Einleitung.

[19] Peregrin, Lucian.


Peregrin.


Täuschen mich meine Augen, oder ist es wirklich mein alter Gönner Lucian von Samosata, den ich nach so langer Zeit wieder sehe?


Lucian (ihn aufmerksam betrachtend).


Wir sind also bessere Bekannte als ich weiß. Und doch ist mir selbst als ob mir deine Züge nicht fremd wären; sie mahnen mich an jemand den ich einst gesehen habe, wiewohl ich mich nicht besinne an wen.


Peregrin.


Es sind freilich über sechzehnhundert Jahre, seitdem wir uns auf der Ebene zwischen Harpine und Olympia zum letztenmale sahen.


Lucian.


Wie? Was für Erinnerungen weckst du plötzlich in mir auf? Solltest du wohl gar der Philosoph Peregrinus Proteus[19] seyn, der den seltsamen Einfall hatte, sich freiwillig zu Olympia zu verbrennen?


Peregrin.


Eben der, dem du in deinen Werken ein nicht sehr beneidenswürdiges Denkmal gesetzt hast.


Lucian.


Närrisch genug, daß ich in meinem Kopfe hatte, du müßtest nothwendig über und über mit Brandblasen überdeckt und so schwarz wie ein Köhler seyn! Du hättest noch zehnmal vor mir vorbei gehen können, ohne daß ich dich in der glänzenden Figur, die du jetzt machst, erkannt hätte.


Peregrin.


Du dachtest wohl damals nicht, daß wir uns nach sechzehnhundert Jahren in Elysium wieder sehen würden?


Lucian.


Aufrichtig zu reden, nein. Schwärmen war nie meine Sache, wie du weißt.


Peregrin.


Und doch lehrt dich nun die Erfahrung, daß es nicht geschwärmt gewesen wäre, wenn du damals über diese Dinge gedacht hättest wie du jetzt denkst.


Lucian.


Um Vergebung! Wie oft sieht man sogar im gemeinen menschlichen Leben Dinge geschehen, welche nicht vorausgesehen zu haben dem klügsten Manne nicht zum Vorwurf gereichen kann! Die Natur hatte mich mit einem kalten Kopfe ausgesteuert; ich hätte das hitzige Fieber in einem hohen Grade haben müssen, um mir damals, als ich dich zu Harpine in[20] die Flammen springen sah, einzubilden, daß ich dich an einem andern Orte wie dieser und so wohlbehalten wiederfinden würde.


Peregrin.


Indessen beweisen deine Werke, daß es dir nicht an Einbildungskraft fehlte; oder vielmehr, daß nur wenige sich rühmen können, dich an Fruchtbarkeit und Stärke dieser Seelenkraft übertroffen zu haben.


Lucian.


Aber sie beweisen auch, dächte ich, daß ich die Imagination nie anders als zum Spielen gebrauchte. Im Scherz machte ich wohl mit ihrer Hülfe Reisen in den Mond und nach der Jupitersburg28: aber daß ich im Ernst hätte glauben sollen, mit ihr über die Gränzen hinausfliegen zu können, die unsern fünf Sinnen, und folglich auch unsrer Vernunft, in jenem Leben von der Natur gesetzt waren, so etwas konnte eben so wenig in einen Kopf wie der meinige kommen, als der Gedanke, mir im Ernste einen Adlers- und einen Geyersflügel an die Arme zu binden und damit nach dem Monde zu fliegen.


Peregrin.


Dieß geb' ich dir willig zu; denn alles was daraus folgt, ist, daß es zu deiner eignen Art zu seyn gehörte, deine Einbildungskraft nur zum Scherz, zum Erfinden und Ausmalen abenteuerlicher Bilder, und zur Belustigung deiner Zuhörer oder Leser zu gebrauchen. Aber ich denke nicht, daß dir dieß ein Recht gab diejenigen zu verspotten, die einen ernsthaftern Gebrauch von der ihrigen machten, und, indem sie sich die[21] Bestimmung und das künftige Loos des Menschen ungefähr so einbildeten wie wir es wirklich befunden haben, durch die That bewiesen, daß eine gewisse Divinationskraft in unsrer Seele schlummert, die vielleicht (wie so viele andere Fähigkeiten) in den meisten Menschen nie erweckt wird, aber denen, in welchen sie erwacht und zu einem gewissen Grade von Lebhaftigkeit gelangt, ein Vorgefühl des Unsichtbaren und Zukünftigen gibt, das in einer feurigen und thätigen Seele natürlicherweise nicht ohne Wirkung bleiben kann.


Lucian.


Freund Peregrin, wenn es erlaubt ist über einen Thersites29 zu spotten, der schöner als Phaon und Adonis zu seyn wähnt, oder einen Zwerg lächerlich zu finden, der sich unter einer sechs Schuh hohen Thür bückt, aus Furcht im Durchgehen die Stirne anzustoßen: so sehe ich nicht, warum es so unrecht seyn sollte, über einen Ehrenmann zu lachen, der, zum Beispiel, sich einbildete, vermittelst ich weiß nicht welches eigenen Sinnes das Gras wachsen zu hören, und den Umstand, daß das Gras wirklich gewachsen ist, als eine Bestätigung dieser ihm beiwohnenden Gabe geltend machen wollte.


Peregrin.


Und ich sehe eben so wenig, wie man ihm beweisen könnte, daß er diesen Sinn nicht habe, als warum man ihm seinen Wahn, wenn es auch Wahn wäre, nicht unverspottet lassen sollte, zumal wenn er sonst ein unschuldiger und guter Mensch ist.


[22] Lucian.


Es gibt wohl unter der ganzen unermeßlichen Last von Thorheiten, woran der Verstand der armen Erdenkinder krank ist, wenige, die nicht an sich selbst so unbedeutend und unschuldig sind oder scheinen, daß sie nicht mit gleichem Rechte sollten fordern können, unverspottet ihren Weg gehen zu dürfen: und doch sind eben diese kleinen unschuldigen Thorheiten zusammengenommen die Quellen der größten Uebel, von denen das Menschengeschlecht geplagt wird. Keine Thorheit, wie unschuldig sie auch scheinen mag, kann also einen Freibrief gegen den Spott verlangen, der beinahe das einzige wirksame Verwahrungsmittel gegen ihren schädlichen Einfluß ist.


Peregrin.


Gut! aber gestehe mir auch, daß gerade dieser große Hang der Menschen zur Thorheit, und diese fast allgemeine Bethörung, womit selbst diejenigen, die sich die klügsten dünken, unwissend angesteckt sind, es ihnen oft schwer macht, sich in ihren raschen Urtheilen über das, was thöricht oder nicht thöricht ist, vor Irrthum zu bewahren. Immer wird viel Behutsamkeit vonnöthen seyn, damit wir den Menschen, indem wir ihnen Gutes zu thun glauben, nicht Schaden zufügen, wenn unsre Arznei noch viel schlimmere Wirkungen thut, als das Uebel ist, dem wir abhelfen wollen. Welcher weise und gute Mann wird sich gern der beschämenden Reue aussetzen, eine Meinung, die den Menschen veredelt, die ihn über sich selbst erhebt und zu allem was schön und groß ist begeistert, als einen thörichten Wahn dem Spotte der Narren und Gecken Preis gegeben zu haben?


[23] Lucian.


Nicht alles was gleißt ist Gold, mein edler Freund, und manche Meinung, die kein guter Mensch ihrer selbst wegen anfechten würde, wird durch den thörichten Gebrauch, welchen alberne oder brennende Köpfe von ihr machen, belachenswürdig. Ueberhaupt, lieber Peregrin, hat mich ein ruhiger Blick auf die menschlichen Dinge in jenem Leben etwas mißtrauisch gegen alle hoch fliegenden Anmaßungen gewisser Leute, deren Absichten selten lange zweideutig bleiben, gemacht; und ich argwohne immer eine Natter unter den Blumen, wenn ich von Mysterien oder magischen Operationen höre, wodurch die menschliche Natur über sich selbst erhoben, wo nicht gar vergöttert werden soll. Meistens habe ich gesehen, daß diese Dinge nichts als goldfarbige Fliegen sind, womit Betrüger ihre Angeln bestecken und gutherzige Schwindelköpfe damit anlocken, um, wenn sie einmal in den Hamen gebissen haben, etwas weniger als Menschen, oder, rund heraus zu reden, Narren und blinde Werkzeuge ihrer geheimen Absichten aus ihnen zu machen. Wer zum Menschen geboren wurde, soll und kann nichts Edleres, Größeres und Besseres seyn als ein Mensch – und wohl ihm, wenn er weder mehr noch weniger seyn will!


Peregrin.


Aber, lieber Lucian, gerade um nicht weniger zu werden als ein Mensch, muß er sich bestreben mehr zu seyn. Unläugbar ist etwas Dämonisches in unsrer Natur; wir schweben zwischen Himmel und Erde in der Mitte, von der Vaterseite, so zu sagen, den höhern Naturen, von unsrer Mutter Erde Seite den Thieren des Feldes verwandt. Arbeitet sich der[24] Geist nicht immer empor, so wird der thierische Theil sich bald im Schlamme der Erde verfangen, und der Mensch, der nicht ein Gott zu werden strebt, wird sich am Ende in ein Thier verwandelt finden.


Lucian.


Es wäre denn, daß ihn die wohlthätige Natur, wie Mercur den Ulysses beim Homer, mit einem Moly30 beschenkt hätte, durch dessen Tugend er allen solchen Bezauberungen Trotz bieten kann.


Peregrin.


Und wie nennest du diesen wundervollen Talisman? Denn so viel ich mich aus meinem Homer besinne, ist Moly nur der Name, den ihm die Götter gaben.


Lucian.


Verstand nenne ich ihn, lieber Peregrin, gemeinen, aber gesunden Menschenverstand.


Peregrin (indem er ihm scharf in die Augen sieht).


Und dieses Moly hätte dich in deinem Leben immer vor der Zauberruthe der schönen Circe verwahrt?


Lucian.


Vor ihren Verwandlungen allerdings: es setzte mich ungefähr in das nämliche Verhältniß mit ihr, worein Ulysses durch die Kraft seines Moly mit der Sonnentochter kam. Denn seinem Moly allein, so wie ich dem meinigen, hatte er es zu danken, daß er jenes Aristippische εχω ουκ εχομαι31 sagen konnte, worauf in solchen Dingen alles ankommt, wie du weißt.


[25] Peregrin.


Daß du hier bist, beweiset viel für dich – aber Abschälungen32 mag es doch gekostet haben!


Lucian.


Davon kann wohl niemand besser aus Erfahrung sprechen als Proteus.


Peregrin.


Die Luft, die wir hier athmen, lieber Lucian, macht uns zu Freunden, wie verschieden wir auch noch immer in unsrer Vorstellungsweise seyn mögen. Aber gestehe nur aufrichtig, du wunderst dich, wie ein so verächtlicher und nichtswürdiger Mensch, als du den armen Peregrin geschildert hast, eine Thür ins Elysium offen finden konnte?


Lucian.


Ich schilderte dich damals wie ich dich sah oder zu sehen glaubte. Freilich muß indessen entweder mit meinen Augen, oder mit deinem inwendigen Menschen eine große Veränderung vorgegangen seyn.


Peregrin.


Vermuthlich mit beiden. Aber doch bin ich's der Wahrheit schuldig, dir, wenn du Muße hast mich anzuhören, eine etwas bessere Meinung von dem, was ich in meinem Erdeleben war, beizubringen, als du der Nachwelt davon hinterlassen hast.


Lucian.


Ich bin zwar im Begriff eine kleine Reise in unser altes Mutterland zu machen; aber mein Geschäft ist nicht so dringend, daß es Eile erforderte. Ueberdieß können mir die[26] Nachrichten, die ich über gewisse Stellen deiner Lebensgeschichte von dir selbst am zuverlässigsten erhalten könnte, vielleicht bei dem, was der hauptsächlichste Gegenstand meiner Absendung ist, nicht ohne Nutzen seyn.


Peregrin.


Desto besser. Wenigstens gewinnest du immer so viel dabei, daß du nichts von mir hören wirst, als was ich selbst für Wahrheit halte.


Lucian.


Wir sind zwar sogar im Elysium nicht gänzlich von den geheimen Einflüssen der Eigenliebe frei: aber da es unmöglich ist, daß wir vorsetzlich gegen unser Gefühl und Bewußtseyn reden sollten, so bin ich gewiß, daß ich über alles, was du selbst am besten wissen kannst, die reine Wahrheit von dir erfahren werde. Die Quellen, woraus ich ehemals meine Nachrichten schöpfte, mögen wohl nicht immer die lautersten gewesen seyn, wiewohl ich allerdings den Willen hatte dir kein Unrecht zu thun.


Peregrin.


Wer weiß besser als du, wie wenig auf die Erzählungen und Urtheile der Sterblichen von einander zu bauen ist! Jene werden schon dadurch allein fast immer verfälscht, daß man diese, es sey nun unvermerkt oder mit Vorsatz, unter sie einmischt, und also den Sachen durch unsre Meinungen von ihnen fast immer eine falsche Farbe oder ein betrügliches Licht gibt. Selten ist der Erzähler ein Augenzeuge, noch seltner der Augenzeuge ganz unbefangen, ohne alle Parteilichkeit, vorgefaßte Meinung oder Nebenabsicht; fast immer vergrößert[27] oder verkleinert, verschönert oder verunstaltet er was er gesehen hat. Du, zum Beispiel, hattest den Willen mir kein Unrecht zu thun: aber ich war ein Christianer33 gewesen, und du hieltest alle Christianer für Schwärmer oder Schelme; ich war in den Orden des Diogenes übergegangen, und dein Haß gegen die Cyniker ist bekannt genug, da du keine Gelegenheit versäumtest ihm die möglichste Publicität zu geben. Wie hättest du also den armen Peregrin, mit allem guten Willen ihm kein Unrecht zu thun, in keinem ungünstigen Lichte sehen sollen? Ihn, auf den der ehemalige Christianer und der nunmehrige Cyniker einen doppelten Schatten warf?


Lucian.


Was die Cyniker betrifft, so muß ich dich um Erlaubniß bitten zu bemerken, daß ich, anstatt ein Feind, vielmehr ein Bewunderer ihres Ordens, seiner ersten Stifter und der wenigen ächten Glieder, die ihm Ehre brachten, war. Mein Demonax und mein Dialog mit einem Cyniker sollten mich, dächte ich, über diesen Punkt hinlänglich gerechtfertiget haben. Vermuthlich würde ich auch mit den Christianern gelinder verfahren seyn, wenn ich jemals so glücklich gewesen wäre, nur einen einzigen edeln und liebenswürdigen Menschen aus dieser Secte kennen zu lernen.


Peregrin.


Dieß wäre eben nicht unmöglich gewesen; wiewohl ich gestehen muß, daß ein ächter Christianer zu unsrer Zeit beinah' eben so selten war als ein ächter Cyniker. – Aber dieß für jetzt bei Seite gesetzt, antworte mir, wenn ich bitten darf, nur auf eine einzige Frage.


[28] Lucian.


Sehr gern. Frage was du willst.


Peregrin.


Der Unbekannte, der zu Elis, von der öffentlichen Redekanzel herab, so viel schändliche Dinge von mir erzählt haben soll, war er eine wirkliche Person? oder hast du ihn vielleicht nur aufgestellt um deine Composition einfacher zu machen, und einem Einzigen in den Mund gelegt, was du vielleicht von verschiedenen Personen zu verschiedenen Zeiten über mich gehört hattest?


Lucian.


Gewissermaßen beides.


Peregrin.


Ich erinnere mich nun selbst wieder, daß mir Theagenes, sobald er nach Olympia kam, etwas von einem solchen Auftritt zu Elis erzählte, wo ihn sein übermäßiger und (wie ich glaube) nicht ganz lautrer Eifer für den Ruhm des cynischen Ordens antrieb, die Kanzel zu besteigen, um mir und meinem Vorhaben die Lobrede zu halten, die dir so anstößig war.


Lucian.


Der Unbekannte war kein Geschöpf von meiner Erfindung. Er schien, der Aussprache nach, ein Bithynier oder Paphlagonier von Geburt, ein Epikuräer von Profession, und übrigens ein Mann zu seyn, der viel gereist und kein Neuling in der Welt war. Die Heftigkeit, womit dieser Mann gegen dich declamierte, hätte mir seine Erzählung vielleicht verdächtig machen sollen: aber mein natürlicher Haß gegen einen jeden der etwas Außerordentliches seyn wollte, die nachtheilige[29] Meinung die ich bereits von dir hegte, und die Uebereinstimmung des Charakters, den er von dir machte, mit meiner eigenen vorgefaßten Meinung, und mit den Nachrichten, die ich aus andern Quellen erhalten hatte – alles dieß zusammen machte mich geneigt ihm zu glauben, und die Hitze, womit er gegen dich sprach, einer der meinigen ähnlichen Sinnesart zuzuschreiben. Hierzu kam noch, daß ich in dem Resultat seiner ganzen Erzählung den Schlüssel zu finden glaubte, der mir das Außerordentliche in deinem Leben, und besonders die seltsame Art wie du es zu endigen vorhattest, aufzuschließen schien. Indessen gestehe ich offenherzig, daß ich kein Bedenken trug, die Erzählung des Ungenannten mit verschiedenen Anekdoten, die ich zu verschiedenen Zeiten und Gelegenheiten aufgelesen hatte, vollständiger zu machen. Auch kann ich nicht läugnen, daß das Orakel des Bakis34, welches ich ihn dem Spruch der Sibylle stehendes Fußes entgegen setzen ließ, eine Verschönerung von meiner eigenen Erfindung war.


Peregrin.


Man kann, denke ich, immer darauf rechnen, daß Schriftsteller, denen es mehr um Beifall als um strenge Wahrheit zu thun ist, sich eben kein Gewissen daraus machen werden, der Composition zu Liebe manchen Eingriff in die Rechte der letztern zu thun. Ein Bißchen Unwahrheit und Ungerechtigkeit mehr oder weniger, wenn es darauf ankommt einen witzigen Einfall anzubringen oder eine Periode zu ründen, ist eine sehr unbedeutende Kleinigkeit in ihren Augen. Wer das Unglück hat, der Gegenstand einer Philippika35 zu seyn, muß freilich unter diesem hergebrachten Vorrecht witziger Schriftsteller[30] leiden: dafür aber befinden sich auch die Glücklichen, denen Lobreden zu Theil werden, desto besser dabei, und gewinnen oft, eben so unverdienterweise, doppelt und dreifach wieder, was jene verloren haben. Ich kann also, da du mein Bild von Theagenes vergolden, von dem Unbekannten hingegen mit Koth übertünchen ließest, immer eines gegen das andere aufgehen lassen: aber es bleibt mir noch eine andere kleine Beschwerde übrig, gegen welche es vielleicht schwerer seyn dürfte, deine Unparteilichkeit hinlänglich zu rechtfertigen.


Lucian.


Vermuthlich, daß ich so leicht über die Rede wegging, die du selbst wenige Tage vor der Ceremonie an die Versammlung zu Olympia hieltest?


Peregrin.


Und worin ich mich, wie du dich erinnern wirst, über alle zweideutigen Stellen meiner Lebensgeschichte umständlich genug vernehmen ließ. Wie kam es, daß der große Freund der Wahrheit – der so gewissenhaft war, von allem was der Unbekannte zu meinem Nachtheil vorgebracht hatte, kein Wort auf die Erde fallen zu lassen – von allem was ich selbst zu meiner Rechtfertigung sagte, und was als die letzte Erklärung eines Sterbenden doch immer einiger Aufmerksamkeit werth war, nicht ein einziges armes Wörtchen vom Boden aufzuheben würdigte? Denn daß die angeführte Entschuldigung – »du wärest, der Menge und des Gedränges wegen, zu weit entfernt gewesen, um etwas davon zu verstehen« – nicht[31] eine bloße Ausrede gewesen sey, werden sich unbefangene Leser schwerlich überreden lassen.


Lucian.


Aufrichtig zu reden, lieber Peregrin, ich zweifle sehr, ob du damals, wenn du von mir hättest reden oder schreiben sollen, gerechter gegen mich gewesen wärest als ich gegen dich. Wir waren beide zu ganz das was wir waren, ich zu kalt, du zu warm, du zu sehr Enthusiast, ich ein zu überzeugter Anhänger Epikurs, um einander in dem vortheilhaftesten Lichte zu sehen. Ein inniges Gefühl von Verachtung war mit dem Begriff eines Schwärmers (unter welchem ich mir unmöglich etwas andres als entweder einen Narren oder einen Spitzbuben denken konnte) zu genau in mir verbunden, um nicht, selbst auf eine instinctmäßige Weise, bei solchen Gelegenheiten auf mich zu wirken. Ich hatte weder Achtung noch Neugier genug für das, was du dem Volke vortrugst, um mich, mit Gefahr halb erdrückt zu werden, durch die Menge von Menschen, welch Kopf an Kopf um die Redekanzel herum standen, näher hin zu drängen – oder mich früh genug eines Platzes neben ihr zu versichern. Es war also die reine Wahrheit, da ich sagte ich hätte wenig oder nichts von deiner Rede verstanden, und erst, als viele, die es in dem erstickenden Gedränge nicht mehr aushalten konnten, sich mit Händen und Füßen wieder herausarbeiteten, fand ich Gelegenheit, nahe genug zu kommen um den Schluß derselben zu hören. Um so mehr wirst du mich demnach verbinden, guter Peregrin, wenn du mir durch die versprochnen Berichtigungen deiner Geschichte zu[32] einer unverfälschten Kenntniß deines Charakters verhelfen willst. Wenn dir's gefällt, so setzen wir uns dazu unter diesen Platanus, der jenem Sokratischen am Ufer des Ilyssus so ähnlich sieht.


Peregrin.


Sehr gern. Höre also, was ich dir von meiner Jugend, von meinen ersten Wanderungen, meiner Gemeinschaft mit den Christianern, meinem Uebergang zu den Cynikern, meinem Aufenthalt in Alexandrien, Rom und Athen, und endlich von den Bewegursachen, warum ich meinem irdischen Leben ein so außerordentliches Ende machte, mit aller Aufrichtigkeit, die eine natürliche Folge unsers gegenwärtigen Zustandes ist, erzählen werde. Es kommt, wie du weißt, bei den Menschen nicht weniger als bei den Pflanzen, sehr viel wo nicht alles darauf an, in welchem Boden und unter welchen Einflüssen die zartesten Fasern ihrer aufkeimenden Natur entwickelt und genährt worden sind. Du wirst mir also erlauben, lieber Lucian, meine Geschichte, wie jener Dichter die Zerstörung des Trojanischen Reichs, vom Ei anzufangen.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 16, Leipzig 1839, S. 19-33.
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