Zwanzigste Vorlesung.

[200] Die Zeiten des Epos sind vorüber, an die Stelle des Epikers ist der Romandichter getreten, der mit Entäußerung der epischen Maschinerie und des Rhythmus sich im allerfreiesten Element bewegt und den in moderne Prosa, moderne Gesinnung überpflanzten Epiker darstellt. Wir lassen aber die Charakteristik des Romans nicht unmittelbar auf das Epos folgen, sondern behalten uns dieselbe für die Darstellung der Prosa vor.

Das Drama, dessen wir schon im Gegensatz des Epos erwähnt haben, ging einst unmittelbar, wie alle echte Poesie, aus dem Schoß des Volks, des nationellen Geistes, der nationellen Sitte hervor. Wie in Griechenland, so im Mittelalter entsprangen die ersten dramatischen Vorstellungen aus religiösen Faschings und gaben daher hier wie dort religiösmythologische Handlungen zum besten, anfangs rein mimisch, monologisch, in der Folge dialogisch, bis sich auch ihr Gegenstand und Inhalt veränderte und an die Stelle der Götter oder Heiligen, Könige und Helden traten. Dies ist die allgemeine äußere[201] Geschichte des Dramas; allein jede Nation hat ihre eigene. Das griechische bewahrte viel von seinem mythologischen Charakter und ließ Götter und Göttinnen noch in spätester Zeit persönlich auf der Bühne erscheinen; das spanische entwickelte sich durchaus religiös und katholisch-phantastisch; das englische schwang sich zuerst zu reinmenschlicher, politischer Höhe hinauf, während das französische ein à la français zugeschnittenes griechisches blieb und die deutsche nachahmend mit dem englischen und griechischen wetteiferte. Mit Nachahmung englischer Stücke machte man unter uns den Anfang, Gryphius und andere Dichter des 17. Jahrhunderts haben vieles nur so vorderhand übersetzt, man stößt in ihren Stücken sehr oft auf guten englischen Humor, der den Deutschen in damaliger Zeit ganz ausgegangen zu sein schien. Das erste Drama von Bedeutung, das ein Jahrhundert später aus dem Studium der englischen Bühne, zumal aber aus der Bewunderung des Shakespeare entsprang, war Goethes Götz von Berlichingen, nach welchem einzigen Schauspiel die ungeheure Flut der Ritterromane sich erhob, wie nach Schillers erstem Produkt, den Räubern, die ebenso starke Literatur der Räuberromane Deutschland überschwemmte. Goethes, des Dramendichters Würdigung, Goethes Bedeutung für seine Zeit ist es nun besonders, was ich mir in diesem Abschnitt zur Aufgabe setze, der vom deutschen Drama handelt: nicht vom Drama überhaupt, noch von Völkerdramen im allgemeinen, noch einmal vom deutschen Drama, als von einem Stück und Fachwerk der schönen[202] deutschen Literatur, sondern vom deutschen Drama, das nicht mehr ist, das mit Schiller und Goethe zu den Schatten hinabgestiegen ist, das mit Schiller, vornehmlich aber mit Goethe einer Zeit angehört, der wir nicht mehr angehören können, noch wollen. Wer klagt nicht über den Tod des Schönen auf der Erde, über den Hingang vorleuchtender großer Köpfe, über die Seltenheit, daß solche Verluste bald durch äquivalente Anlagen ersetzt werden, wer klagt nicht darüber, daß Deutschland keinen Schiller mehr hat, oder daß Goethe nicht ewige Jugend zuteil wurde? Wie willig stimme ich dieser Trauer bei, die ich nur zu gerecht finde, da unsere dramatische Bühne heutigestags verödet ist und ein Raupach, ein Immermann statt Schillers und Goethes auf dem deutschen Kothurn einherstolzieren. Allein man würde diesen Verlust nicht gehörig würdigen, wenn man glaubte, es sei wünschenswert oder überhaupt nur möglich, daß die kreisende Zeit uns einen andern Schiller und Goethe gebäre. Und hatten wir auch Dichter, so groß wie diese, wir hatten damit noch keine Schillerschenund Goetheschen Dramen. Zu jeder angeborenen Kraft, die sich naturgemäß äußern soll, gehört zweierlei, ein Raum, worauf sie wirkt, eine Feder, die sie springen läßt. Beides fehlt in Deutschland dem Dramendichter. Jener rein poetische Schwung, der die Köpfe am Ende des 18. Jahrhunderts ergriff und sie erst bei der Befreiung Deutschlands und dem Sturze Napoleons fahren ließ, war in der Geschichte der Poesie einzig in seiner Art, durchaus ohne Beispiel, wenn man nicht ungehörigerweise[203] das Augusteische Zeitalter damit vergleichen wollte, das allerdings eine pilzartig schnell aufwachsende Literatur aufzuweisen hat, die auf fremdem griechischen Boden entsprossen, mit keinem Lebensgeflecht des alten Roms zusammenhing, die aber sich doch eines nationalen Sonnenscheins erfreute, indem Rom, obgleich beherrscht, Herrscherin des Erdbodens war. Deutschland hingegen fand sich in Goethes Jugend und Mannesalter in dem aufgelöstesten Zustande, es war in seinem politischen Vermögen nach innen und außen paralysiert, ohne Anregung durch Siege oder Niederlagen, die den Blick poetisch zu erweitern imstande gewesen, in welche Kategorie gewiß der Siebenjährige Krieg nicht gehört, wie man an Gleim, Ramler, Kleist, den Dichtern desselben, zur Genüge ersieht. Es war jene Zeit für Deutschland, in der man durchaus nichts tat, nichts tun wollte, in der die Töchter der Tat oder der Begeisterung für die Tat, die Dramen geboren wurden. Zu andern Zeiten und bei andern Nationen fachte der dramatische Dichter das Feuer seines Genies an durch den frischen begeisternden Atem, der durch die Gegenwart ging, das Volk spielte sein Drama erst selber auf dem Markt, ehe der Dichter es auf die Bretter brachte; der Schwung der Gesinnung, die Größe der Ideen und Schicksale lag in der Zeit, nicht nur im Hirn und Busen des Dichters. Allein gegen das Ende des 18. Jahrhunderts schien es in Deutschland, als ob die Poesie sich abgelöst hätte von ihrem Stamm, als ob sie ein ideelles Leben für sich beginnen wolle, ohne Gemeinschaft[204] mit dem wirklichen. Ein Jahrhundert, das von Rechts wegen aller Poesie und aller Poeten bar und ledig hätte sein sollen, war poesie- und poetenreich, Dichter schossen an Dichtern empor und überragend blühten zwei mächtige Häupter mit den glänzendsten Lorbeeren. Der eine von ihnen, Schiller, hat sich sein ganzes Leben hindurch in dieser ideellen Richtung behauptet. Geht man die schimmernde Reihe seiner Trauerspiele durch, so findet man, die allerersten vielleicht ausgenommen, darin keine Spur, zu welcher Zeit dieselben entstanden oder vor welchem Publikum dieselben aufgeführt, es sind Kunstdramen, oder vielmehr es sind keine Dramen, sondern die Dramatik selbst, von bald abstrakten, bald historischen Personen aufgeführt. Kann man nun wirklich behaupten, daß der Charakter der ganzen Zeit dieselbe ideelle Richtung teilte, sich in Abstraktion und Historie vertiefte und die verflüchtigte Gegenwart und das leere fade Leben nicht darüber anschlug, so mag wohl Schiller eher, denn Goethe, als dramatischer Repräsentant seiner Zeit aufgestellt werden. Allein beobachten wir einen Umstand, eine Verschiedenheit in beiden Produktionen mit gehöriger Schärfe, so sind wir, wie es scheint, nicht aufgelegt, diese Meinung zu bestätigen. Es gibt keine Sukzession in Schillers Werken, keine andere, als die immer durchdachter und selbstbewußter werdende Kunst. Seine Dramen zeigen auf der einen Seite keinen inneren Zusammenhang, keine organische Einheit, keine durchlebte Geschichte von Ansichten und Gemütsstimmungen, auf der anderen Seite nach[205] außen hin keinen Zusammenhang mit den Gemütsstimmungen und Ansichten seiner Zeitgenossen. Dies ist der Fall bei Goethe, und diese Wahrnehmung berechtigt uns, eher Goethe denn Schiller als Repräsentanten seiner Zeit zu betrachten. Ziehen wir zuerst das berührte äußere Verhältnis in Erwägung, so finden wir, daß Goethes dramatische Meisterwerke, ebenso wie dessen Romane und Gedichte, mit der Zeit im innigsten Zusammenhang standen, insofern sie eine Idee, eine Stimmung der Zeit (die sich freilich zuletzt immer ins Abstrakte oder Philisterhafte oder Lächerliche verlor), poetisch, kräftig aussprachen und für einen gewissen Zeitraum im Publikum allgemein machten. Goethes Berlichingen, Egmont, Faust, Meister und andere Dramen und Romane verraten die Zeit ihrer Entstehung, und ihre Schöpfung diente Goethe meistens als dichterisches Bedürfnis, sein Gemüt von einseitig heftigen Inklinationen zu befreien und ihm die verlorene poetische Freiheit wiederzugeben. Denselben geschichtlichen Charakter findet man darum auch in persönlicher Beziehung darin. Goethes Werke und Dramen waren er selbst zu irgendeiner Zeit seines Lebens, als Jüngling, Mann, Greis, als Ritter, Weltmann, Verliebter usw. Jeder Deutsche, darf ich ferner behaupten, konnte sich für seine einzelne Person in diesen Werken spiegeln, seine Bildung ging denselben Gang wie die Goethische. Noch vor zehn, zwanzig Jahren, vielleicht noch gegenwärtig in der überwiegenden Mehrheit, konnte man den Gang der Goethischen Werke, in dem etwas seit der Zeit,[206] daß sie geschrieben, beschleunigten und zusammengedrängten Leben und Bildungslauf eines Deutschen studieren. Was am Ende des vorigen Jahrhunderts sich sukzessiver in Perioden von längerer Dauer aufeinander folgte, das ging nun ebenso sukzessive in Perioden von kürzerer Dauer vor sich. Jener Zeit in Deutschland, als der Werther gedichtet wurde, als nämlich eine unbestimmte, schmachtende, unendlich angeregte, unendlich unbefriedigte Sehnsucht sich der jugendlichen Gemüter bemächtigt hatte, entsprach und entspricht der Zustand eines Schülers, Primaners, der voll Sehnsucht und voll Hoffnungen steckt, ohne so recht eigentlich das Objekt dieser Sehnsucht zu kennen, und ohne zu wissen, was er wünscht. Jener an deren Zeit, als der Götz von Berlichingen die übermütige, ritterliche Kraftperiode der deutschen Literatur ausdrückte und repräsentierte, entsprach wieder jenes Stadium im Leben eines jungen Deutschen, wo er auf Universitäten sich erst zurechtfand, die Sporen klingen ließ, den Flammberg schwang, etwas altertümlich und ritterlich renommierte, und wenn es ihm wohl ward, das schönste Gefühl in sich, die angeborene Sehnsucht auf etwas Bestimmtes, auf das künftige Vaterland zu fixieren kam. Der Zeit hingegen, als Goethe jene größere Zahl von dramatischen und romantischen Gedichten schrieb, wo die Liebe zu einem Mädchen die Hauptrolle spielt, entspricht dieselbe Periode im Leben eines Deutschen, die auf die ritterliche folgt, wo der eiserne Götz in Splittern zerspringt und statt dessen ein schmachtender, sanfter Liebhaber zum Vorschein[207] kommt, der über sein Mädchen Welt und Vaterland vergißt. Was aber die größte und letzte Reihe der Produkte Goethes betrifft, diese Romane und Dramen, welche das Philistertum, das vornehme, wie das gemeinbürgerliche, nicht allein erträglich und behaglich, sondern auch poetisch finden, so entsprechen sie dem Deutschen, der Ehemann geworden, ein Amt, Ehre und Titel bekommen hat und der mit einer gewissen vornehmen Ironie auf die Schwärmereien seiner Jugend, auf Sehnsucht, Rittertum, Vaterland, Jugendleben zurückblickt, des Tages bei den Akten schwitzt, des Abends eine Partie L'hombre spielt und beim Zu-Bette-Gehen den Tag im Kalender durchstreicht, den er als ehrlicher Gatte und Staatsbürger durchlebt hat. So gleichen die Goethischen Schriften, besonders seine Dramen, ihm selbst und seiner Zeit; so würden sie jeder Zeit geglichen haben, in welche Goethe hineingeboren wäre; selbst der größten, von welcher nur die Geschichte meldet. Das aber ist das Kennzeichen des echten Dramatikers, wie jedes großen Dichters, daß er der Zeit ein Spiegel ist, worin sie sich selbst erkennen mag. Wie und warum dieses nicht vom Faust gelten könne, verdient eine besondere Betrachtung, welche ich der nächsten Vorlesung aufspare.

Quelle:
Ludolf Wienbarg: Aesthetische Feldzüge. Hamburg, Berlin 21919, S. 200-208.
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