Eilftes Buch

Erstes Capitel

Apologie des griechischen Autors

[827] Bis hieher scheint die Geschichte unsers Helden, wenigstens in den hauptsächlichsten Stücken, dem ordentlichen Lauf der Natur, und den strengesten Gesetzen der Wahrscheinlichkeit so gemäß zu sein, daß wir keinen Grund sehen, an der Wahrheit derselben zu zweifeln. Aber in diesem eilften Buch, wir müssen es gestehen, scheint der Autor aus dieser unsrer Welt, welche, unparteiisch von der Sache reden, zu allen Zeiten nichts bessers als eine Werkel-Tags-Welt (wie Shakespear sie irgendwo nennt) gewesen ist, ein wenig in das Land der Ideen, der Wunder, der Begebenheiten, welche gerade so ausfallen, wie man sie hätte wünschen können, und um alles auf einmal zu sagen, in das Land der schönen Seelen, und der utopischen Republiken verirret zu sein. Es stehet bei den Lesern, ihm hierin soviel Glauben beizumessen, als sie gerne wollen; wir an unserm Teil nehmen uns der Sache weiter nichts an; unsere Absichten sind bereits erreicht, und die glücklichen oder unglücklichen Umstände, welche dem Agathon noch bevorstehen mögen, haben nichts damit zu tun. Indessen glauben wir doch, daß der Autor allen den gutherzigen Leuten, welche sich für den Helden einer solchen Geschichte nach und nach interessieren, und gerne haben, wenn sich am Ende alles zu allerseitigem Vergnügen, mit Entdeckungen, Erkennungen, glücklichem Wiederfinden der verlornen Freunde, und etlichen Hochzeiten endet, einen Gefallen getan habe, seinen Helden, nachdem er eine hinlängliche Anzahl guter und schlimmer Abenteuer bestanden hat, endlich für seine ganze übrige Lebens-Zeit glücklich zu machen. Es mag sein, daß der Verfasser der griechischen Handschrift hierin seinem guten Naturell den Lauf gelassen hat; denn in der Tat, scheint es ein Zeichen eines harten und grausamen Herzens zu sein, welches ein Vergnügen an der Qual und den Tränen seiner unschuldigen Leser findet, wenn man alles anwendet, uns für[827] den Helden und die Heldin einer wundervollen Geschichte einzunehmen, bloß um uns zuletzt durch einen so jämmerlichen Ausgang, als eine schwermütige, menschenfeindliche Imagination nur immer erdenken kann, in einen desto empfindlichern und unleidlichern Schmerz zu versenken, da es lediglich bei dem guten Willen des Autors stund, uns desselben zu überheben. Gleichwohl aber scheint uns unser edler gesinnte Verfasser noch eine andre Absicht dabei gehabt zu haben, welche er, ohne sich einer noch größern Unwahrscheinlichkeit schuldig zu machen, nicht wohl anders als durch diese nicht allzuwahrscheinliche Verbindung glücklicher Umstände, worein er seinen Helden in diesem Buche setzt, erreichen konnte – – Und was für eine Absicht mag das wohl sein? – – Ich will es ihnen unverblümt und ohne Umschweife sagen, meine Herren und Damen, ob ich gleich besorgen muß, daß die ungewöhnliche Offenherzigkeit, welche ich ihnen in dem ganzen Laufe dieses Werkes habe sehen lassen, mir von einem oder dem andern aus ihrem Mittel übel aufgenommen werden möchte – – Unser Verfasser wollte dem Vorwurf ausweichen, welchen Horaz gleichnisweise in dem bekannten Verse – –


Amphora cœpit

Institui – – currente rota cur urceus exit? – –


denjenigen Dichtern macht, in deren Werken das Ende sich nicht zu dem Anfang schickt. Er wollte in seinem Helden, dessen Jugend und erste Auftritte in der Welt so große Hoffnungen erweckt hatten, nachdem er ihn durch so viele verschiedene Umstände geführt, als er für nötig hielt seine Tugend zu prüfen, zu läutern und zu der gehörigen Consistenz zu bringen, am Ende einen so weisen und tugendhaften Mann darstellen, als man nur immer unter der Sonne zu sehen wünschen, oder nach Gestalt der Sachen, erwarten könnte. Der Enthusiasmus, der die eigentliche Anlage seines Helden zu einem mehr als gewöhnlichen Grade moralischer Vollkommenheit enthielt, verhinderte ihn zu eben der Zeit da er seine Tugend erhöhte, so weise zu sein, als man sein muß, um nicht mit den erhabensten Begriffen, und den edelsten Gesinnungen, von sich selbst und von andern betrogen zu werden. Eine Art zu denken, welche ihn zu einer höhern[828] Classe von Wesen als die gewöhnlichen Menschen sind, zu erheben schien, setzte ihn dem Neid, der verkehrten Beurteilung, den Nachstellungen und Verfolgungen dieser Menschen aus; und machte ihn, welches für seine Tugend das Schlimmste war, unvermerkt vergessen, daß er im Grunde doch immer weder mehr noch weniger sei, als ein Mensch. Die Erfahrungen, die er endlich hierüber bekam, öffneten ihm die Augen, und zerstreuten einen Teil der Bezauberung; er lernte sich selbst besser kennen; aber er kannte die Welt noch nicht genug. Ein neues und großes Theater, auf welches er versetzt wurde, half diesem Mangel ab; eine immer weiter ausgebreitete und vervielfältigte Erfahrung stimmte seine allzuidealische Denk-Art herab, und überführte ihn, daß er, wie der großmütige, tugendhafte und tapfre Ritter von Mancha (dieses lehrreiche Bild der Schwachheiten und Verirrungen des menschlichen Geistes !) Windmühlen für Riesen, Wirtshäuser für bezauberte Schlösser, und Dorf-Nymphen für göttliche Dulcineen angesehen hatte. Er wurde weiser, aber auf Unkosten seiner Tugend. So wie die Bezauberung seiner Einbildungs-Kraft verging, hörte auch die Begierde auf, große Taten zu tun, allem Unrecht in der Welt zu steuern, mit den Feinden der allgemeinen Glückseligkeit sich herumzuschlagen, und die Menschen, wider ihren Dank und Willen, glücklich machen zu wollen. Nun sage man mir, nachdem es mit unserm Helden dazu gekommen war, (und, alles wohl erwogen, mußte es auf eine oder andere Art endlich dazu kommen; denn die edelste, die liebenswürdigste Schwärmerei, wenn sie gar zu lange dauert, und sich so gar durch die Maul-Esel-Treiber von Jangois nicht austreiben lassen will, wird endlich zu Narrheit,) was sollte, was konnte unser Autor nun weiter mit ihm anfangen? Einen misanthropischen Einsiedler aus ihm machen? – – Dazu war sein Kopf zu heiter und sein Herz zu schwach – – oder zu zärtlich – – oder zu gut; was ihr wollt; und zudem mochte unser Autor, der ein Grieche war, und wenigstens in die Zeiten des Alciphrons gesetzt werden muß, (wie die Gelehrten ohne unser Erinnern bemerkt haben) vermutlich von der Vortrefflichkeit einer einsiedlerischen Tugend die erhabenen Begriffe nicht haben, welche man sich in den wundervollen Zeiten des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts bis zu unsern[829] philosophischen Zeiten davon gemacht hat, und (allem Ansehen nach) in einigen Ländern noch lange machen wird. Ihn wieder in die weite Welt zurückzuführen, wäre nichts anders gewesen, als ihn der augenscheinlichsten Gefahr aussetzen, in seiner antiplatonischen Denk-Art durch immer neue Erfahrungen bestärkt, und durch die Gesellschaft witziger und liebenswürdiger Leute, welche entweder gar keine Grundsätze, oder nicht viel bessere als der weise Hippias, gehabt hätten, nach und nach auch um diesen kostbaren Überrest seiner ehemaligen Tugend gebracht zu werden, den er glücklicher Weise aus der verpesteten Luft der großen Welt noch davon gebracht hat. Vielleicht hätte er in solchen Umständen noch immer eine Art von Mittel zwischen Weisheit und Torheit, eine mehr lächerliche als hassenswürdige Composition von kühnem Witz und unschlüssiger Vernunft, von wahren und willkürlichen Begriffen, von Aberglauben und Unglauben, von guten und bösen Leidenschaften, Gewohnheiten und Launen, von gleich betrüglichen Tugenden und Lastern; kurz, eine so vortreffliche Art von Geschöpfen werden können, wie ungefähr die meisten von uns andern sind, wir mögen es nun einsehen – – und wenn wir's einsehen, eingestehen – – oder nicht. Bei so bewandten Umständen, und da es (wie gesagt) nun einmal die Absicht des Autors war, aus seinem Helden einen tugendhaften Weisen zu machen, und zwar solchergestalt, daß man ganz deutlich möchte begreifen können, wie ein solcher Mann – – so geboren – – so erzogen – – mit solchen Fähigkeiten und Dispositionen – – mit einer solchen besondern Bestimmung derselben – – nach einer solchen Reihe von Erfahrungen, Entwicklungen und Veränderungen – – in solchen Glücks-Umständen – – an einem solchen Ort und in einer solchen Zeit – – in einer solchen Gesellschaft – – unter einem solchen Himmels-Strich – – bei solchen Nahrungs-Mitteln (denn auch diese haben einen stärkern Einfluß auf Weisheit und Tugend, als sich manche Moralisten einbilden) – – bei einer solchen Diät – – kurz, unter solchen gegebenen Bedingungen, wie alle diejenigen Umstände sind, in welche er den Agathon bisher gesetzt hat, und noch setzen wird – – ein so weiser und tugendhafter Mann habe sein können, und (diejenigen, welche nicht gewohnt sind zu denken, mögen es nun glauben oder[830] nicht,) unter den nämlichen, oder doch sehr ähnlichen Umständen, es auch noch heutzutage werden könnte: Da, sage ich, dieses seine Absicht war, so blieb ihm freilich kein andrer Weg übrig, als seinen Helden in diesen Zusammenhang glücklicher Umstände zu setzen, in welchen er sich nun bald, zu seinem eigenen Erstaunen, befinden wird. Freilich ist ein solcher Zusammenfluß glücklicher Umstände allzuselten, um wahrscheinlich zu sein. Aber wie soll sich ein armer Autor helfen, der (alles wohl überlegt) nur ein einziges Mittel vor sich sieht, aus der Sache zu kommen, und dieses ein gewagtes? Man hilft sich wie man kann, und wenn es auch durch einen Sprung aus dem Fenster sein sollte. Der kleine Held der Königin von Golconde ist nicht der erste, der sich durch dieses Mittel helfen mußte: Julius Cäsar würde ohne einen solchen Sprung das Vergnügen nicht gehabt haben, als Herr der Welt (wie man, zwar lächerlich genug, zu sprechen gewohnt ist,) durch die Straßen Roms ins Capitolium einzuziehen.

Und soviel mag dann zur Rechtfertigung unsers Autors gesagt sein; wenn es anders zu seiner Rechtfertigung dienen kann, welches wir den Kunstrichtern überlassen müssen. Das Urteil mag indessen ausfallen wie es will, so beladet sich der Herausgeber, wie er schon erklärt hat, dessen im geringsten nicht. Die Absichten, warum er die alte Urkunde, welche zufälliger Weise in seine Hände gekommen ist, in einen Auszug von derjenigen Form und Beschaffenheit, wie die vorhergehenden zehen Bücher weisen, gebracht hat, sind bereits erreicht. Es ist verhoffentlich unnötig, sich hierüber näher zu erklären. Doch soviel können wir wohl sagen, daß er niemalen daran gedacht hat, einen Roman zu schreiben, wie sich vielleicht manche, ungeachtet des Titels und der Vorrede, zu glauben in den Kopf gesetzt haben mögen – – und da dieses Buch, in so fern der Herausgeber Teil daran hat, kein Roman ist, noch einer sein soll; so hat er sich auch um die so genannte Schürzung des Knotens, und ob der Verfasser der Urkunde seinen Knoten geschickt oder ungeschickt entwickelt oder zerschnitten hat, wenig zu bekümmern.[831]

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Werke. Band 1, München 1964 ff., S. 827-832.
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