II

[15] Erst Ende 1874 kam ich als Dichter mit Charlotte Wolter zusammen; es sollte durch ihr geniales Spiel einer meiner größten Erfolge werden, und zugleich ihr berühmtester: als Messalina in meinem Trauerspiel »Arria und Messalina«. Wenn ich an die Wolter denke und sie mit andern hervorragenden Tragödinnen vergleiche, die ich noch (jung oder alt) gesehn, so fühle ich, was man nicht sehr häufig fühlt: daß ich vor einer mächtigen Tat der Natur stehe, die einmal alles zusammenraffte, was zur Vollendung gehört. Sie gab dieser Frau einen Kopf von der sonderbaren, großgestimmten Schönheit, die, sobald sie nur will, poetische Gefühle weckt; eine unendlich biegsame Wohlgestalt, von einem tiefwurzelnden Schönheitssinn bewegt; eine Stimme von dunklem, geheimnisvollem Wohllaut, in dem jede seelische Regung wie verklärt vibrierte; und in diesem ganzen Menschen ein schlummerndes oder leise glimmendes Feuer, immer bereit, als hohe Flamme der Leidenschaft hervorzubrechen. Das alles vereint gab ihr die Übermacht über alle andern, denen eine oder mehrere dieser Feengaben fehlten; es gab ihr die Möglichkeit, aus der wilden kaiserlichen Hetäre Messalina ein Wunderweib zu machen, vor dem die Moral den Atem anhält, vier, fünf Akte lang, um dieses märchenschöne Meteor bis zum letzten vernichtenden Augenblick vorüberglänzen zu sehn.

Charlotte Wolter schwelgte indessen nicht im Genuß ihrer Mitgift; sie hatte im Burgtheater arbeiten gelernt; sie war eine der fleißigsten, gewissenhaftesten Künstlerinnen,[15] und in einer Art von Kanonenfieber vor der Schlacht. Sechs Wochen vor der Aufführung von »Arria und Messalina« kam sie zu mir und verlangte, daß ich ihr die Rolle vorlesen möchte; an einem der nächsten Abende, bei ihr, las ich fast das ganze Stück, sie hatte auch die Straßmann (Arria) und Hallenstein (Pätus) dazu eingeladen, Krastel (Markus) konnte nicht. Auf den Proben wuchs sie dann von Tag zu Tag; nur ihre Nervenkraft – da sie den Schlaf verlor – schien sich zu verzehren. Am Morgen der ersten Aufführung, nach einer abgekürzten, nur »markierenden« Nachprobe, brachten Auguste Baudius, jetzt meine Frau, und ich sie zu Fuß nach Hause; sie war so angegriffen, daß, wer ihre Lebensfülle nicht kannte, hätte denken müssen: bis zu welchem Akt kommt die heute abend noch? Sie hatte aber auch schon zwei Tage vorher, auf der Generalprobe im Kostüm, ihr Allerbestes und Allerletztes gegeben; im fünften Akt, im beginnenden Wahnsinnsrausch, kam sie in Höhen hinauf, daß ich vor Wonne zitterte. Gegen das Ende des zweiten Aufzugs wirst sich Messalina, in der Schwärmerei der Liebe, vor Markus auf die Knie hin; er soll »seine kaiserliche Sklavin« schlagen, wenn er will, weil sie die braune Meroe gezwungen hat, Gift zu trinken;


Doch liebe mich,

Sag mir's, o sag mir's! Und im Angesicht

Der Götter und der Menschen – toll bin ich,

Bin toll und will es sein – im Angesicht

Der Götter und der Menschen, schöner Markus,

Will ich, dein Schatten, dein Geschöpf, dein Weib,

Als meinen Herrn und Kaiser dich begrüßen!
[16]

Während dieser wilden, herzberückenden Rede rutschte die Wolter dem etwas zurückweichenden Markus auf den Knien nach; so wie sie es tat, in bacchantischer, griechischer Schönheit jeder Bewegung, war's ein berauschendes Bild. Aber dem Zensor des Burgtheaters, dem Sektionschef Baron Hoffmann (der, wie immer, der Generalprobe beiwohnte), war es doch zu viel; er kam nach dem Aktschluß auf die Bühne: »Das müssen Sie lassen, liebe Frau Wolter; eine Kaiserin – so über die Bühne rutschen – das geht hier doch nicht!« Messalina verneigte sich. Sie fügte sich; natürlich. Ich stand hinter ihr. Als Baron Hoffmann sich langsam entfernte, drehte sie sich zu mir herum und sagte leise: »Am Abend mach' ich es doch

Sie hat's auch getan. Niemand hat ein Wort gesagt, auch der Zensor nicht. Es war zu schön, drum war's recht.

Ein Übel war freilich bei so viel Gutem: das Genie der Wolter, wohl in keiner andern Rolle so regenbogenfarben und übermächtig, riß das Dichtwerk gleichsam zu sich hinüber; denn eine ebenbürtige Arria hatten wir nicht. Ich hab's ihr denn auch vorgeworfen: »Liebe Lotte« (oder »Messalotte«, wie ich sie nach diesem Abend gerne nannte, und sie selber sich auch), »Sie haben dem Stück bös mitgespielt: es steht nun so schief wie der Turm von Pisa!« – Ost hat sie dann mit dem Gedanken gespielt, auch als Arria einmal aufzutreten, wenigstens im dritten Akt, in dem es keine Messalina gibt und der Sohn der Arria stirbt. Es wäre wohl ein wunderbar erschütterndes Gegenbild geworden. Sie trug sich viele Jahre damit; an irgend einem Abend zu[17] Gunsten der Wiener »Konkordia«, dachte sie. Doch es blieb ein Traum.

Mittlerweile hatte ich auch ein Trauerspiel » Nero« begonnen, und ein Jahr nach »Arria und Messalina« ging es über die Bretter des Burgtheaters. Ich hatte Adolf Sonnenthal für diese Rolle verlangt, er erhielt sie auch; er ergriff sie mit Feuer, mit der Sehnsucht, auch in der Tragödie, in einer Gestalt voll heißen Bluts und fesselloser Leidenschaft den Lorbeer zu erringen, den er im Lustspiel und Schauspiel schon so oft gepflückt hatte. Aber in einem Haus wie die Burg war es selbstverständlich, daß es einen ganzen Haufen von Neros gab; denn ein Held, in dem sich Liebhaber, Künstler, Despot, Scheusal, Genie, Wahnsinn mischen, lockte fast jeden an. Daß aber Sonnenthal, der erfolgverwöhnte, nun auch in diese Rollengegend einbrechen sollte, leuchtete wohl manchem nicht ein; und der offenherzigste der jüngeren Charakterspieler – Friedrich Mitterwurzer; wir waren später gute Freunde – gab mir deutlich zu verstehn, ich sei ein ganz dummer Kerl. Dem Adolf Sonnenthal ward auf den Proben schwül zu Mut; alle Schauspieler hatten mitzuwirken, er sah sich »umringt von Neros«, wie er mir einmal unter vier Augen sagte, er sah die Zweifel an seiner Neroschaft auf vielen Gesichtern, oder glaubte sie doch zu sehn; »nur an dir richt' ich mich zuweilen auf, wenn du mir vom Dichterstuhl zunickst oder wenn dir die Augen leuchten«. Als ich nach der ersten Aufführung mit ihm im Theaterwagen ins Wirtshaus fuhr, gestand er mir, daß er noch an diesem letzten Morgen, von innerer Unsicherheit verzehrt, nahe daran gewesen sei, die[18] Rolle zurückzugeben; der Widerspruch und Zuspruch des alten Laroche – damals Patriarch des Burgtheaters – hatte ihm wieder Mut gemacht. So abhängig ist der Mensch, zumal der nervöse und durch Arbeit überreizte Schauspieler, von der Meinung seiner Kameraden; so konnte es selbst einem Sonnenthal ergehn, der doch sonst das warme, natürliche Gefühl seiner Kräfte hatte.

Ich behielt aber recht, und er mit mir: die Aufführung ward ein großer Erfolg. Durch das ganze Labyrinth von Erlebnissen, Entwicklungen, Leidenschaften, Seelenerkrankung und Verderbnis, das Nero-Sonnenthal zu durchwandern hat, führte ihn ein Ariadnefaden, sein mit Gemüt und Phantasie getränkter Kunstverstand. Er kam in Regionen hinein, die er noch nie betreten hatte, und er kam nicht nur unversehrt, sondern als ein Größerer wieder heraus. Im vierten Aufzug, als er, um den Muttermord zu vergessen, und von Poppäa-Wolter halb im Scherz gestachelt, Rom in Brand steckt, dann dazu seine Verse von Trojas Untergang singt, erstieg er seinen Gipfel, dünkt mich. Schauerlichgewaltig half am Schluß die Wolter mit. Sie tritt in ihrem weißen Gewand in eine geheime Tür, um den Halbwahnsinnigen, Halbberauschten wieder zur Vernunft zu bringen, wenn es noch möglich ist; er, der schon im Wahn seiner Mutter Geist gesehn, schleudert gegen Poppäa den Dreifuß, mit dem er den Geist verscheuchen wollte. Sie stürzt herein, zu Tod getroffen. Noch auf einen Schemel tretend, in der letzten Angst, sich aufbäumend, wie es nur die Wolter konnte, mit Schmerzens- und Sterbelauten, wie sie nur ihre Kehle hatte, bricht sie dann zusammen.[19]

Hatte Sonnenthal in dieser Rolle seine Herrschaft ruhmvoll, und seiner großen Zukunft vorarbeitend, erweitert, so kehrte er später in meinem Schauspiel »Die Tochter des Herrn Fabricius« in sein eigenstes Gebiet zurück, wo ihm keiner gleichkommt, und schuf die rührendste seiner rührenden Gestalten. Von der sag' ich hier weiter nichts; man kann sie noch heute sehn.

Im Sommer darauf (1880) war ich sein Gast am Grundlsee, wo sich eine Kolonie von Burgschauspielern gebildet hatte, die dem schönen Bergsee einige Jahre gleichsam den Burgstempel aufdrückte, dann aber nach und nach verging. Ludwig Gabillon hatte sich zuallererst dort angesiedelt, weit hinten, als »Seekönig«; denn er, der Kraftmensch, der eigentliche Recke des Burgtheaters, wohl der glaubwürdigste »Hagen« in den »Nibelungen«, den die deutsche Bühne gesehn hat, war auch ein großer Ferge, das feuchte Element gehorchte ihm. Das Haus, in dem die Familie Gabillon wohnte, stand nicht weit vom Ufer in einem Gras- und Baumidyll; Meister Ludwig hatte sich aber eine Hütte unmittelbar am See gebaut, wo er arbeitete, schlief, hantierte, briet und mit Freunden zechte. Die Sage erzählt, daß zur Zeit einer großen Überschwemmung Gabillon einmal eines Morgens im Bett erwachte und mit den noch schlaftrunkenen Augen seine Stiefel schwimmen sah; warum schwimmen die? dachte er. Das tun ja sonst doch Stiefel nicht? Dann entdeckte er, daß sein Bett im Wasser stand; der angeschwollene See war hereingedrungen und hatte sich die Hütte angeeignet. Auf einmal öffnet sich die Tür, ich glaube mit »Brachialgewalt«, wie der Wiener sagt; ein Boot[20] fährt herein, mit einigen Burgschauspielern bemannt, die sehn wollen, ob der Seekönig noch lebt oder schon ersoffen ist.

Das war in der Zeit, wo sich die Burgkolonie gebildet hatte; Hartmanns, Hallensteins, Sonnenthals gehörten dazu, andere kamen als Gäste, auf Zeit. Sie sammelten sich bald hier, bald dort, in lustigster Geselligkeit; sie bevölkerten den See oder auch die Berge. Als ich auf einige Tage zu Sonnenthal gekommen war, ward ein großes Nachtfest gefeiert: in der Gabillonschen Bucht richteten sie mit unendlicher Mühe eine riesige »Plätte«, ein offenes Lastschiff, zu einem bewohnbaren und betanzbaren Fahrzeug her, wie Odysseus bei der Kalypso sein Segelfloß für die Heimfahrt zimmerte. Gabillon, sein späterer Schwiegersohn Fournier und Hartmann arbeiteten rastlos, bewunderungswürdig; andere sahen zu oder faulenzten am Gestade, darunter Helene Hartmann und ihre Kinder, Sonnenthal und ich. Endlich gegen Acht, als es dunkel wurde, fuhren wir auf der Plätte zum »Schram mel«, dem Seeewirtshaus; dort stießen die andern zu uns, mit Tischen, Bänken, Speisen und Getränken; auch allerlei Familien, die sich angefreundet hatten, auch die ehemaligen Minister Chlumecky und Depretis. Man steuerte auf den See hinaus, ein Picknicknachtmahl an vielen Tischen begann, mit Musik. Hernach ward Quadrille getanzt, das von den drei Odysseus gezimmerte Deck hielt's aus; wir sangen edle und lustige Lieder; der sich herrlich spiegelnde Mond gab seinen Segen dazu.

Damals erzählte man mir, wie geschickt einmal Ernst Hartmann den Grundlsee zu seinem Verbündeten[21] gemacht habe, um sich eine Rolle zu erobern, nach der ihn gelüstete. Sonnenthal spielte noch die meisten der Rollen, die der jüngere Hartmann naturgemäß von ihm zu erben hatte, wie Sonnenthal sie von Fichtner geerbt hatte; Erben aber werden manchmal ungeduldig, wie jener kleine Bub, der zur Tante sagte: »Ich wart' gerne schnell!« Eines Morgens rudert Hartmann auf dem See in einem handfesten Boot, da entdeckt er Sonnenthal, der auch auf dem Wasser liegt, aber in einem sogenannten Seelentränker, der seinen Insassen wehrlos macht und mit einem kleinen Stoß umzuwerfen ist. Sofort fährt Hartmann quer auf ihn zu, mit einem Ernst und einer Schneidigkeit, die nicht mißzuverstehen ist. »Lieber Adolf, willst du mir den Clavigo abtreten?« fragt er. Adolf, der gern Fische aß, aber nicht gern von ihnen gegessen wurde, nickt, gibt sein Wort, und die Sache ist abgemacht.

So ward es auf dem geduldigen See erzählt; indessen was den Clavigo betrifft – diese Rolle war's wohl nicht. Denn in denselben Tagen, auf demselben See, sprach mir Hartmann in neidloser Begeisterung sein Burgtheater-Triumphgefühl aus, wie man bei dem Münchener Gesamtgastspiel (im Juli 1880) den unbequem großen Sonnenthal in der so viel weniger dankbaren Rolle des Clavigo zwischen den beiden dankbaren: Carlos und Beaumarchais, zusammenzudrücken gemeint habe; er aber, mit seiner hinreißenden Herzenskraft, habe die andern rechts und links an die Wand gedrückt. Und noch nach Jahren, als ich Burgtheaterdirektor war, bat Hartmann mich zu wiederholten Malen, ihm den Clavigo wieder abzunehmen, den er[22] mittlerweile angetreten hatte: »Ich fühl' mich noch nicht reif dafür; gib ihn wieder dem Sonnenthal!«

Ich erzähle diese kleinen Züge nur, um zu zeigen, wie gute Kameradschaft im Burgtheater zu Hause war; ich hoffe, sie ist's auch heute noch.

In dieses Haus trat ich nun 1881, nach Dingelstedts Tod und einem Provisorium, als Direktor ein; am 1. Dezember, nachdem ich schon im November viel vorgearbeitet und mitregiert hatte. Es war ein schwerer Kampf in mir, eh ich mich entschloß; denn die Freiheit war mir wie Lebenslust, und mein Sprüchlein hieß: Zigeuner leb' ich, Zigeuner sterb' ich! Als Baron Hoffmann, der mittlerweile Generalintendant der Hoftheater geworden war, mir in unserem ersten Gespräch eröffnete, die Meinung sei, mir sogleich lebenslängliche Anstellung zu geben, so war mir zu Mut, als hätte der Gerichtspräsident mir, dem Angeklagten, »lebenslängliches Zuchthaus« verkündigt. Ich machte mir aus, daß ich jederzeit, auch ohne Invalidität, meinen Abschied nehmen könnte; mit bewußtem Verzicht auf jede Pension: denn die übliche, allgemeine beginnt erst nach dem zehnten Dienstjahr, und länger als fünf, sechs Jahre halt' ich's nicht aus! dessen war ich gewiß. Ich hätte auch nie Beamter und Direktor werden können, wenn man mir nicht eben das Burgtheater angetragen hätte, das noch in hoher, reicher Blüte stand und an dem mein Herz hing.

Daß ich mit vielen seiner Mitglieder befreundet, mit nicht wenigen verbrüdert war, das beirrte mich nicht; es hat auch zu keiner Stunde die Disziplin oder die Eintracht gestört. Meinem Sinn gemäß hab' ich[23] aber als Direktor nach drei Geboten gelebt, die mir wie kategorische Imperative waren:

Hab Geduld und Liebe! Greif zur Strenge nur, wenn's die Liebe nicht machen kann. Denn die Schauspieler sind, je nachdem der Führer ist, ein schwer und leicht zu führendes Volk; und du führst die Besten.

Mißbrauche nie deine Macht! Der Direktor, der nur die Stücke spielt, die er will, und der Herr aller Rollen ist, hat eine ungeheure Macht; wenn ausreichender Erfolg ihn stützt und er schlecht und klug ist, kann er auch den Freudigsten zur Verzweiflung bringen und den Stärksten brechen.

Behalt immer kaltes Blut! In der elektrischen Bühnenluft, unter diesem naturgemäß leichterregten, nervösen Volk muß einer sein, der nie außer Fassung kommt, der sich nie verliert.

Ich glaube, ich war meinen Geboten treu. Nur ein einziges Mal habe ich mit einem der Künstler einen Zusammenstoß gehabt; das war auf einer Probe, mit Emerich Robert. Wir kannten uns schon lange, fast freundschaftlich, von Berlin und von Laubes Stadttheater her; drei Jahre vor mir war Robert an die Burg gekommen. Durch eine schwere, jahrelange Krankheit oder sonst durch irgend ein übles Geschick in Kraft und Wohllaut des Organs verkürzt, hatte er nach und nach sich gleichsam ein System gemacht, das zu gefährlich äußerlicher Rhetorik führte, zu einem Pyramidenbau, sozusagen: wohlberechnete Einteilung der Rede, sachtes, stimmschonendes Beginnen, allmähliches, kunstvolles Wachsen und Schwellen, bis auf dem Gipfel die große Entladung kam, die, weil man sie als mächtige [24] Steigerung empfand, auch bei geringerem Kraftverbrauch noch gewaltig wirkte. Als ich nun Direktor geworden war, kam es zu vertraulichen, grundsätzlichen Erörterungen zwischen ihm und mir; ich zeigte ihm meine Abneigung gegen diese wie gegen jede Rhetorik, und wie sehr ich seine Rückwendung zur Unmittelbarkeit, zur Natürlichkeit und Schlichtheit wünschte. Emerich Robert, ein geborener »Gentleman«, für meine Art durchaus zugänglich, unterdrückte jede Empfindlichkeit, betrat den ihm zugewiesenen Weg, ersuchte mich immer aufs neue, seine Fortschritte zu prüfen, meine Mißgefühle auszusprechen. Er verbesserte seine alten Rollen, gab den neuen neue Töne. Zum Teil um ihm diese Umbildung zu erleichtern, wies ich ihm nun auch Rollen im Lustspiel zu, in dem er sonst fremd war: Bellac in »Die Welt, in der man sich langweilt«, Krasinski im »Probepfeil«. Er spielte sie mit einem ganz persönlichen, wirksamen Humor und mit großem Glück. Aber es entwickelte sich nun doch nach und nach, wie mir schien, ein Mißtrauen in ihm, wie es dem gewissermaßen absolut beherrschten Schauspieler so natürlich ist: er fürchtete offenbar, aus seinem eigentlichen Feld, dem großen Drama, mehr und mehr entfernt zu werden. So entstand wohl die Stimmung, in der er sich auf jener (etwas langen) Probe überraschenderweise sträubte, am Abend zu spielen; eine der »Ermüdungen«, die im Theater so bekannt und zu Hause sind. Meine Erwiderungen machten ihn nur hartnäckiger, schroffer. Er reizte mich, bis ich heftig ward und in gleicher Schroffheit meinen Willen durchsetzte. Es war der erste und letzte Fall.[25]

Wenn er nun aber denken mochte – nach kleinen Anzeichen schien es so – daß ich ihm das »nachtragen« werde, in mein Amt hinein, so sollte er bald genug erleben, daß das durch meine drei Gebote ausgeschlossen war. Mich verlangte schon lange danach, Shakespeares »Coriolanus« in meiner Übersetzung und Einrichtung zu spielen, und ich hatte den Eindruck gewonnen, daß Robert redivivus dafür reif geworden sei. Desgleichen stand mir Sophokles' »König Ödipus« in meiner Bühnenbearbeitung vor der Seele; auch das hoffte ich nun bald mit Robert zu wagen. Ich schickte ihm die eine, dann die andere Rolle. Er war überrascht, gerührt, verblüfft. Von der Stunde an war er mir das anhänglichste, dankbarste Mitglied, das ich haben konnte; und so blieb er auch, als ich wieder in der »Freiheit« war, bis zu seinem traurig frühen Tod.

Manches Gute dieser Art hab' ich als Direktor erlebt; dahin rechn' ich auch das friedlich herzliche Einverständnis, in dem ich mit Zerline Gabillon lebte, gleichfalls bis zum Ende ungetrübt. Es war eine Überlieferung im Burgtheater, daß mit dieser klugen, seinen, aber nach feststehender Meinung herrschsüchtigen und scharfzüngigen Frau kein Direktor auskommen könne. Sie hatte mit Laube und mit Dingelstedt viel gekämpft; sie hatte aber auch viel erlitten, das sie reizen mußte. Mit einer so mannigfach verbitterten und dabei gefährlich begabten Frau im besten Frieden zu leben, dazu war allerdings guter Wille nötig; nun, den hatte ich. Sie sah bald, daß ich mich bemühte, ihr vom Geist beherrschtes Talent zum Nutzen des Theaters und zu ihrer eigenen Freude zu verwerten. Ich fand Rollen für sie,[26] in denen sie die Feuerwerke ihres Salondamenesprits treffsicher abbrennen oder sonst ihr Gutes und Bestes geben konnte; ich suchte auf ihre oft zu geschliffene und unterstreichende Spielweise lindernd einzuwirken; sie kam mir mit wachsendem, verjüngendem Verständnis entgegen, und so trug sie noch frischgrüne Johannistrieberfolge davon.

Mein erstes großes Unternehmen rief aber Charlotte Wolter ins Feld: die Einstudierung von Sophokles' Tragödie »Elektra«, so wie ich sie für die Bühne übersetzt und eingerichtet hatte. Während des Provisoriums, eh ich kam, hatten die Burgschauspieler im Opernhaus die »Antigone« in Donners Versen und mit Mendelssohns Musik gespielt; die Wolter als Antigone, nicht gut beraten und durch die schwerflüssigen, hölzernen Trimeter in die Irre geführt, hatte sich einer langsamen, getragenen, halbmusikalischen Sprechweise ergeben, der Haltung und Gebärde entsprach. So war das Werk im November noch einmal über die Bretter gegangen, in Baron Hoffmanns Loge hatte ich's gesehn. »Messalotte,« sagte ich ihr, als wir zuerst von »Elektra« sprachen, »so wie Sie die Antigone gespielt haben, hab' ich's nun ganz und gar nicht im Sinn. Weg mit aller Musik! Heraus mit der alten Lotte! Wir wollen ein modernes Trauerspiel aufführen, das zufällig der alte Sophokles gemacht hat; und es soll so lebendig und natürlich wie nur möglich sein!« Die Wolter zeigte nicht die mindeste Kränkung; sie bat mich nur: studieren wir's! Zwei Vormittage nacheinander saßen wir beide in meiner Kanzlei, in die Elektra vertieft. Und wie sehr vertieft, das zeigte sie, als die Proben kamen:[27] die ganze Antigone war fort, Elektra lebte, in all ihrer flammenden Größe und rührenden Herrlichkeit. Wie schön sie auch in der Erscheinung lebte, brauch' ich nicht zu sagen. Welcher Mensch hätte die Frauengestalten des Sophokles so edel griechisch hinzustellen vermocht, wie dieses Kölner Bürgerskind!

Die Wirkung, der Erfolg war groß; wenn er sich auch früher als in modernen Dichtungen erschöpfte. Hätte man damals schon die heutige Unbefangenheit und Wärme für das antike Drama gehabt, so wär' es wohl ein ähnlicher Sieg geworden, wie später mit dem »Ödipus«.

Auch Euripides' Satyrspiel »Der Cyklop«, das der »Elektra« als Nachspiel folgte, befremdete noch, so sehr es gefiel. Ludwig Gabillon war ein mächtig überzeugender, gemütlich-humoristisch-greulicher Cyklop; Hartmann als Odysseus, Schöne als Silen, Thimig als erster Satyr gaben ein entzückendes Zusammenspiel. Mit einer Art von Heimweh denk' ich dran zurück.

Bald sollte dann eine andere Auferstehung folgen, und mit unwiderstehlichem, weit hinaus wirkendem Erfolg: Calderons größtes oder doch menschlichstes Werk, »Der Richter von Zalamea«, das den ehemaligen »Naturburschen« Bernhard Baumeister auf die Höhe seines Könnens, seines Ruhmes führte. Schon unter Dingelstedt hatte er neue Wege beschritten, als Falstaff und als Götz von Berlichingen den ganzen Reichtum seines genialen Humors und die vollsaftig deutsche Eichenhaftigkeit seiner Manneskraft vor uns ausgebreitet; frisch aus seiner Natur heraus, wie ich[28] es zu seinem Jubiläum im Mai 1877 auszusprechen versucht hatte:


Dir lachte der Mut, dir glühte das Mark;

Wie der heilige Christopher riesenstark

Trugst du das Leben, das schwere Kind,

Durch Sand und Flut, durch Sturm und Wind;

Trugst du die Kunst, das stolze Weib,

Hochschultrig wie zum Zeitvertreib.

Die »Künste«, die man erfeilschen kann,

Du sahst sie mit breitem Rücken an;

Du gabst die Kraft, der Glieder Erz,

Den Witz, die Lust, das volle Herz;

Du grübeltest nicht breit und lang,

Du schlugst an die Brust, bis der Funke sprang.

So wardst du, ohne Falsch und List,

Der Vollmensch, der du warst und bist!


Nun sah er sich aber, zum erstenmal, vor eine der farben- und entwicklungsreichsten Aufgaben gestellt: ein Bauer, der wie im Lustspiel beginnt, der gegen einen Knorren knorrig wächst, dann von einem furchtbaren Schicksal ergriffen, von tiefsinnigem Verhängnis mit dem rächenden Richterstab begnadigt wird, die ganze Vornehmheit seiner Seele und endlich ihre tragisch verzweifelte Heldenkraft entfaltet. Zuletzt kehrt er, mit der feinsten Wendung, zu seiner schlauen Bauernweisheit zurück.... Diese große Gestalt, eine der erstaunlichsten, die es gibt, war vor Baumeister, der dergleichen noch nie gespielt, nicht gleich in ihrem ganzen Reichtum aufgegangen; in der Leseprobe erschien sie noch etwas schattenhaft, ihre tragische Gewalt noch mit zu weichen[29] Händen gefaßt. Ich sprach mit ihm als Direktor und Freund: »Ich leb' länger in dem Werk als du, ich hab's übersetzt, hab's für die Bühne zurechtgelegt. Laß mich dir einmal vorsprechen, wie ich's fühl' und meine!« In der Kanzlei, wo die Wolter auf Elektra gehorcht hatte, las ich ihm den »Richter« vor. Er ergriff ihn nun mit seiner ganzen Kraft. Er wuchs voll hinein. Auf den Proben belebte er ihn mit seinem Blut, wie Odysseus die Schatten in der Unterwelt mit dem Opferblut. Als er am Abend der ersten Aufführung, im letzten Akt, dem Hauptmann Don Alvaro, dem Schänder seines Kindes, sich und alles Seine vor die Füße geworfen, auf Gericht und Rache verzichtend ihn mit allen blutigen Herzenstönen vergebens angefleht hat, ihm »die Ehre wiederzugeben«, und nun seine machtvolle Gestalt aufrichtet: »So schwör' ich – Bei Gott im Himmel Euch, Ihr sollt mir's büßen« – da brach ein solcher Sturm des Beifalls hervor, daß Baumeister wohl minutenlang nicht weiterreden konnte.

Sein und des Dichters Triumph war gewaltig. Ludwig Gabillon, als der gichtbrüchige, fluchende, heldenhafte, warmherzige General Don Lope, kam ihm fast an Ehren gleich; er schuf eine seiner prächtigsten, echtesten Gestalten, lebendig bis in die Knochen hinein, völlig herzgewinnend. Zu gute kam ihm auch hier, daß er der geborene Recke war; ihm den Haudegen nicht zu glauben, das war wohl unmöglich. Wenn Gabillon in Hebbels »Nibelungen«, als Hagen, beim Markgrafen Rüdiger zu Gast, den großen Schild prüfend auf die Erde stieß – auf der Probe, mein' ich – so dröhnten alle sieben Versenkungen, und die Mitprobierenden hoben[30] ihre Füße, als hätte er ihnen das beste Hühnerauge zerschmettert. Im zweiten Aufzug des »Richters von Zalamea«, da die vom Hauptmann angestifteten Soldaten Nachts vor Pedro Crespos Haus Unfug treiben, kommen Crespo (Baumeister) und Don Lope (Gabillon) zu gleicher Zeit bewaffnet auf die Straße, um auf die Übeltäter einzuhauen; Crespo vorn aus seinem Garten, Don Lope hinten vom Hause her. Gabillon mit einem nackten Schwert in der Hand war so gefürchtet, daß auf den Proben einer der Statistensoldaten nach dem andern zum Komparserieinspektor kam: ob er nicht vorn statt hinten seinen Dienst tun könne. Jeder kam mit irgend einem Vorwand; bis Ferrari, der Inspektor, merkte, daß sie alle die Gabillonsche Klinge zu meiden wünschten.

Nach diesem ersten tragischen Sieg erfocht Baumeister noch andere, auch auf klassischem Boden: als Christian Ulrich in Otto Ludwigs »Erbförster« und als Miller in »Kabale und Liebe«. Adolf Sonnenthal war ihm vorangegangen, als Othello, Wilhelm Tell, dann als Wallenstein; er wanderte mit immer größeren Schritten seines Weges fort. Ernst Hartmann entfaltete sich dagegen mehr und mehr als Nachfolger des früheren Sonnenthal, in alten wie in neuen Rollen; ganz besonders glücklich in Calderons »Dame Kobold«, Paillerons »Welt, in der man sich langweilt«, Augiers »Herrn Poiriers Schwiegersohn«, Shakespeares »Viel Lärm um nichts«.

Auch in meinem Lustspiel »Die Maler« trat er mit schöner, reiner Wirkung, mit liebenswürdig warmen Gemütstönen an Sonnenthals Platz; in demselben Stück, das mir die ganze Begabung von Stella Hohenfels[31] wie im Licht eines Blitzes zeigen sollte. Stella Hohenfels war schon acht Jahre im Burgtheater, als ich die Direktion übernahm; wunderbar und unwahrscheinlich traurig war es ihr ergangen: von Zeit zu Zeit leuchtete ihr der Stern eines aufglänzenden, vielverheißenden Erfolgs, so als Ariel im »Sturm«, als Prinzessin Katharina in »Heinrich V.«, als Georg im »Götz«; aber immer umwölkte sich ihr Himmel wieder, und sie erfror in einem Martyrium, wie es selbst auf der Bühne selten ist. In Knabenrollen, die sie mit ebensoviel Anmut wie Wahrheit und Seele spielte, hatte sie sich gleichsam ihr eigenes Gebiet geschaffen, das ihr niemand streitig machte; aber wer füllt mit solchen Aufgaben ein Künstlerinnenleben aus? – Als ich nun ihr Direktor ward, so reizte mich's von Anbeginn, ein so greifbar schönes Talent zur vollen Blüte zu bringen; wie groß aber, wie erstaunlich bildsam es war, sollten mir doch erst die »Maler« zeigen, in denen ich ihr die früher von meiner Frau gespielte Rolle der Else gegeben hatte. Sie wünschte mir die Rolle einmal vorzusprechen; ich lud sie ein und sie kam zu mir. Nachdem wir den ersten Aufzug gelesen hatten, sagte ich ihr: »Liebes Fräulein, das ist's noch nicht. Die ›kluge‹ Else entpuppt sich ja erst, und erst im dritten Akt, wo Leonore sie den, ausgekrochenen Schmetterling' nennt. Sie sprachen sie ungefähr so, wie Sie sie im dritten Akt zu sprechen hätten.«

»Bitte,« antwortete sie, »lesen Sie mir's vor!«

Ich las ihre Rolle im ersten Aufzug; dann auch in den folgenden. Sie dankte mir und ging. Ungefähr eine Woche später fragte sie, ob sie noch einmal zu mir[32] kommen dürfe. Sie kam. Nun las sie die Else. Ich erstaunte – und fort und fort. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Was ich ihr ein einzigmal vorgesprochen hatte, das kehrte nun alles zu mir zurück: gleichsam Wort für Wort, Ton für Ton, aber alles persönlich, lebendig, ihr Eigentum geworden. Ich hab' das sonst nie erlebt. Von dieser Stunde an – einer Festfreudestunde – war ich aus vollem Herzen entschlossen, aus Stella Hohenfels zu machen, was ich machen könnte.

Solange ich Direktor war, hab' ich denn auch die Freude und das Glück empfunden, für das Burgtheater aus ihr zu gewinnen, was gewinnbar war, und ihr das Glück des Schaffens, des Weiterschreitens zu geben, ohne das der Schauspieler doch nur der Ärmste der Armen ist. Sie hat gute Jahre gehabt. Sie war aber auch jeden Tag »zu haben«, sie versagte nie. Ihr guter Wille war so groß wie ihre Begabung und ihre Jugendkraft.

Sie schritt von Erfolg zu Erfolg. Nicht ein neues Mitglied des Burgtheaters, aber eine neue allererste Kraft war in ihr gewonnen.

Quelle:
Wilbrandt, Adolf: Erinnerungen. Stuttgart, Berlin 21905, S. 15-33.
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