Einundzwanzigste Vorlesung.

[208] Wir haben in der vorigen Stunde die mancherlei Phasen des Goethischen Geistes durchlaufen, die Erscheinung des Fausts aber als eine zu singuläre bezeichnet, um nicht aus der Reihe der übrigen hervorzuragen. Doch, so mannigfach und vielseitig auch das Goethesche Leben und die seinem Leben entsprechenden Dramen und Gedichte sind, so lassen sich doch zwei große Partien und Abschnitte desselben unterscheiden, die den Hauptcharakter der zu ihnen gehörigen dichterischen Produkte unverkennlich an sich tragen, Goethes Jugend und Goethes Alter, die Jugend und das Alter seiner Zeitgenossen, seiner Zeit. In seiner Jugend dichtete er jene unsterblichen Dramen, die wie ein Feuerguß aus seinem Genie, aus seinem Herzen strömten und die Nation mit der ganzen Frische der Genialität, mit dem Zauber der Sympathie ergriffen und in Begeisterung setzten, den lyrischen Werther, den ritterlichen Götz, den Egmont, den Faust. Denken Sie sich einen Augenblick lebhaft in jene Zeit zurück, als Goethes Name sich zuerst dem Klopstockschen[209] anreihte, als Goethe anfing, der Liebling der Deutschen zu werden und niemand noch die Bahn berechnen konnte, welche sein Geist in der Literatur beschreiben würde. Der große Fritz hatte ein kriegerisches Feuer in der Jugend angefacht, und während er, nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges, wieder ruhig seine preußischen Wachtparaden in Potsdam hielt, eröffnete Klopstock die Bühne des deutschen Ruhms in den Wesergebirgen und führte den Deutschen eine Zeit ins Gedächtnis zurück, wo die furchtbarste Macht der Erde an der Kraft und dem Freiheitsgefühl ihrer Vorfahren zerbrochen und gescheitert war. Klopstock besang den Untergang des Varus und seiner Legionen, den Triumph der Germanen, den blut- und staubbedeckten Herrmann mit der Affektation des Enthusiasmus eines alten heidnischen Barden, der eben sein Schwert vom Blute der Schlacht gereinigt hat und nun in die Harfe greift, um zugleich ein Sänger und ein Held den Ruhm seiner Nation zu verkünden. Daß kein Deutscher mehr von der Varusschlacht wußte, daß alle jene gefeierten Namen, Herrmann, Thusnelda kein lebendiges Erbgut der Nation waren, sondern aus lateinischen Büchern zur Kunde der Gelehrten gelangten, das tat dem neuen Barden keinen Eintrag, Herrmann war nun einmal sein Held, der Held seines Patriotismus, während Christus, als der Held seiner Religiosität, ihm friedlich und weltversöhnend aus dem Schoße der Gottheit hervortrat, und der bloß menschlichen Kraft, dem heidnischen Heldentum, dem Blutvergießen, Freiheitsdrange, der Vaterlandsliebe,[210] die nicht das himmlische Vaterland vor Augen hat, den Stab brach. Wie aber die Namen eines Herrmann und Christus dem Dichter Klopstock mit gleicher Begeisterung von den Lippen tönen konnten, begreift niemand, der nicht die ganz besondere Art der Begeisterung erwägt, welche Klopstocks und seiner Zeit Muse war. Unstreitig hatte sie viel Gemachtes und Pedantisches, aber selbst der gemachten Begeisterung liegt ein Bedürfnis des Herzens zugrunde, das nur nicht, aus eigener oder fremder Schuld, auf naturgemäßem Wege befriedigt wird. Billigerweise zwar hätte jene Zeit keine Spur von Begeisterung verraten dürfen, denn der Siebenjährige Krieg war ein Schandfleck für die Deutschen und je mehr sich ein Name, der des großen Friedrich, durch Taten und Siege unter den Deutschen erhoben hatte, desto tiefer drückte das Gewicht dieses Namens das Deutsche Reich, das ganze alte Deutschland in den Staub der Verächtlichkeit nieder. – Preußen, jenes slavische Preußen, jene unbedeutende, für so und so viel Silberlinge gekaufte Mark des Deutschen Reiches hatte sich siegreich erhoben über den Kern des alten Deutschlands, das Haus Brandenburg stellte sich in politischer Bedeutsamkeit dem Hause Habsburg, das ebensoweit außer dem Herzen Deutschlands lag und dem es schon vor alters geglückt war, die Kraft des Reiches aus seinem Zentrum, Franken, Schwaben, Sachsen, herauszudrängen und den Herd unserer Freiheit Slavenhänden anzuvertrauen, entgegen. Durch das Übergewicht Preußens war Deutschland ganz verloren,[211] denn diese zerstückten Ländchen, die von der Donau bis zur Eider im Kern von Deutschland sich hinziehen, waren schlecht geeignet, jenen konzentrierten Mächten auf der Flanke, auf dem Flügel, der nach den Wäldern und Steppen der Barbaren hinzieht, das gehörige Gleichgewicht zu halten. Und das alles hatten die Deutschen selbst verschuldet, zu diesem allen hatten sie freiwillig ihre Arme, ihre Waffen, ihre Talente, ja ihre Begeisterung hergegeben, und nur durch ihre eigene Mitwirkung hatte das slavische Element das freie deutsche allmählich in Fesseln gelegt, was sonst, nach der Natur beider Völkerschaften, ein Ding der Unmöglichkeit war. Jener Rudolph von Habsburg, jener Burggraf von Nürnberg, jener Friedrich der Große waren vom deutschen Blut, alle Siege und Vorteile, die sie über Deutschland gewannen, wurden errungen und behauptet durch deutsche Männer, die sich ihrem Dienst widmeten und denen gewiß nicht die ganze Gefahr vor Augen schwebte, die ihr Vaterland bedrohte. Dieselbe Blindheit zeigte die ganze Nation zur Zeit des Siebenjährigen Krieges, sie bewunderte Friedrichs Genie und in der Bewunderung seiner Person, seines Glücks, dachte sie nicht daran, daß sie selbst eine große moralische Person ausmache, gegen welche die Persönlichkeit eines Fürsten, eines einzelnen Mannes verbleichen und verschwinden müsse, sie trug in ihrem Eifer ihm die Trümmer des kaiserlichen Zepters und des Reichsapfels entgegen, sie ließ sich schlagen, verspotten und jubelte über die Schlacht von Roßbach, wo der größte Teil des Heeres nicht[212] aus Franzosen, sondern aus deutschen Reichstruppen bestand. Sancta simplicitas und doch – ich begreife diese Deutschen und will nicht verschwören, daß jeder von uns zu der Zeit ein Preußengänger, ein Enthusiast für Friedrichs Siege und Eroberungen gewesen, so gut, wie Vater Gleim und der Frühlingssänger Kleist. Ich weiß nicht, wer es gesagt hat, aber es ist wahr, es liegt eine Ader in der menschlichen Natur, die muß bewundern und anbeten. Ich glaube, der Deutsche hat am meisten von dieser Art, es ist ihm von jeher ein Bedürfnis des Herzens gewesen, große, entschiedene, machtvolle, Resignation, Unterwürfigkeit gebietende Persönlichkeiten lebhaft zu verehren, kindlich-fromm unter die Heiligen seines Gemüts aufzunehmen. Wer wollte diesen Zug verdammen, gehört er doch mit zu den schönen, leider nur zu sehr geschwächten und entstellten Zügen unseres Nationalcharakters, wie die Geschichte uns denselben vor Augen führt. Das Tier bewundert den Menschen nicht, aber der Mensch den Engel, den Gott. In der Bewunderung eines über uns erhabenen Wesens liegt etwas vom Stoff jener Erhabenheit, die wir bewundern, etwas Heroisches, was der Knechtssinn nicht ahnt, der nur mit hündischer Natur die Macht anwedelt, deren Überlegenheit ihm Prügel und Essen verschafft. Wir entäußern uns, nicht aus Furcht oder Interesse, sondern freiwillig unseres kleinen Ichs, um bescheidentlich ein größeres Ich in uns walten zu lassen, wir fühlen die Nähe eines göttlichen Dämons, und eben darum, weil wir imstande sind, sie zu fühlen, entsagen wir dem[213] nichtigen Kampf der Eitelkeit und verschreiben und ergeben uns ihm, um unsere Brust mit einem Gefühl anzuschwellen, das uns glücklicher, gewisser und stärker macht als das Gefühl unserer eigenen Existenz, entblößt und nackt von jener Magie des fremden Willens. Dies ist wahr und gereicht uns zur Ehre, allein wir müssen eingestehen, daß die Rezeptivität für die Größe einer Persönlichkeit in uns sich teils nicht immer nach der geistigen Größe der Person, sondern oft nur nach ihrer äußeren, angeborenen richte, teils und überhaupt abhängig sei von dem mehr oder minder entschiedenen und tätigen Zustand unserer Seele, so daß wir, wenn wir selbst am entschlossensten und tätigsten sind, uns in dem Maß am wenigsten aufgelegt fühlen, in einen bloß passiven und bewundernden Zustand überzugehen. Dieser Zustand der Entschlossenheit und Tätigkeit der Kraft des Selbstbewußtseins mangelte aber durchaus dem Deutschland, das Klopstocks Alter und Goethes Jugend sah. Deutschland war so lange verödet gewesen an Helden und Dichtern, da erschien Friedrich und Klopstock, und die Deutschen gaben sich unbedingt dem Zuge ihres Herzens hin, füllten ihre Phantasie mit den Bildern der Größe, des Krieges, mit dem Heros des Tages und der Vorzeit, mit Friedrich und Herrmann und mitten im Kriegsgetümmel, im wirklichen oder nachhallenden Donner der preußischen Kanonen, und dem nur eingebildeten Schwirren der Cherusker-Lanzen und dem Gebraus der Bardenlieder horchte eine ausgewähltere, stillere Schar[214] auf die Töne der Zionsharfe, welche »der sündigen Menschen Erlösung« sang. Dies war die Zeit, in welcher Goethe auftrat, die Zeit, in welche die erste Klasse seiner Produkte fiel, die durch einen charakteristischen Grundzug von der zweiten Hälfte abgesondert ist.

Goethe besang weder den Siebenjährigen Krieg noch stimmte er in die Barditen Klopstocks ein. Er war zu poetisch gestimmt, um beiderlei Sujets für poetisch zu halten; aber auch noch zu voll und jugendlich stürmisch, um sich, wie in späterer Zeit jedes Sujet für die Ausübung der Dichtkunst gefallen zu lassen und die Poesie nur als die Kunst, etwas Beliebigem eine poetische Form zu geben, in Betrachtung zu ziehen. Angeregt durch die Größe des Mittelalters, seine Taten und Bauwerke, dramatisierte er die Geschichte eines deutschen Helden, dessen Lebensgeschichte in den völligen Abschluß des Mittelalters fällt, und der gleichsam zu noch guter Letzt alles Rohe und Ehrliche der deutschen Ritterlichkeit in seiner Person vereinigte. Diesen und sein Zeitalter stellte er den Deutschen zur Bewunderung auf, und man weiß, wie sehr es ihm gelungen ist, die deutsche Jugend in die kurze Phantasie zu versetzen, als trüge sie noch, wie damals, eiserne Beinschienen und fühlte sich, wie Götz, berufen, die Welt aus geschlossenem Visier zu betrachten. Goethe ließ die Phantasie der Deutschen nicht rasten, er wußte ihnen beständig neuen Stoff aus dem Reich seiner Ideen und Gefühle darzubieten. Alles dies war revolutionärer Natur, stellte sich in Kontrast mit der politischen[215] und moralischen Ordnung, wenn auch unabsichtlich. Eigentlich kann man dasselbe behaupten von Friedrichs Ruhm und Klopstocks Bardenliedern, sie konnten nur durch Nichtachtung und Überdruß des damaligen Deutschlands entstehen und blühen, Friedrich und Klopstock konnten Deutschland nie entzücken, hätte es nicht tatenlose Langeweile gefühlt. Goethe trug die unzufriedene Begeisterung, in alle Gebiete des Geistigen und Sittlichen über. Faust ist ihr Kulminationspunkt, und als solchen muß man ihn auffassen, wenn man die Entstehung dieses Gedichts zu jener Zeit begreifen will, das, wie es herauskam, so wenig von der tiefen und ewigen Bedeutung desselben ahnen ließ und erst nach und nach jenen europäischen Ruf erlangt hat, in welchem es gegenwärtig steht. Dieser Faust ist der Wendepunkt des Goethischen Genies, von dieser höchsten Spitze der Begeisterung und Herzensfülle stieg es plötzlich wieder herunter, und begann die zweite Epoche seines Ruhms, die der ruhigen Plastik, der beschränkten, gegen Stoff gleichgültig sich verhaltenden Kunstdarstellung, welche das Tiefste, Aufregendste, Leidenschaftlichste sorgfältig vermeidet, sich mit der Gegenwart versöhnt und auf deren Niveau die Gestalten der Poesie aufträgt. Doch bezeichnen und verfolgen wir diese Richtung nicht weiter, denn wir haben noch Gelegenheit, auf sie zurückzukommen. Zunächst ist es uns um die geschichtliche Stelle, welche dem Faust zukommt, zu tun gewesen und da wir diese ermittelt haben, so fragt es sich, nach jener übergeschichtlichen Bedeutung, die jedermann gewohnt[216] ist, darin zu suchen. Ich habe bereits erklärt, daß ich diese nicht im Zusammenhang des Goetheschen Lebens und aus der Zeit entwickeln läßt; Faust ist ein Werk, das weit über seiner Zeit, ja selbst über dem steht, dessen Feder wir es verdanken. Faust war einmal ein Moment im Goetheschen Geiste, Goethe war einmal Faust, nämlich in den großen heiligen Jugendstunden, als der Geist dieser Dichtung über ihn kam. Aber Goethes Geist verkörperte sich auch in einen Wilhelm Meister, in einen Schenken Hafis und Gott weiß in welcherlei bunte Gestalten, die mit Fausts Tiefe nichts zu schaffen haben. Als Goethe den Faust empfunden und geschrieben hatte, schien es, als wüßte er nichts mehr von ihm, als kenne er ihn nicht mehr, als suche er ihn zu verleugnen und alles auf jugendliche Überspannung zu schieben. Goethes Fortsetzung des Faust paßt auf seinen früheren Faust, wie die Faust aufs Auge, und muß einen, wenn man diesen zweiten Teil durchblättert, jene unendliche Wehmut ergreisen, die das ganz veränderte und entstellte Bild einer Geliebten erregt, wenn man sie nach jahrelangem Zwischenraum wiedersieht. Faust ist der Hiob und das hohe Lied der Deutschen, er ist, wie ich diese Worte Heines schon einmal angeführt, das deutsche Volk selbst, das geplagt und durchgemartert vom Wissen, Glauben und Entsagung an die Rechte des Fleisches appelliert, aus einem Schatten der Geschichte ein lebendiges Wesen, aus einem Träumer ein wachender, genießender Mensch werden will. Faust, der seine Studierstube und seine Studien historischer Pergamente[217] verläßt, um sich der Welt zu nähern und der Welt Lust und Schmerzen in seine Brust zu häufen, er ist der Deutsche, der den Staub des Mittelalters von seinen Füßen schüttelt, um sich im Tau der neuen Zeit zu baden. Faust ist das nach Befreiung ringende Deutschland, ja, das befreite, das sich des Sieges seiner Freiheit im voraus bewußte Deutschland, Faust ist der erste Verkünder dieses Sieges und zugleich die Bürgschaft dafür.

Quelle:
Ludolf Wienbarg: Aesthetische Feldzüge. Hamburg, Berlin 21919, S. 208-218.
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