Vorrede zur ersten Ausgabe von 1791.

Ich habe mich schon, bei einer andern Gelegenheit1, etwas von einer kleinen Naturgabe verlauten lassen, die ich (ohne Ruhm zu melden) mit dem berühmten Geisterseher Swedenborg gemein habe, und vermöge deren mein Geist zu gewissen Zeiten sich in die Gesellschaft verstorbener Menschen versetzen, und, nach Belieben, ihre Unterredungen mit einander ungesehen behorchen, oder auch wohl, wenn sie dazu geneigt sind, sich selbst in Gespräche mit ihnen einlassen kann.

Ich gestehe, daß mir diese Gabe zuweilen eine sehr angenehme Unterhaltung verschafft: und da ich sie weder zu Stiftung einer neuen Religion, noch zu Beschleunigung des tausendjährigen Reichs2, noch zu irgend einem andern, dem geistlichen oder weltlichen Arme verdächtigen Gebrauch, sondern bloß zur Gemüthsergötzung meiner Freunde, und höchstens zu dem unschuldigen Zweck, Menschenkunde und Menschenliebe zu befördern3, anwende; so hoffe ich, für[5] diesen kleinen Vorzug (wenn es einer ist) Verzeihung zu erhalten, und mit dem Titel eines Geistersehers, der in unsern Tagen viel von seiner ehemaligen Würde verloren hat, gütigst verschont zu werden.

Es ist noch nicht lange, daß ich das Vergnügen hatte, eine solche Unterredung zwischen zwei Geistern von nicht gemeinem Schlage aufzuhaschen, die meine Aufmerksamkeit um so mehr erregte, da diese Geister in ihrem ehemaligen Leben nicht zum besten mit einander standen, und der eine von ihnen mein sehr guter Freund ist.

Der letztere (um die Leser nicht unnöthig rathen zu lassen) war ein gewisser Lucian4 – keiner von den zwei oder drei Heiligen Lucianen, die mit einem goldnen Cirkel um den Kopf in den Martyrologien figuriren; auch nicht Lucian der Mönch, noch Lucian der Pfarrer zu Kafar-Gamala, der im Jahre des Heils 415 so glücklich war, von St. Gamaliel im Traume benachrichtiget zu werden, wo die Gebeine des heiligen Stephanus zu finden seyen; noch Lucian der Marcionit, noch Lucian von Samosata, der Arianer, von dem eine eigene Nebenlinie dieser unglücklichen Familie den Namen der Lucianischen führt – sondern Lucian der Dialogenmacher, der sich ehemals mit seinen Freunden Momus und Menippus über die Thorheiten der Götter und der Menschen lustig machte, übrigens aber (diesen einzigen Fehler ausgenommen) eine[6] so ehrliche und genialische Seele war und noch diese Stunde ist, als jemals eine sich von einem Weibe gebären ließ.

Der andere war eine nicht weniger merkwürdige Person, wiewohl er in seinem Erdeleben in allem den ausgemachtesten Antipoden meines Freundes Lucian vorstellte, und eine so zweideutige Rolle spielte, daß er bei den einen mit dem Ruf eines Halbgottes aus der Welt ging, während die andern nicht einig werden konnten, ob der Narr oder der Bösewicht, der Betrüger oder der Schwärmer in seinem Charakter die Oberhand gehabt habe. Alles in dem Leben dieses Mannes war excentrisch und außerordentlich: sein Tod war es noch mehr; denn er starb freiwillig und feierlich auf einem Scheiterhaufen, den er vor den Augen einer großen Menge von Zuschauern aus allen Enden der Welt, in der Gegend von Olympia, mit eigner Hand angezündet hatte.

Lucian, der ein Augenzeuge dieses beinahe unglaublichen Schauspiels gewesen war, wurde auch der Geschichtschreiber desselben, und glaubte, als ein erklärter Gegner aller Arten von philosophischen oder religiösen Gauklern, einen besondern Beruf zu haben, die schädlichen Eindrücke auszulöschen, welche Peregrin (so hieß dieser Wundermann, wiewohl er sich damals lieber Proteus nennen ließ) durch einen so außerordentlichen Heldentod auf die Gemüther[7] seiner Zeitgenossen gemacht hätte: und wie hätte er diesen Zweck besser erreichen können, als indem er sie zu überzeugen suchte, daß der Mann, den sie, nach einer so übermenschlichen That für den größten aller Weisen, für ein Muster der höchsten menschlichen Voll kommenheit, ja beinahe für einen Gott zu halten sich genöthigt glaubten, weder mehr noch weniger als der größte aller Narren, sein ganzes Leben das Leben eines von Sinnlichkeit und ausschweifender Einbildungskraft beherrschten halb wahnsinnigen Scharlatans, und sein Tod nichts mehr als der schicklichste Beschluß und die Krone eines solchen Lebens gewesen sey.

Ich habe an einem andern Orte die Gründe ausgeführt5, welche mich überredeten, zu glauben daß Lucian nicht nur in allem, was er als Augenzeuge von diesem Peregrin berichtet, sondern auch in Erzählung derjenigen Umstände, die er von bloßem Hörensagen hatte, ehrlich zu Werke gegangen, und von dem Gedanken, seine Leser zu belügen und dem armen Phantasten wissentlich Unrecht zu thun, weit entfernt gewesen sey. Aber wie zuverlässig auch Lucians Aufrichtigkeit in dieser Sache immer seyn mag, so bleibt nicht nur die Glaubwürdigkeit der Gerüchte und Anekdoten, die auf Peregrins Unkosten in Syrien und anderer Orten herumgingen und jenem erzählt worden waren, zweifelhaft, sondern auch die Fragen: »ob Lucian in seinem[8] Urtheile von ihm so unparteiisch, als man es von einem ächten Kosmopoliten fordern kann, verfahre? und: ob Peregrin wirklich ein so verächtlicher Gaukler und Betrüger und doch (was sich mit diesem Charakter nicht recht vertragen will) zu gleicher Zeit ein so heißer Schwärmer und ausgemachter Phantast gewesen sey, als er ihn ausschreit?« – diese Fragen, sage ich, bleiben für Leser, welche einem Angeklagten, der sich selbst nicht mehr vertheidigen kann, eine desto schärfere Gerechtigkeit im Urtheilen über ihn schuldig zu seyn glauben, unauflösliche Probleme.

Man kann sich also vorstellen wie groß mein Vergnügen war, als ich durch einen glücklichen Zufall Gelegenheit bekam, die erste Unterredung, die zwischen Lucian und Peregrin im Lande der Seelen vorfiel, zu belauschen, und aus dem eignen Munde des letztern Aufschlüsse und Berichtigungen zu erhalten, wodurch das Mangelhafte in den Lucianischen Nachrichten ergänzt, das Dunkle und Unerklärbare ins Licht gesetzt, und das ganze moralische Räthsel des Lebens und Todes dieses sonderbaren Mannes, auf eine ziemlich befriedigende Art aufgelöset wird.

Wenn man sich erinnert, daß seit dem Tode beider redenden Personen beinahe sechzehnhundert Jahre verstrichen sind, so wird man vielleicht unglaublich finden, daß sie in einem so langen Zeitraum nicht eher Gelegenheit gehabt haben sollten, sich anzutreffen und gegen einander zu erklären.[9] Allein fürs erste sind sechzehn Jahrhunderte, nach dem Maßstabe woran die Geister die Zeit zu messen pflegen, kaum so viel als nach unserm Zeitmaße eben so viel Jahrzehnte: und dann traten bei Lucian und Peregrinen noch besondere Umstände ein, von denen (wiewohl sie zu den Geheimnissen des Geisterreichs gehören) uns vielleicht künftig etwas zu verrathen erlaubt seyn wird, die aber hier nicht an ihrem rechten Orte stehen würden.

Nach diesem kleinen Vorberichte würde mich nun nichts weiter hindern, die Unterredung zwischen den besagten beiden Geistern sogleich mitzutheilen, wenn ich voraussetzen könnte, daß der Inhalt der oben angezogenen Lucianischen Schrift (ohne welche diese ganze Unterredung unverständlich und ihre Mittheilung zwecklos seyn würde) entweder aus dem Original oder aus irgend einer Uebersetzung allen Lesern bekannt und gegenwärtig wäre. Da es aber billig ist, auf diejenigen, die sich nicht in diesem Falle befinden, Rücksicht zu nehmen: so hoffe ich diesen letztern durch folgenden Auszug aus Lucians Bericht von Peregrins Lebensende einen kleinen Dienst zu erweisen.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 16, Leipzig 1839, S. V5-X10.
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