Siebenter Abschnitt.

[32] Peregrin.


Eines Abends, da die lange Dauer meiner Gefangenschaft und die Lauigkeit, womit meine Freunde an meiner Befreiung zu arbeiten schienen, meiner Geduld härter als gewöhnlich zusetzten, öffnete sich die Thür meines Gefängnisses, und eine verschleierte Frau, mit einem Korb auf dem Kopfe und einer Lampe in der Hand, trat herein, und grüßte mich (indem sie die Lampe auf einen kleinen Tisch und den Korb auf den Boden setzte) mit dem wohl bekannten Friedenswunsche der Christianer. Ihr Anzug war die gewöhnliche Kleidung der Diakonissen, das ist, der ältlichen Wittwen, die sich dem Dienste der Brüdergemeinen widmeten; ein dunkelbrauner Habit von der gemeinsten Wolle, mit einem ledernen Gürtel zusammengehalten: aber in ihrer Gestalt war etwas, das mit diesem Anzuge kontrastierte, und, in eben dem Augenblick, da es mich befremdete, eine schlafende Erinnerung zu erwecken schien. Ich war betroffen, und das Herz schlug mir vor Erwartung, was aus dieser Erscheinung werden sollte, ohne daß ich ein Wort hervorbringen konnte. Auch die unbekannte Schwester schien keine Eile zu haben, die Unterredung anzufangen. Das erste, was[33] sie that, war, daß sie in großer Gelassenheit ihren Korb aufdeckte, ein kleines Rauchfaß voll glühender Kohlen herausnahm, etwas Räuchwerk darauf warf, und das ziemlich dumpfe Gewölbe mit einem Wohlgeruch erfüllte, der es auf einmal (wenigstens für Einen Sinn) in ein Zimmer eines Feenpalasts verwandelte.

Dieß erweckte neue Rückerinnerungen: mein Erstaunen nahm zu; ich erwartete mit Ungeduld, was auf diese magische Vorbereitung folgen würde. – »Und dein Herz sagt dir noch immer nichts, mein Bruder Peregrin?« sprach sie endlich mit einer Stimme, die mich zu oft in Entzücken gesetzt hatte, um mich länger im Zweifel zu lassen; und mit dem letzten Worte schlug sie ihren Schleier zurück und öffnete ihre Arme.

Was seh' ich? Dioklea? rief ich außer mir, indem ich in ihre Arme sank; ist's möglich? Dioklea hier? Dioklea eine Christianerin?

»Und warum nicht? versetzte sie lächelnd. Ich habe so vielerlei Rollen gespielt, warum nicht auch diese? die einzige, die es vielleicht der Mühe werth war noch zu lernen?«

Eine Rolle nennst du es? rief ich mit Bestürzung.

»Stoße dich nicht an dieses Wort, lieber Peregrin; es ist nicht so übel gemeint als du es aufnimmst. Es gehört, wie du weißt, Zeit dazu, eine lange gewohnte Sprache zu verlernen und sich eine ganz neue anzugewöhnen. Ich wollte nichts damit sagen, als worin wir unfehlbar beide einverstanden sind, daß wir nichts Weiseres und Besseres thun konnten, als das, was wir ehemals waren, mit dem, was wir nun sind, zu vertauschen.«

Ganz gewiß, Dioklea, hast du das beste Loos erwählt![34] Aber, o sage, wie und wann und wo warest du so glücklich, dich von der schändlichen Mamilia loszureißen? Wer war das gebenedeite Werkzeug deiner Erleuchtung?

»Kerinthus.«

Ist's möglich? Kerinthus? rief ich mit Entzückung aus; Kerinthus, der mich auf eine so wunderbare Weise gerettet hat, Kerinthus hat auch dich aus den Klauen der Dämonen gerissen, und der unermeßlichen Seligkeiten des Reichs der Himmel theilhaftig gemacht?

»Ich habe dir noch weit wundervollere Dinge zu entdecken, mein lieber Proteus; aber vor allen Dingen lass' dich bitten, diese seltsame Sprache, die dir, wie ich höre, so geläufig geworden ist als ob du nie eine andere gesprochen hättest, mit einer natürlichern zu vertauschen.«


Lucian.


Darum hätte ich dich selbst bitten wollen.


Peregrin.


»Fast sellte ich denken (fuhr sie fort), du wärest noch nicht über die Schwelle des innern Heiligthums unsers Ordens gekommen: oder glaubst du etwa, daß dieß bei mir der Fall sey, mein Bruder? so irrest du dich sehr. Ich bin von den Jüngern hinter dem Vorhang,8 lieber Peregrin; ich bin – was du gewiß nicht vermuthest, nie errathen würdest, ich bin –«

Und was denn? rief ich –

»Die Schwester, die leibliche Schwester des Kerinthus,« sagte sie mit einem lächelnden Blick, und einem Tone, der über mein Erstaunen zu triumphiren schien.[35]

Sprichst du im Ernste? Du? Du, Anagallis-Dioklea, die Schwester des Kerinthus? –

»In vollem Ernste, lichtstrahlender Peregrinus Proteus, erwiederte sie indem sie meine Hand ergriff; hier hast du meine Hand darauf, die leibliche Schwester des großen Propheten Kerinthus, wiewohl nicht länger Anagallis noch Dioklea, sondern Theodosia.«

Bisher, lieber Lucian, hatte ich, ungeachtet des Eindrucks der Gegenwart dieser Zaubrerin, und des magischen Nimbus von tausend süßen, Herz und Sinne schmelzenden Erinnerungen, in welchem sie vor meinen Augen stand, noch immer ausgehalten: aber gegen diese Entdeckung, und gegen den leisen Druck ihrer Hand in dem nämlichen Augenblicke – hielt ich nicht länger aus. Es war als ob ich plötzlich aufhörte der vorige Mensch zu seyn. – Ich warf mich, oder taumelte vielmehr, unwissend wer ich war und was ich that, zu ihren Füßen, umfaßte ihre Knie, drückte mich mit der Entzückung eines Rasenden an sie an, stieß sie einen Augenblick darauf wieder von mir, sprang auf, schlug mich mit der Faust vor die Stirne, sank mit dem Kopf aufs Lager hin, sprang wieder auf, stürzte auf Diokleens Schulter, und brach glücklicherweise in einen Strom von Thränen aus, der mir die Sprache wieder gab, und wahrscheinlich meine Vernunft rettete. O so war auch dieß alles Täuschung! rief ich endlich aus, indem ich mein Gesicht an ihren leicht verschleierten Busen drückte. – Aber du bleibst mir! Anagallis oder Dioklea, oder unter welchem Namen du dich mir darstellst, unter jedem Namen,[36] unter jeder Verkleidung bist du – du selbst! Nicht wahr, Dioklea, du täuschest mich nicht?

Sie umarmte mich statt der Antwort mit der ruhigen Zärtlichkeit einer Schwester, indem sie mich bat, mich zu fassen und diese stürmischen Bewegungen zu mäßigen. »Ich habe dir noch unendlich viel zu sagen, setzte sie hinzu; aber du mußt erst ruhiger werden. Setze dich, lieber Peregrin. – Ich bringe in diesem Korb Erfrischungen mit, die deine Lebensgeister besänftigen werden; und ich hoffe, schon meine Gegenwart soll wie Homers Nepenthe auf dich wirken, und dich aller unangenehmen Dinge vergessen machen. Ich habe dafür gesorgt, daß uns niemand stören wird. Die Nacht ist unser. Sogar die frommen Bettler und die Schaar von alten Weibern, die sonst immer vor der Thür lagen und Wache bei dir hielten, sind durch einen Polizeibefehl entfernt. Dioklea denkt an alles, wie du weißt.« – Unter diesen Reden schickte sie sich an, ihren Korb auszupacken, und, um desto rüstiger zu seyn, legte sie den Wittwenschleier, den braunen Ueberrock und den ledernen Gürtel ab, und stand in einer faltenvollen schneeweißen Tunica, die von einem Gürtel von künstlichen Rosen zusammengehalten wurde, mit halb aufgebundnen, halb wallenden Haaren, nymphenähnlicher und reizender, däuchte mich, als jemals, vor mir da.


Lucian.


Armer – oder vielmehr nicht armer, reicher, an süßen Täuschungen reicher Peregrin! Und du hättest gewollt, daß dich Dioklea nicht täuschen sollte?


[37] Peregrin.


Ach! was mich täuschte, war immer in mir selbst! Ich wage es kaum – denn in der That, entweder du bist so gefällig und erlässest mir ein Geständniß, wofür ich wirklich keine Worte zu finden weiß – oder was ich dir gestehen muß, die Wirkung, welche Dioklea (du weißt was für Reitze, was für Erinnerungen dieser Name umfaßt), Dioklea, in diesem Anzug, in einem so gefährlichen Augenblicke, beim magischen Schein einer einzigen Lampe, nach einer so langen Trennung, nach einem so enthaltsamen Leben als ich seit sieben Jahren geführt hatte, in diesem Aufruhr aller meiner äußern und innern Sinne – auf mich machte – Nein, Lucian, fordre es nicht! – es wirft mich zu sehr vor dir zu Boden! Du würdest nicht begreifen können, wie dieses Weib, – die das war was ich wußte, – die, wiewohl noch immer voller Reize, doch gewiß in einer ruhigern Gemüthsstimmung und bei hellem Tageslichte wenig Eindruck auf meine Sinne gemacht hätte, in diesem Augenblicke den Mann, den ich dir bisher geschildert habe, aus einem Enthusiasten von der höchsten Classe, aus einem halben Engel – in einen wüthenden – ich kann das Wort nicht aussprechen – in einen –


Lucian.


So lass' es mich sagen – in einen Satyr verwandeln konnte. – Freund Peregrin, das begreife ich so gut, daß ich noch keine von allen deinen Begebenheiten besser begriffen habe; so gut, daß dieß Geständniß in meinen Augen allen deinen übrigen das Siegel der Wahrheit aufdruckt, und daß ich, hätte Dioklea in jenem nämlichen Augenblick, unter solchen[38] Umständen, unmittelbar nach einer so heftigen Revolution in deinem ganzen Seyn und Wesen, auf einen Menschen wie du, diese Wirkung nicht gethan, entweder geglaubt hätte, du verschweigest mir etwas, oder gezwungen gewesen wäre, in deine ganze bisherige Erzählung ein Mißtrauen zu setzen. – Gib dich also zufrieden, daß du, mit allen deinen Visionen und trotz der hohen Gnosis des Kerinthus, doch nur ein Mensch, das ist, ein Ding warst, das unter gewissen Umständen und Bedingungen ein halber Engel, unter andern ein ganzer Satyr seyn kann, – und sage mir, wie benahm sich die schöne Theodosia in diesem Sturme?


Peregrin.


Ich bin ihr die Gerechtigkeit schuldig, zu sagen, daß sie das Mögliche und das Unmögliche versuchte, um dem wüthenden Nympholepten zu entgehen; aber ihre Kräfte reichten nicht so weit. Ueberdieß war die Thür von außen verriegelt, und noch lauter zu schreien als sie wirklich schrie, – uns beide dadurch zum Stadtmährchen von Antiochia zu machen, und auf die unschuldigen Christianer eine Nachrede zu bringen, welche gewiß von ihren Feinden sehr grausam gemißbraucht worden wäre, dazu war sie zu verständig und zu edel denkend. – Aber lass' mich kein Wort weiter von dieser widerlichen Scene sagen; denn du, der alles so gut begreift, begreifst auch dieß, daß Dioklea –


Lucian.


O gewiß begreife und billige ich sogar, – unter allen vorwaltenden Umständen, versteht sich – daß sie dir vergab; dir, da du (wie ich mir leicht vorstellen kann) im Staube vor ihr[39] lagst, und, von Scham und Reue beinahe vernichtet, um Gnade flehtest, eben so aufrichtig vergab, als sie gethan haben würde, wenn du sie durch eine unfreiwillige Bewegung mit einem Messer verwundet hättest. – Nichts davon zu sagen, daß eine Dame von Diokleens Stand, Alter und Charakter sich im Grunde durch einen so außerordentlichen Beweis der Gewalt ihrer Anziehungskraft weniger beleidigt als geschmeichelt finden mußte.


Peregrin.


Dieß, Lucian, war wohl nicht der Fall mit Diokleen. Was geschehen war, verrückte ihren ganzen Plan, und konnte ihr also unmöglich anders als äußerst unangenehm seyn. Und in der That, wenn ich bedenke, daß dieser Sturm, wie du es zu nennen die Güte hattest, vielleicht das einzige war, was mich von den Verführungen dieser schlauen Creatur retten, und in die ruhige Fassung setzen konnte, ohne welche es mir, aller Wahrscheinlichkeit nach, unmöglich gewesen wäre ihren Anschlag auf mich zu vereiteln: so bin ich beinahe versucht, jenen wilden Ausbruch, der so ganz und gar nicht in meinem natürlichen Charakter war, eher für das Werk meines guten Genius zu halten, oder wenigstens in die Zahl der unerklärbaren Zufälle zu setzen, durch welche wir, indem wir bloß als blinde Werkzeuge einer mechanisch auf uns wirkenden Ursache handeln, von irgend einem großen Uebel befreiet oder irgend eines großen Gutes theilhaftig werden; Zufälle, wovon jeder Mensch, vielleicht ohne Ausnahme, auffallende Beispiele aus seiner eigenen Erfahrung anzuführen hat. Der Verfolg meiner[40] Erzählung wird dich, denke ich, überzeugen, daß ich Grund habe diese Bemerkung zu machen.


Lucian.


Etwas, wovon ich sehr stark überzeugt bin, ist: daß die gute Mutter Natur, die ihre Kinder nicht leicht im Stiche läßt, sehr mütterlich dafür gesorgt hat, daß wir, um den Glauben an uns selbst (dieß so unentbehrliche Triebrad in unserm Wesen) durch keine unsrer Vergehungen oder Thorheiten gänzlich zu verlieren, für jede Anklage in unserm eigenen Busen eine Entschuldigung finden, welche unvermerkt die Gestalt einer Rechtfertigung gewinnt, und wenigstens uns selbst beruhigt, wenn sie auch nicht immer vor einem ganz unparteiischen Richter bestehen könnte. – Aber weiter, Peregrin!


Peregrin.


Als ich endlich, wiewohl nicht ohne große Mühe, meine so gröblich beleidigte Freundin wieder besänftiget sah, und einige Becher von einem Weine, der die Bacchanalien der Villa Mamilia in unsre Erinnerung zurückrief, das gute Verständniß zwischen uns wieder hergestellt hatten, bat ich sie, mir zu erklären, durch was für ein Wunder die Tochter des Apollonius, die weltberühmte Tänzerin Anagallis, die Vertraute der üppigsten aller Römerinnen, mit Einem Worte, die schöne Dioklea, aus einer sehr irdischen Priesterin der himmlischen Venus in eine Schwester des erhabnen Kerinthus und in eine Christianerin umgestaltet worden sey.

Ich bin, versetzte sie, mit der Entschließung hierher gekommen, dich über alle diese Dinge ins Klare zu setzen; und[41] wiewohl ich wenig Ursache habe, viel Vertrauen in deine Weisheit zu setzen, so will ich es doch auf die Gefahr noch einmal von meinem Herzen betrogen zu werden, mit dir wagen, und deiner Freundschaft für mich, an welcher ich nie gezweifelt habe, das Geheimniß meiner Seele anvertrauen. Alles müßte mich betrügen (setzte sie hinzu), oder das Schicksal hat uns nach einer so langen Trennung wie der zusammengebracht, um an einem großen Plane mit einander zu arbeiten, und, wie oft uns auch die Umstände noch ferner trennen möchten, dem Geist und Herzen nach immer aufs engeste vereiniget zu bleiben. – Nach dieser Vorrede forderte sie, als die einzige und absolute Bedingung, ohne welche alle Gemeinschaft zwischen uns sogleich unwiderruflich aufgehoben werden müßte, daß ich ihr feierlichst angeloben sollte, von diesem Augenblick an zu vergessen, daß sie jemals Dioklea und Anagallis für mich gewesen sey, nichts andres mehr in ihr zu sehen, als meine neu gefundene Schwester Theodosia, und mit dem heiligen Namen eines Bruders auch die Gesinnungen und das Betragen eines Bruders gegen sie anzunehmen. Es war natürlich, daß ich mich auf alle Fälle gegen einen solchen Antrag sträubte; aber, da sie mit großem Ernst darauf bestand, blieb mir nichts andres übrig als zu gehorchen, und es lediglich auf die Bescheidenheit meines Betragens und ihre eigene Großmuth ankommen zu lassen, ob und unter welchen Umständen sie für gut finden würde, von der strengen Buße, welcher ich mich unterwarf, etwas nachzulassen.

Nachdem dieser vorläufige Punkt berichtiget war, fing sie an, mir das Wesentlichste von der geheimen Geschichte ihres[42] Bruders und ihrer eignen mitzutheilen. Kerinthus war einige Jahre älter als sie; sie stammten von jüdischen Eltern ab, die ihnen aber noch in ihrer Kindheit entrissen wurden. Noth und Dürftigkeit brachten ihren Bruder dahin, sich selbst und seine kleine Schwester auf eine gewisse Zeit an eine Bande herumziehender Tänzer und Luftspringer zu verhandeln. Etliche Jahre darauf fiel die kleine Dorkas, wie sie sich damals nannte, in die Hände eines gewissen Hermias, eines Weisen von dem Aristippischen Orden, der zu Athen privatisirte, und sich, aus nicht ganz uneigennützigen Absichten, ein Geschäft daraus machte, die Anlagen, die er in ihr entdeckte, theils selbst, theils durch die besten Meister die er finden konnte, auszubilden. Sie sprach von diesem ihrem zweiten Vater mit der Wärme und Zärtlichkeit einer Tochter, die ihm alles was sie war zu danken hätte. Aber auch er wurde ihr nach einigen Jahren durch den Tod geraubt; und weil das kleine Vermächtniß, das er ihr hinterlassen konnte, ziemlich bald aufgezehrt war, so befand sie sich nun in dem Falle, von den Talenten zu leben, welche sie zu Athen erworben hatte; und in der That erfüllte sie, indem sie zu Smyrna, Ephesus, Antiochia, und in andern Hauptstädten der östlichen Provinzen des Reichs, unter dem Namen Anagallis als mimische Tänzerin auftrat, wirklich die Absicht, zu welcher Hermias (der sie auf keinem andern Wege glücklicher machen zu können glaubte) sie mit so vielem Aufwand erzogen hatte.

Inzwischen hatte das Schicksal auch mit ihrem Bruder auf mancherlei Art gespielt. Er war ehemals zugleich mit ihr nach Athen gekommen, und Hermias hatte, aus Liebe zu[43] ihr, ein paar Jahre für seinen Unterhalt gesorgt, und ihm Gelegenheit verschafft, in den Schulen der Rhetorn und Philosophen die erste Bildung eines Geistes zu erhalten, der schon damals nichts Gemeines zu versprechen schien. Nach Verfluß dieser Zeit fand Hermias Gelegenheit, den jungen Menschen an einen seiner Freunde zu Korinth zu empfehlen, der ihn zu Handlungsgeschäften gebrauchte, und in dessen Gesellschaft er verschiedene Reisen machte, auf einer derselben aber, durch die Unruhe seines immer ohne bestimmten Zweck emporstrebenden Geistes, von ihm getrennt, und zuletzt nach Alexandrien verschlagen wurde, wo er einige Zeit in Gemeinschaft mit den Juden lebte, sich in der Religion seiner Väter unterweisen ließ, und mit verschiedenen übel berechneten Entwürfen, seinem unglücklichen Volke aufzuhelfen, umging, deren Vereitlung ihn von Alexandrien wieder weg, und von einem Abenteuer zum andern trieb. Er hatte sich in Aegypten mit der Hermetischen Philosophie bekannt gemacht, und wanderte nun durch Chaldäa und Medien bis nach der heiligen Stadt Balk, an die Ufer des Oxus, um sich in den Mysterien der Chaldäer und der Zoroastrischen9 Schule einweihen zu lassen.

Während der ganzen Zeit, da Kerinthus von seinem rastlosen und mit Entwürfen schwangern Geiste in den Morgenländern herumgetrieben wurde, zeigte sich seine Schwester nach und nach in allen Provinzen der Römischen Herrschaft als die erste Tanzkünstlerin ihrer Zeit, und bezauberte sowohl auf den öffentlichen Schauplätzen, als in den Privathäusern, wohin er eingeladen wurde, alle Augen und Herzen. Seitdem sie sich dieser Lebensart ergeben hatte, waren mehr als zehn[44] Jahre verflossen, in welchen sie ihren Bruder unvermerkt völlig aus dem Gesichte verloren hatte: als sie unverhofft eine Einladung von ihm erhielt, sich mit ihm zu einer Unternehmung zu verbinden, von welcher er sich und ihr große Vortheile versprach. Er hatte sich nämlich zum Haupt einer Brüderschaft aufgeworfen, welche in den nördlichen Provinzen von Kleinasien von Ort zu Ort herumziehen wollte, um die Liebhaber fanatischer Religionsübungen in den Mysterien der Isis einzuweihen, und dieses Institut zugleich mit einem Orakel und andern Chaldäischen und magischen Operationen zu verbinden, welche unter den rohen Völkern in Paphlagonien, Galatien, und im Pontus große Ausbeute hoffen ließen. Kerinthus hatte dazu einer Priesterin vonnöthen, auf deren Geist und Geschmeidigkeit er sich in allen Fällen verlassen könnte; und der öffentliche Ruf hatte ihm über diesen Punkt einen so vortheilhaften Begriff von seiner Schwester gemacht, daß er sich des glücklichsten Erfolgs seiner Unternehmung gewiß hielt, sobald sie an der Ausführung Antheil nehmen würde. Da die schöne Anagallis um diese Zeit des Theaters ziemlich überdrüssig war, so ging sie um so williger in die Vorschläge ihres Bruders ein, als sie sich von dieser neuen Lebensart tausend Gelegenheiten versprach, ihren erfinderischen Kopf auf eine angenehme Art zu beschäftigen, und weil überdieß, seitdem sie aufgehört hatte den Augen des Publicums in den Hauptstädten etwas Neues zu seyn, die Quellen zu Bestreitung ihres großen Aufwandes immer unergiebiger wurden. Sie begab sich also zu ihrem Bruder, der sie zu Smyrna erwartete; ließ sich von ihm in der Rolle,[45] welche sie in seinem geheimen Isisorden spielen sollte, unterrichten; durchwanderte hierauf mit ihm und seiner Gesellschaft einen großen Theil des kleinern Asiens, und rechtfertigte durch ihre Talente für diesen neuen Zweig der Schauspielkunst und Mimik die Meinung vollkommen, welche Kerinthus von ihr gefaßt hatte. Allein diese wandernde Lebensart war, bei allen ihren Annehmlichkeiten, auch großen Beschwerden und Gefahren ausgesetzt; nicht alle Abenteuer fielen glücklich aus, und Anagallis, oder Parisatis (wie sie sich jetzt nennen ließ) ging schon einige Zeit mit ihrem Bruder zu Rathe, wie sie ihre Fähigkeiten auf eine edlere und seines hoch strebenden Geistes würdigere Art beschäftigen könnten: als ein glücklicher Zufall sie mit der schönen und reichen Römerin Mamilia Quintilla bekannt machte, und die beiden Damen eine so große Zuneigung für einander faßten, daß sie von nun an beschlossen, sich nie wieder zu trennen. Kerinthus war eben abwesend, als sich dieses zutrug; sie benachrichtigte ihn schriftlich davon, und er ließ sich um so eher gefallen seine Schwester in so guten Händen zu lassen, da er selbst im Begriff war, neue Verbindungen einzugehen, und bereits über dem großen Entwurfe brütete, mit dessen Ausführung wir ihn beschäftigt gesehen haben; jedoch mußte sie ihm versprechen, daß sie so viel möglich einen ununterbrochnen Briefwechsel mit ihm unterhalten und immer bereit seyn wollte, ihm, bei jeder Aufforderung, zu seinem Vorhaben (woraus er ihr damals noch ein Geheimniß machte) beförderlich zu seyn.


Lucian.


Ah! nun klärt sich auf einmal alles auf, was dich bei[46] deiner ersten Zusammenkunft mit Kerinthus beinahe nöthigen mußte, ihn für ein übermenschliches Wesen, oder wenigstens für einen Wundermann vom ersten Range anzusehen.


Peregrin.


Mich hatte dieser fatale Lichtstrahl in dem Augenblicke durchblitzt, da ich aus Diokleens Munde hörte, daß sie die Schwester des Kerinthus sey; und daher diese heftige Revolution, die auf einmal mein ganzes Wesen erschütterte. Es brauchte für mich nichts mehr, als mir zwei solche Personen wie Kerinthus und Anagallis in einem solchen Verhältnisse zu denken, um alles Uebrige dunkel voraus zu sehen, und mich verrathen und betrogen zu glauben. Indessen wollte ich doch aus ihrem eignen Munde hören, wie es damit zugegangen; und sie ermangelte nicht, mir von freien Stücken alles Licht zu geben, das ich wünschen konnte.

Ich habe wohl nicht nöthig (fuhr sie mit dem halb ironischen Lächeln, das in ihrem Gesicht einen so eigenen Zauber hatte, fort), mich über meine Begebenheiten, so lange ich in Verbindung mit Quintillen war, weitläufig auszubreiten, da du selbst eine Hauptrolle dabei gespielt, und schon damals, als wir in der Villa Mamilia beisammen lebten, den Schlüssel zu der ganzen Maschinerei, durch welche man dir so beneidenswürdige Täuschungen verschaffte, von mir bekommen hast. Ich eile also zu einem Umstande, der sich bald nach deiner Entfernung von uns zutrug, und dir einen neuen Schlüssel zu dem wunderbaren Abenteuer, das dir zu Smyrna aufstieß, geben wird.

Und nun erzählte sie mir: ihr Bruder hätte ihr seit[47] ihrer zweiten Trennung so viel Nachricht von sich gegeben, daß sie daraus ersehen können, er habe endlich einen Wirkungskreis gefunden, worin er seine Fähigkeiten zu einem sehr großen und ehrenvollen Zweck anwende, und sich einen gewissermaßen unsichtbaren, aber nur desto wichtigern Einfluß verschaffe, dessen Gränzen nicht abzusehen wären. Er meldete ihr von Zeit zu Zeit, daß sein Geschäfte, trotz der vielen Schwierigkeiten die er zu bekämpfen habe, den glücklichsten Fortgang gewinne, sagte aber nie warum es eigentlich zu thun sey, und drückte sich über alles in einer so geheimnißvollen Sprache aus, daß ihre Neugier dadurch um so stärker gereizt werden mußte, da er noch immer auf ihre künftige Mitwirkung Rechnung zu machen schien. Wenige Tage nach meiner Entweichung erschien er selbst zu Halikarnaß, und lud seine Schwester zu einer geheimen Zusammenkunft ein, worin er sich über die Natur seiner neuen Verbindungen, über seine Plane, und über die Mittel, wodurch er sich, so zu sagen, zum König eines unsichtbaren Reichs zu machen hoffte, ausführlich gegen sie heraus ließ. »Seine Reisen durch den größten Theil des Reichs hätten ihm mancherlei Gelegenheiten verschafft die Christianer genauer kennen zu lernen, und sich von ihrem Institut, oder vielmehr von dem, was es unter den Händen eines fähigen und unternehmenden Mannes werden könne, ganz andere Begriffe zu machen als man gewöhnlich davon habe. Er hätte gefunden, was sich vielleicht noch keiner aus ihrem Mittel deutlich gedacht haben möchte, – daß es ganz dazu gemacht sey die größte Revolution in der Welt zu bewirken, und daß dazu, nächst der Zeit, die[48] alles zur Reife bringen muß, nichts weiter erfordert werde, als vermittelst eines geheimen Ordens wo nicht alle, wenigstens den größern Theil der Brüdergemeinen, in ein wohl organisiertes Ganzes zu verbinden, und unter die unsichtbare Leitung eines Einzigen zu bringen, der durch seinen Geist, seine Talente, seinen Muth und eine unermüdliche Thätigkeit und Beharrlichkeit, einem so viel umfassenden Amte gewachsen sey.« – Du kennest meinen Bruder, fuhr sie fort, und so brauche ich dir nicht zu sagen, wer dieser Einzige war, den er zur Ausführung seines Plans bestimmte, und ob er von dem Augenblick an, da dieser große Gedanke in seinem erfindungsreichen Geiste aufblitzte, mit etwas anderm beschäftigt war, als mit den Mitteln, wodurch er ihn in Wirklichkeit setzen könnte. Er wurde ein Christianer, und that sich durch die Behendigkeit, womit er den Geist ihres Instituts erfaßte, durch die Beredsamkeit und das Feuer seines Vortrags in ihren Versammlungen, durch den neuen Schwung, den er ihren Lieblingsideen zu geben wußte, und durch den brennenden, aber immer von Klugheit geleiteten Eifer, womit er sich für einzelne Gemeinen sowohl als für die allgemeine Sache verwendete, in kurzer Zeit so sehr hervor, daß er das Vertrauen vieler einzelner Vorsteher und dadurch immer neue Gelegenheiten erhielt, das Innere ihrer Verfassung und Umstände, und (was für ihn das Wichtigste war) die einzelnen Personen sehr genau kennen zu lernen, die entweder zu seinem geheimen Vorhaben als Werkzeuge oder als wirkliche Mitarbeiter brauchbar waren, oder, wenn er sie zu keinem von beiden aufgelegt fand, durch andere Mittel und Wege, wo nicht gewonnen,[49] wenigstens verhindert werden mußten, ihm mit Erfolg entgegenzuarbeiten.

Mitten unter diesen rastlosen Bemühungen brachte er den geheimen Orden zu Stande, mit dessen Hülfe er nun, da die Mitglieder durch eine große Anzahl der Asiatischen Gemeinen zerstreut waren, an dem Vereinigungswerke arbeiten konnte, wodurch er dem Institut der Christianer die Festigkeit und den genauen Zusammenhang geben wollte, ohne welche (wie er glaubt) seine immer weitere und schnellere Ausbreitung und endlich sein Triumph über die herrschende religiöse und politische Verfassung unmöglich seyn würde. Der Anfang zu diesem allem war gemacht. Aber noch immer suchte er Ordensglieder, denen er sich ganz vertrauen könnte, und welche mit den allzu seltnen Fähigkeiten ausgerüstet wären, die er bei den unmittelbaren Organen seines Plans zu finden wünschte: und da er mir (setzte sie hinzu) die Ehre erwies, von den meinigen eine sehr günstige Meinung zu hegen, so ließ er nichts unversucht, um mich zu bewegen, daß ich alle andern Verbindungen und Entwürfe aufgeben, und die Geistesgaben, die mir seine brüderliche Parteilichkeit zuschrieb, der Beförderung eines Werkes widmen sollte, wovon er meine Vernunft selbst überzeugte, daß es das größte, glänzendste und vortheilhafteste sey, was Personen, die sich über den gewöhnlichen Menschenschlag erhaben fühlten, jemals unternehmen könnten. Er beantwortete alle meine Fragen, löste alle meine Zweifel, entdeckte mir alle seine Hülfsquellen, und überführte mich von der wirklichen Ausführbarkeit seines Plans, bis zur Unmöglichkeit weiter etwas dagegen einzuwenden. Aber meine[50] Zeit war noch nicht gekommen. Ich hing noch zu stark an Mamilien, oder (aufrichtig zu reden) an allem, was meine Verbindung mit ihr Angenehmes und Vortheilhaftes hatte; und Kerinthus selbst schien das letzte wichtig genug zu finden, um endlich seine Ansprüche auf mich, wiewohl ungern, der Betrachtung, daß ich ihm in meinen damaligen Verhältnissen vielleicht nützlicher seyn könnte, aufzuopfern. Indem wir diese Sache noch mit vielem Eifer zwischen uns verhandelten, stellte sich mir auf einmal das Bild meines lieben Flüchtlings dar. Gib dich zufrieden, Bruder, rief ich mit einer Art von Begeisterung, ich habe einen Mann gefunden, der dich für deine fehl geschlagene Hoffnung reichlich entschädigen wird! – einen jungen Mann, der so ganz in deine Plane paßt, als ob ihn die Natur und das Glück absichtlich und ausdrücklich für dich ausgebildet hätten. Und nun, mein lieber Peregrin, erzählte ich ihm alles, was ich von deiner Geschichte aus deinem eigenen Munde wußte, und was mir selbst mit dir begegnet war; und du kannst leicht ermessen, ob ich ihn dadurch begierig machte, einen so seltenen, so liebenswürdigen und so ganz entschiedenen Schwärmer je eher je lieber in seine Partei zu ziehen. Wir überlegten mit einander, was du nach deiner Entweichung von Halikarnaß vermuthlich für einen Weg genommen haben könntest; und da ich nicht zweifelte daß du über Smyrna zurückgehen würdest, so beschloß Kerinthus sich unverzüglich dahin zu begeben, und inzwischen allenthalben, wo du wahrscheinlich auf deiner Wanderung durchkommen würdest, durch seine Freunde Erkundigungen von dir einzuziehen. Nach einiger Zeit erfuhr ich den glücklichen Erfolg des[51] Plans, den er dieser Verabredung zufolge entworfen hatte, und erhielt große Danksagungen von ihm, daß ich ihn in den Stand gesetzt, eine Eroberung zu machen, von welcher er seiner Unternehmung wichtige Vortheile versprach.

Dioklea fuhr nun fort, mir von dem, was sich bis auf diese unsre, von meiner Seite so unverhoffte Zusammenkunft mit ihr selbst zugetragen, so viel zu berichten, als sie für nöthig hielt, mich zu überzeugen, daß es auch damit ganz natürlich zugegangen sey. Die schöne Mamilia wurde des Aufenthalts in diesen Gegenden von Kleinasien überdrüssig, und Dioklea begleitete sie zuerst nach den berühmten Bädern von Daphne, unweit Antiochien, sodann nach Alexandrien, und endlich nach Italien zurück, wo die üppige Römerin eine schöne Villa, welche sie in der Gegend von Bajä besaß, zu ihrem gewöhnlichsten Aufenthalt machte, und von dem Beispiele der neuen Bekanntschaften, in welche sie hier verwickelt wurde, hingerissen, sich allen Arten von Ausschweifungen mit so wenig Mäßigung überließ, daß ihre aus einem feinern Thone gebildete Freundin es endlich nicht länger bei ihr aushalten konnte. Sie trennten sich von einander; und Dioklea, welche sich von der Rolle, die sie in der Unternehmung ihres Bruders spielen könnte, eine neue, den Fähigkeiten ihres Geistes und ihrem gegenwärtigen Alter angemess'nere Art von Thätigkeit versprach, säumte nun nicht länger sich mit ihm zu vereinigen, und, nachdem sie in kurzer Zeit alle dazu erforderlichen Kenntnisse und die Einweihung in den innersten Mysterien seines Ordens unter dem Namen Theodosia erhalten hatte, ihm an der Beförderung seiner geheimen Theokratie[52] mit eben so vielem Eifer als Erfolg arbeiten zu helfen. Diese Vereinigung mit Kerinthus erfolgte bald, nachdem ich mich wieder von ihm getrennt hatte, um meine Mission nach der Syrischen Küste anzutreten.

Wie billig, war es eine ihrer ersten Sorgen, sich nach ihrem alten Freunde Proteus bei ihm zu erkundigen, und so erfuhr sie nicht nur alles, was ich – in der Meinung für die Sache Gottes und der ganzen Menschheit zu arbeiten – für ihn und seine Sache gethan hatte, sondern auch zugleich, daß Kerinthus, weit entfernt mich seines innersten Vertrauens würdig zu halten, mich bisher nur als ein bloßes Werkzeug seiner Absichten betrachtet habe; als einen Menschen von gutem Willen, dessen Schwärmerei man benutzen müsse, ohne ihn jemals auch nur ahnden zu lassen, daß das, was er für den Zweck hielt, bloß ein Mittel zu dem wahren Zweck seines Ordens sey. Ich konnte (sagte mir Dioklea mit aller Wärme unsrer ehemaligen Freundschaft), ich konnte mich mit dem Gedanken nicht versöhnen, einen Mann wie du in den Augen meines Bruders so klein zu sehen. Wir stritten uns oft über dieses Kapitel, ohne daß ich mit allem, was ich ihm zu deinem Vortheil sagte, etwas über seine vorgefaßte Meinung gewinnen konnte, welche (wie ich mir selbst nicht verbergen kann) auf Beobachtungen und Maximen gegründet war, die einen kältern und weniger für dich eingenommenen Kopf als der meinige nothwendig zurückhaltend machen mußten. Mit Einem Worte, Kerinthus scheint sich überzeugt zu haben, daß du seiner Sache als Apostel, allenfalls auch als Märtyrer,[53] unendlichemal nützlicher seyn könnest, als du ihm seyn würdest, wenn er dich ohne Schleier in sein Geheimniß schauen ließe. Aber er mag seiner Schwester verzeihen, wenn sie eine bessere Meinung von dir hegt, und nichts dabei zu wagen hofft, indem sie, einen alten Freund zu retten, gewissermaßen zur Verrätherin an einem Bruder wird. In der That sah ich kein anderes Mittel, dich aus der gegenwärtigen Gefahr zu ziehen und vor künftigen sicher zu stellen. Nein, mein lieber Peregrin! du sollst nicht das Opfer eines schwärmerischen Eifers werden. Wenn Kerinthus Märtyrer für seine Secte braucht, so mag er sich nach solchen umsehen, an welchen mein Herz weniger Antheil nimmt. Uebrigens kennest du meine Art zu denken. Es ist angenehm, sich zuweilen einer unschädlichen und vorübergehenden Schwärmerei der Phantasie oder des Herzens zu überlassen, so wie zuweilen eine kleine Trunkenheit angenehm und unschädlich ist: aber sein ganzes Leben durchzuschwärmen, und darüber zum blinden Werkzeuge fremder Absichten und Entwürfe zu werden, ist eine eben so undankbare als verächtliche Art von Existenz. Man gewinnt immer bei der Wahrheit, auch dann, wenn sie uns der schmeichelhaftesten Täuschungen beraubt. Der schlechte Erfolg, womit ich dir diese Philosophie vor sieben Jahren in der Villa Mamilia predigte, hätte mich billig abschrecken sollen, einen neuen Versuch zu machen: aber dießmal, Peregrin, hast du so wenig dadurch zu verlieren, daß ich dir die Augen öffne, und der Vortheil, hell in diesen Dingen zu sehen, ist dagegen so entschieden, daß ich weder deinem noch meinem Verstand ein großes Compliment[54] mache, wenn ich mir schmeichle, dich, noch ehe wir uns wieder trennen müssen, gänzlich zu meiner Vorstellungsart bekehrt zu haben.

Und nun fing sie an, sich in eine ausführliche Darstellung sowohl der Beschaffenheit und Lage, worin ihr Bruder die Angelegenheiten der Christianer gefunden habe, auszubreiten, als über den Plan, nach welchem er sie unvermerkt zu befestigen, empor zu bringen, und den größten und edelsten Zweck, der jemals zum Besten der Menschheit gefaßt worden, dadurch zu bewirken gesonnen sey. Sie wandte alle ihre Beredsamkeit an, mich von der Realität und Erreichbarkeit dieses Zweckes, und von der Unsträflichkeit und Unfehlbarkeit der Mittel, die er zu wirklicher Erreichung desselben zusammenspielen lasse, zu überführen. Die erhabnen Offenbarungen der unsichtbaren Welt, zum Beispiel, die du (sagte sie lächelnd) mit einer in der That allzu kindlichen Einfalt im buchstäblichen Verstande genommen hast, scheinen mir weder mehr noch weniger als die unschuldigste Poesie: entweder bildliche Einkleidungen großer Wahrheiten, um sie, die in ihrer reinsten Form den meisten Menschen unverständlich seyn würden, anschaulich und eben dadurch geschickt zu machen auf das Gemüth dieser Menschen zu wirken; oder Versinnlichung edler Zwecke, welche, ohne dieses unschuldige Mittel, die eigennützige Trägheit sinnlicher Menschen kalt lassen würden, hingegen, sobald sie ihnen als Befriedigungen ihrer liebsten Wünsche gezeigt werden, ihre ganze Seele erhitzen und alle ihre Kräfte in Bewegung setzen. Ist nicht die Natur selbst die erste und größte Zaubrerin? Täuscht sie etwa nicht uns alle durch Phantasie[55] und Leidenschaften? und sind, dieser Täuschung ungeachtet, Phantasie und Leidenschaften, von Vernunft geleitet, nicht unentbehrliche Springfedern des menschlichen Lebens? Mit welcher Billigkeit könnte man es also einem Gesetzgeber, einem Religionsstifter, einem von den großen Heroen der Menschheit, die auf das Ganze wohlthätig zu wirken geboren sind, verargen, wenn sie sich der Mittel, welche die Natur selbst zu diesem Ende in uns gelegt hat, zu Beförderung des möglichsten und allgemeinsten Glücks der Menschen bedienen? Ich möchte nicht behaupten, daß Kerinthus ein Wort mehr von der unsichtbaren Welt wisse, als ich, du, oder irgend ein anderer Erdensohn: aber wenn es höhere Wesen gibt, die sich damit beschäftigen den Menschen Gutes zu thun, so hätte wahrlich keines von ihnen einen edlern, göttlichern Gedanken in die Seele eines Sterblichen hauchen können, als die Befreiung der Menschheit von allen Arten der Tyrannei, der Vorurtheile und der Leidenschaften, des Aberglaubens und des Despotismus, der Cäsarn und der Priester, welche der letzte Zweck der Theokratie des Kerinthus ist. Was könnte die erhabnen Benennungen des Reichs des Lichts, des Reichs Gottes, verdienen, wenn eine solche Freiheit sie nicht verdiente? Und sogar die Einflüsse der Aeonen, und alle diese heiligen Mysterien der unsichtbaren Welt, womit Kerinthus die Einbildung schwärmerischer Seelen bezaubert, sind sie etwa ohne Sinn und Bedeutung? Könnte, dürfte wohl jener große Zweck, eh' er wirklich erreicht ist, anders als durch unsichtbare Kräfte, als durch eine geheime Verbindung unsichtbarer Beweger verfolgt werden? Das Schwärmerische, Mystische und Wunderbare[56] des Glaubenssystems und der religiösen Uebungen, welche Kerinthus den mit ihm verbundenen Brüdern und Schwestern gegeben hat, ist um so unentbehrlicher, da sein wahrer Plan sowohl vor denen gegen welche, als vor denen, für welche er arbeitet, nicht geheim genug gehalten werden kann. Denn diese würden, wenn ihre Vorstellungen ganz geläutert würden, weder den Werth der ihnen zugedachten Güter zu schätzen wissen, noch begreifen können, daß der Weg, worauf sie geführt werden, der richtigste und sicherste ist; jene, welche den Glauben der Christianer für eine unschädliche Schwärmerei zu halten angefangen haben, würden die gewaltsamsten Mittel zu Ausrottung derselben anwenden, sobald sie wüßten, daß das Reich der Freiheit und Glückseligkeit, mit dessen Bau wir uns beschäftigen, nur auf den Trümmern des ihrigen errichtet werden könne.

Dioklea kannte mich so gut, daß sie alles gewonnen zu haben glaubte, wenn sie mir sowohl die verhaßte Vorstellung, daß ich selbst betrogen worden sey, benehmen, als meine natürliche Abneigung, andere zu täuschen, überwinden, und mich überreden könnte, daß diese Täuschung nicht in der Sache selbst, sondern bloß in den Formen, oder vielmehr in den Hüllen liege, worin die Wahrheit sich zeigen müsse, um desto mehr Liebhaber anzulocken, und sich den Nachstellungen ihrer Feinde leichter zu entziehen. Die Scheinbarkeit ihrer Gründe, durch die Beredsamkeit ihrer Augen und den Reiz ihrer Stimme und ihres ganzen Wesens verstärkt, überwältigte mich für den Augenblick: sie glaubte mich gewonnen zu haben, und genoß schon im voraus den Triumph, den ihr meine Bekehrung[57] (wie sie es nannte) über den Unglauben ihres Bruders verschaffen werde. Sie kündigte mir nun an, daß der Statthalter von Syrien einer ihrer wärmsten Freunde sey, ohne mir zu verbergen, was für Rechte sie sich während ihres ehemaligen Aufenthalts in den Bädern von Daphne an seine Dankbarkeit erworben habe. Alles sey bereits zu meiner Befreiung vorgearbeitet; ich würde morgen von dem Statthalter selbst vernommen werden, welchem sie die Meinung beigebracht habe, daß ich ihr naher Anverwandter, und, einen unschuldigen Hang zur Schwärmerei ausgenommen, ein Mann von vorzüglichen Gaben, und in jeder Betrachtung werth sey, daß der allzu großen Wärme meiner Einbildungskraft etwas zu gut gehalten werde. Sie unterrichtete mich hierauf umständlich, wie ich mich bei diesem Römischen Satrapen zu benehmen hätte, und, nachdem sie mir gesagt hatte, wo sie mich nach meiner Freilassung anzutreffen hoffte, schieden wir von einander als die besten Freunde von der Welt.


Lucian.


Weißt du auch, Freund Peregrin, daß ich selbst von deiner Dioklea immer mehr und mehr bezaubert bin, und es dir schwerlich verzeihen könnte, wenn du eigensinnig genug gewesen wärest, ihre gute Meinung von dir zum zweitenmale zu täuschen?


Peregrin.


So mache dich nur gefaßt darauf, mir auch diese Anomalie vergeben zu müssen, da du mir so viele andere schon übersehen hast. Denn in der That, dieser Zauber, womit sie mich seit[58] dem ersten Augenblick unsrer Bekanntschaft gebunden hielt, und dem du selbst, wie es scheint, nicht widerstehen kannst, dauerte immer nur so lange sie gegenwärtig war. Kaum sah ich mich wieder allein, so war mir ungefähr zu Muthe, wie einem seyn müßte, der die Nacht mit der lieblichsten Nymphe zugebracht zu haben geglaubt hätte, und sich beim Erwachen von den dürren Armen einer alten Thessalischen Zaubrerin umfangen sähe. Der große Plan des Kerinthus – der mich vielleicht hätte verblenden können, wofern er selbst, zu der Zeit da ich ihn noch für den ersten aller Menschen hielt, mir mit dem Feuer eines Mannes, der kein anderes Interesse als das allgemeine Beste der Menschheit hat, den Aufschluß darüber gegeben hätte – war nun, seitdem ich einen Scharlatan und eine Schauspielerin an seiner Spitze sah, nichts als ein betrügerisches Netz, worin er mich und tausend andere gutherzige Menschen gefangen hatte, um uns zu blinden Werkzeugen, und, nach Erforderniß der Umstände, zu Opfern seiner Herrschsucht und seines Eigennutzes zu machen. Es war mir unmöglich, einem Manne, der alles, was in meinen Augen das Ehrwürdigste und Heiligste war, bloß als Maschinen, Decorationen und Masken zu Ausführung eines weit gränzenden politischen Plans gebrauchte, edle Absichten dabei zuzutrauen; und nichts in der Welt hätte mich dahin bringen können, mit dem ehemaligen Vorsteher einer herumziehenden Bande von Isispriestern gemeine Sache zu machen, und wäre ich auch noch so gewiß gewesen, in nicht mehr Jahren, als Alexander zu seinen Eroberungen brauchte, den Thron unsrer heuchlerischen Theokratie mitten in der Hauptstadt der Welt[59] aufgerichtet zu sehen, und der Zweite nach Kerinthus in dieser allgemeinen Monarchie zu seyn.

Diesen Gesinnungen zufolge bedachte ich mich nicht lange, was ich von der Freiheit, die ich nun durch Diokleens Vermittlung wieder erhalten sollte, für einen Gebrauch zu machen hätte. Sobald die Täuschung, die mir eine Wolke statt der Juno in die Arme gespielt hatte, vorüber war, konnte ich mich nicht schnell genug von den Gegenständen meiner betrognen Liebe losreißen, für die ich nun eben so viel Widerwillen empfand, als sie mich ehemals angezogen und gefesselt hatten. Aber wie ich mich von Diokleen, welche ich wieder zu sehen nicht vermeiden konnte, auf eine bessere Art als durch eine heimliche Flucht losmachen könnte, dazu fand ich in dem ganzen Umfang meiner Einbildungskraft kein Mittel. Denn ich kannte die Schwäche meines Herzens und die magische Gewalt ihrer Ueberredungen, ihrer Liebkosungen, und (wenn nichts andres helfen wollte) ihrer Thränen, zu gut, um nur daran denken zu dürfen, ihr meine Entschließung und die Beweggründe derselben eher zu entdecken, bis ich aus dem Kreise heraus wäre, worin sie alles was sie wollte aus mir machte. Dieß war die einzige Schwierigkeit, die mich keine geringe Ueberwindung kostete. Denn der Gedanke an die großen Summen, die aus meiner Erbschaft in die Brüdercasse des Kerinthus und Hegesias geflossen waren, und welchen auch Dioklea, wiewohl nur im Vorbeigehen, bei mir geltend zu machen nicht vergessen hatte, hielt mich keinen Augenblick auf. Wie hätte auch ein solcher Verlust einen Menschen kränken sollen, der die Befriedigung eines einzigen seiner[60] schwärmerischen Wünsche mit allen Schätzen von Indien noch sehr wohlfeil erkauft zu haben geglaubt hätte, und, nachdem er sich nun zum zweitenmale vom höchsten Gipfel seiner schönsten Hoffnungen herabgestürzt sah, nichts mehr zu verlieren hatte, was bedauernswerth war!

Alles erfolgte nun wie Schwester Theodosia es vorhergesagt hatte. Ich wurde am nächsten Morgen vor den Statthalter geführt, fand ihn aber von einer so ungeheuern Menge von Leuten, die entweder etwas anzubringen hatten oder auf seine Befehle warteten, belagert, daß er weder Zeit noch Lust zu haben schien, mir zu der Schutzrede für die Christianer, die ich meditirte, Gelegenheit zu geben. Er begnügte sich zwei oder drei Fragen an mich zu thun, deren Beantwortung ihn vermuthlich in der Meinung, die ihn Dioklea von mir beigebracht, bestärken mochte: denn er erwiederte sie bloß mit einem ironischen Lächeln, und dem Befehl, mich, als einen Menschen, von welchem der Staat und die öffentliche Ruhe nichts zu besorgen habe, auf der Stelle in Freiheit zu setzen, unter der einzigen Bedingung, daß ich die Provinz Syrien sogleich verlassen und mich hüten sollte, noch einmal in verbotenen Versammlungen, von welcher Art sie seyn möchten, betreten zu werden. Von der Klage, welche meine Verwandten der Verschleuderung meines Erbgutes halben gegen mich erhoben hatten, wurde gar nichts erwähnt. Vermuthlich hatte die vorsichtige Dioklea, die mit ihrem Bruder auf Gewinn und Verlust in Gesellschaft getreten war, Mittel gefunden, diesen Punkt mit dem Statthalter in geheim auszumachen. Genug, meine guten Freunde zu Parium mußten[61] sich an dem Bescheid ersättigen, daß man bei der vorgenommenen Untersuchung keine Ursache gefunden habe, den Beklagten der Gewalt, die ihm die Gesetze in Rücksicht seines Alters über die Anwendung seines Vermögens gäben, zu berauben. Und so endigte sich, lieber Lucian, diese ganze Sache, ohne daß die Philosophie des Statthalters so viel zu meiner Entlassung mitgewirkt hätte, als dein Ungenannter zu Elis dich glauben machen wollte.


Lucian.


Aber wie lief es nun mit Diökleen ab?


Peregrin.


Die Lebhaftigkeit der Freude, womit sie mich empfing, hätte beinahe alle meine Entschlossenheit umgeworfen. Ich wußte mir nicht anders zu helfen, um das Bewußtseyn des Widerspruchs zwischen meiner wirklichen Gesinnung und der Person, die ich spielen mußte, zu übertäuben, als daß ich mich dem Eindrucke, den die Gegenwart dieser sonderbaren Frau immer auf mich machte, gänzlich Preis gab, und den Gedanken an das, was wir vorhatten, so viel möglich von ihr und mir zu entfernen suchte. Indessen war es doch unmöglich, daß der innerliche Zwang, den ich mir anthun mußte um ruhiger und fröhlicher zu scheinen als ich war, einem so scharfen Auge wie das ihrige hätte entgehen können. Sie zeigte mir von Zeit zu Zeit einige Unruhe darüber; und da ich, in der drückenden Nothwendigkeit, sie durch eine Lüge zufrieden zu stellen, mich wenigstens derjenigen bedienen wollte, die der Wahrheit am ähnlichsten sah – oder vielmehr wirklich zur Hälfte Wahrheit war –


[62] Lucian (lachend).


Das nenne ich einen gewissenhaften Schelm!


Peregrin.


– so gab ich ihr endlich zu verstehen, daß es sehr grausam von ihr gehandelt wäre, wenn sie dem Zwange, den sie mir in der verwichnen Nacht fürs Künftige zu einer Pflicht gemacht hätte, die mir, bei dem was ich für sie fühlte, weder leicht noch angenehm seyn könnte, nicht wenigstens so viel zu gut halten wollte, um die unfreiwilligen Seufzer, die mir von Zeit zu Zeit entführen, ungeahndet zu lassen. Sie beantwortete diese Aeußerung, welche sie, ohne eine zu geringe Meinung von mir oder eine zu große von sich selbst zu hegen, für sehr natürlich halten konnte, durch ein Betragen, das mir einige Hoffnung ließ, wenn ich mich ihres Zutrauens erst würdiger gemacht haben würde, von ihrem Herzen zu erhalten, was in der That bei einer Frau wie sie durch irgend eine andere Art von Verführung schwerlich zu erhalten war. Diese Wendung, welche unsre Unterhaltung nahm, führte unvermerkt Erinnerungen an Scenen aus der Vergangenheit herbei; dein armer Freund (wenn du ihn anders dieses Namens noch würdig findest) wurde eben so unvermerkt immer wärmer, und es kam so weit mit ihm, daß, wenn Dioklea nur die mindeste Ahndung der Gefahr, von ihm verlassen zu werden, gehabt hätte, es gänzlich in ihrer Gewalt gewesen wäre, ihn bis zum Geständniß seines treulosen Vorhabens zu treiben, und ihm einen Rückfall wenigstens auf lange Zeit unmöglich zu machen. Aber von dieser Seite lebte sie in der vollkommensten Sicherheit: und da sie alle ihre Aufmerksamkeit und Kunst[63] bloß darauf wandte, dem, was sie für die einzige Gefahr bei unserm neuen Verhältnisse hielt, mit guter Art vorzubauen; so entging ich zu meinem Glücke der einzigen, in welcher mein Entschluß unfehlbar gescheitert wäre. Denn ich hätte, in diesen zärtlichen Augenblicken, da meine Seele in dem Andenken so vieler unbeschreiblich wonnevoller Tage dahin schmolz, die mir in der zauberischen Einsamkeit der Villa Mamilia mit ihr zu einzelnen Stunden geworden waren, keine Stirne gehabt, ihr etwas zu verheimlichen oder abzuläugnen, wenn sie in meinem Inwendigen hätte lesen können. So hingegen schien sie, vielleicht aus Mißtrauen in ihr eigenes Herz, nichts Angelegner's zu haben, als mich von jenen verführerischen Erinnerungen zurückzuziehen, und wußte mir auf ihre eigene feine Art unvermerkt Fragen abzulocken, deren Beantwortung ihr Gelegenheit gab, sich in eine umständliche Erzählung des Merkwürdigsten einzulassen, was ihr in den sieben Jahren unsrer Trennung begegnet war. Eine Vertraulichkeit, die meinem wankenden Vorsatz ungemein zu Statten kam, da es nicht fehlen konnte, daß sie mich dabei manchen Blick in ihr Inneres thun ließ, der mich in der alten Entdeckung bestätigte, daß sie eine zu große Meisterin in der Mimik sey, als daß ein Mensch von meinem Schlage jemals hoffen dürfe, das, was der Natur oder der Kunst in ihr angehöre, mit einiger Sicherheit unterscheiden zu lernen.


Lucian.


Meine erste Sorge, sobald du deine Lebensgeschichte glücklich zu Ende gebracht haben wirst, soll seyn, diese Dioklea aufzusuchen,[64] wofern sie anders in den Gegenden, die uns zur Wohnung angewiesen sind, zu finden ist.


Peregrin.


Ueber diesen Zweifel kann ich dich beruhigen, Lucian. Ich habe sie schon öfters und immer in sehr guter Gesellschaft angetroffen. Es soll mir ein Vergnügen seyn dich mit ihr bekannt zu machen.


Lucian.


Eine Gefälligkeit mehr, wofür ich dir verbunden seyn werde. Aber nun zum Verfolg deiner eigenen Angelegenheiten!


Peregrin.


Da mir auferlegt war, Antiochien noch an dem nämlichen Tage und ohne alles Aufsehen zu verlassen, und Dioklea alle Anstalten dazu bereits getroffen hatte; so begreifst du ohne mein Erinnern, daß alles, was ich dir so eben von unsrer gegenseitigen Lage gesagt habe, das Merkwürdigste von den drei Tagen ausmacht, an welchen wir auf ihrer Rückreise zu ihrem Bruder, der uns zu Damaskus erwartete, zum letztenmal allein beisammen waren. Dioklea befand sich um die dritte Nacht so ermüdet, daß sie, sobald wir in unsrer Herberge anlangten, sich sogleich zur Ruhe begab, und mir dadurch Zeit verschaffte, meine beschlossene heimliche Flucht ins Werk zu setzen. Glücklicher Weise hatten wir uns den Abend zuvor über das, was ich Heuchelei nannte, ein wenig mit einander entzweit, aber auf meiner Seite stark genug, daß es mir bei Ausführung meines Vorhabens leichter ums Herz war[65] als ich selbst gehofft hatte. Wir befanden uns nicht weit von Gabala, in dem Hause einer Christianerin, einer guten alten Wittwe, die hier von den Einkünften eines kleinen Landgutes lebte, und, da sie kinderlos war, den Mann Gottes Kerinthus, oder vielmehr die unter seiner Verwaltung stehende Brüdercasse, zu ihrem eventualen Erben eingesetzt hatte. Ich ließ also meine geliebte Schwester Theodosia in guten Händen. Ueberdieß hielt ich es auch für Pflicht, ihr von einer ziemlichen Summe an Gold, welche sie mir bei unsrer Abreise von Antiochien übergeben hatte, zwei Drittheile zurückzulassen, wiewohl ich, ohne mein Gewissen zu belasten, das Ganze, als einen sehr kleinen Ersatz für das reiche Opfer, so ich der Brüdercasse dargebracht, hätte behalten können. Meine Flucht hatte nicht die geringste Schwierigkeit. Ich hinterließ einen Brief an Diokleen, worin ich ihr sagte: »Die Aufschlüsse, die ich über das Geheimniß des Ordens, in welchen mich meine unvorsichtige Gutherzigkeit verflochten habe, seit kurzem erhalten hätte, machten mir eine gänzliche Aufhebung aller Gemeinschaft mit besagtem Orden und seinen Vorstehern zum unumgänglichen Gesetz. Ich begäbe mich hiermit freiwillig und wohlbedächtlich alles Anspruchs an alle Summen, welche Hegesias und Kerinthus während unsrer Verbindung von mir erhalten oder in meinem Namen bezogen hätten; und hoffte dagegen, daß sie so billig seyn würden, mich für ein so beträchtliches Lösegeld hinwieder aller Pflichten zu entlassen, die ich beim Eintritt in ihren Orden übernommen, und deren Erfüllung mir von nun an moralisch unmöglich sey. Im Uebrigen werde ihnen ihre Kenntniß meines Herzens Bürgschaft[66] dafür leisten, daß keines von ihnen jemals etwas Nachtheiliges von mir zu besorgen haben könne.«

Ich machte, als alles im Hause im ersten Schlafe lag, meinen Abzug durch ein Fenster, das aus meinem kleinen Zimmer in den Garten ging, doch mit etwas mehr Bequemlichkeit als ehemals aus dem Fenster der schönen Kallippe; und da ich, vom Gefühl meiner Freiheit und dem schmeichelhaften Bewußtseyn der Leichtigkeit, womit ich der Tugend so viele und große Opfer brachte, begeistert, die ganze Nacht durch in Einem fort lief, befand ich mich mit Anbruch des Tages am Ufer des Meeres. Ich ließ mich unverzüglich in einem Fischernachen nach Laodicea übersetzen, wo ich, in größter Verborgenheit, ein paar Tage damit zubrachte meine Lage zu überdenken, und zu sehen was für eine Partei mir nach einer so großen Katastrophe meiner innerlichen und äußerlichen Umstände zu nehmen übrig sey.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 17, Leipzig 1839, S. 32-67.
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