit hinderten, nach Corinth zu kommen. Inzwischen hatte die allenthalben herumirrende Clonarion eine Menge Abenteuer, welche sich endlich damit endigten, daß sie die Gattin eines schon ziemlich bejahrten Fischers aus der Gegend von Capua wurde, in dessen Augen sie damals wenigstens so schön als Thetis und Galathea war. Sie hatte ihre geliebte Pflegtochter in so zärtlichem Andenken behalten, daß sie einer Tochter, von der sie selbst entbunden wurde, den Namen Psyche gab, bloß um sich derselben beständig zu erinnern. Der Tod dieses Kindes, der beinahe in eben dem Alter erfolgte, worin Psyche geraubt worden war, riß die alte Wunde wie der auf; und da ihr durch diese Umstände das Bild der jungen Psyche immer gegenwärtig blieb, so hatte sie desto weniger Mühe, sie wieder zu erkennen, ungeachtet vierzehn oder fünfzehn Jahre einige Veränderung in ihren Gesichts-Zügen gemacht haben mußten. Unsre Heldin vermehrte also nunmehr die kleine Familie des alten Fischers, welcher seinen Aufenthalt veränderte, und in die Gegend von Tarent zog, wo er sie, weil sie alle unbekannt waren, für seine Tochter ausgeben konnte. Psyche bequemte sich so gut in die schlechten Umstände, worin sie bei ihrer Pflegmutter leben mußte, als ob sie niemals in bessern gelebt hätte, und ließ sich nichts angelegner sein, als ihr durch emsiges Arbeiten die Last ihres Unterhalts zu erleichtern. Endlich fügte es sich zufälliger Weise, daß der junge Critolaus unsre Heldin zu Gesicht bekam, welche in ihrem bäurischen, aber reinlichen Anzug, und mit frischen Blumen geschmückt, demjenigen, dem sie in einem Haine begegnete, eher eine von den Gespielen der Diana, als die Tochter eines armen Fischers scheinen mußte. Critolaus faßte die heftigste Leidenschaft für sie; weil seine Liebe eben so tugendhaft, als zärtlich war, so brachte er bald die mitleidige Clonarion auf seine Seite; und da Psyche selbst nunmehr wußte, daß Agathon ihr Bruder sei, so war kein Grund, warum sie gegen die Zuneigung eines so[848] liebenswürdigen jungen Menschen unempfindlich hätte sein sollen. In der Tat war Critolaus in mehrern Absichten der zweite Agathon; allein die Umstände ließen so wenig Hoffnung zu, daß eine rechtmäßige Verbindung zwischen ihnen möglich sein könnte, daß Psyche sich verbunden hielt, ihm dasjenige, was zu seinem Vorteil in ihrem Herzen vorging, desto sorgfältiger zu verbergen, je entschlossener er war, seiner Liebe alle andre Betrachtungen aufzuopfern. Endlich wußte er sich nicht anders zu helfen, als daß er das Geheimnis seines Herzens demjenigen entdeckte, dessen Beifall er am wenigsten zu erhalten hoffen konnte. Die ganze Beredsamkeit der begeisterten Liebe würde über einen Weisen, wie Archytas war, wenig vermocht haben; aber Critolaus sagte so viel außerordentliches von dem Geist und der Tugend seiner Geliebten, daß sein Vater endlich aufmerksam zu werden anfing. Archytas hatte die Macht des Dämons der Liebe nie erfahren; aber er war menschlich, gütig, und über die gemeine Vorurteile und Absichten erhaben. Ein schönes und tugendhaftes Mädchen war in seinen Augen ein sehr edles Geschöpfe, dessen Wert durch den Schatten der Niedrigkeit und Armut nur desto mehr erhoben wurde. Kaum wurde der junge Critolaus gewahr, daß sein Vater zu wanken anfing; so wagte er's, ihm das Geheimnis der Geburt seiner Geliebten zu entdecken, welches ihm Clonarion, in Hoffnung, daß es gute Folgen haben könnte, ohne Wissen der schönen Psyche vertraut hatte. Archytas, welchem Stratonicus ehmals seine heimliche Verbindung mit Musarion entdeckt hatte, war über diesen Zufall nicht wenig erfreut; er wünschte nichts mehr, als daß diejenige, für welche sein Sohn so heftig eingenommen war, die Tochter seines liebsten Freundes sein möchte; aber er wollte gewiß sein, daß sie es sei; und hiezu schien ihm das bloße Zeugnis eines Fischer-Weibs zu wenig. Er veranstaltete es, daß er Psychen und ihre angebliche Amme selbst zu sehen bekam; er glaubte, in der Gesichtsbildung der ersten einige Züge von ihrem Vater zu entdecken; und die Unterredung, die er mit ihr hatte, bestätigte den günstigen Eindruck, den ihr Anblick auf sein Gemüt gemacht hatte. Er ließ sich ihre Geschichte mit allen Umständen erzählen, und fand nun immer weniger Ursache, an der Wahrheit dessen zu zweifeln, was sein Sohn auf die bloße Aussage der[849] Amme, ohne die mindeste Untersuchung, für die ausgemachteste Wahrheit hielt. Das Halsgeschmeide, welches Psyche in den Händen der Pythia hatte zurücklassen müssen, schien ihm allein noch abzugehen, um ihn gänzlich zu überzeugen. Er schickte deswegen einen seiner Vertrauten nach Delphi ab; und die Pythia, da sie sah, daß ein Mann von solcher Wichtigkeit sich des Schicksals ihrer ehemaligen Sclavin annahm, machte keine Schwierigkeiten, dieses Merkzeichen der Abkunft derselben auszuliefern. Nunmehr glaubte Archytas berechtigt zu sein, Psyche als die Tochter eines Freundes, dessen Andenken ihm teuer war, anzusehen; und nun hatte er selbst nichts angelegners, als sie je eher je lieber in seine Familie zu verpflanzen. Sie wurde also die Gemahlin des glücklichen Critolaus; und diese Verbindung gab natürlicher Weise neue Beweggründe, sich der Befreiung Agathons mit so lebhaftem Eifer anzunehmen, als es, obenerzählter maßen, geschehen war.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Werke. Band 1, München 1964 ff., S. 840-850.
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