Der Emigré

[139] Als der Großvater noch vor seiner Bedienstung in Kirchheim als Beamter in Urach wohnte, war daselbst bei Nacht und Nebel[139] ein ehrbar aussehender Franzose angekommen, begleitet von einer Demoiselle, deren eigentliche Stellung zweifelhaft war. Mit Hilfe der Demoiselle, die deutsch verstand, gab sich der Fremde als einen Monsieur Meuret zu erkennen, den die Stürme der Revolution von Haus und Amt vertrieben hatten. Er war zwar kein Vicomte oder Marquis, aber doch das Anhängsel eines solchen, bei dem er als Beamter oder Verwalter angestellt gewesen war. Monsieur Meuret, der keine andern Schätze gerettet hatte als die Demoiselle, deren wirklicher Wert schwer anzugeben gewesen wäre, ließ sich in besagtem Städtchen als französischer Sprachlehrer nieder, weil ihm zum Weiterkommen Rat und Mittel fehlten. Nun war aber Urach eine kleine Stadt, wo außer Erbsen und Linsen wenig gelesen wurde; daher fanden sich wenige Schüler, so daß der arme Emigré kaum das notdürftigste Auskommen fand. – Als nun der Großvater in Kirchheim eingerichtet war, glaubte er, daß hier, in einer kleinen Residenz, ein französischer Maitre Bedürfnis sei; darum verschrieb er Herrn Meuret, dessen traurige Lage ihm bekannt war, und bot ihm sein Haus als Heimat an, bis er sich eine eigene Wohnung verschaffen könnte.

Nur ein Bedenken war dabei. Im Hause der Großeltern wurde streng auf Zucht und Sitte gehalten. Der Großvater hatte, als ihm während der französischen Einquartierung die bonne amie eines Generals ins Quartier zugewiesen wurde, diese mit großer Energie ausgetrieben, und obgleich ihm kein Französisch zu Gebot stand als der Ausruf: »Marsch, Madame!« so hatte sie's doch wohl verstanden. Nun war zu fürchten, Monsieur Meuret möchte nicht ohne seine Demoiselle kommen; das wollte der Großmutter gar nicht munden, und doch mochte man deshalb nicht die Gelegenheit versäumen, dem Heimatlosen eine Heimat zu bieten. Endlich entschloß man sich, Herrn Meuret ohne Bedingungen und Klauseln einzuladen. Siehe da, es kam alsbald eine Art von Kutschenwagen mit äußerst wenig Gepäck; darauf thronte Monsieur Meuret, und allerdings auch die Demoiselle, die er aber alsbald als Madame Meuret vorstellte. In Anbetracht ihrer erlebten Drangsale[140] und ihrer hilflosen Lage drückte man ein Auge über die Vergangenheit zu, und Monsieur und Madame wurden zunächst im Kloster untergebracht.

Monsieur Meuret eröffnete sogleich einen Lehrkursus, der von der aufblühenden Jugend, sowohl aus dem hohen Adel als dem verehrten Publikum, recht zahlreich besucht wurde; Madame gründete eine französische Strickschule, und so fanden sie sich bald, wenigstens im Vergleich mit ihrem letzten Aufenthalt, in recht erträglichen Umständen. Die Sprachkenntnisse, die man sich bei Madame erwarb, beschränkten sich freilich auf ein paar Phrasen: Madame, s'il vous plaît, examinez mon ouvrage! Madame, s'il vous plaît, laissez-moi sortir! und dergleichen; aber doch war's immerhin französisch und darum ein ganz andres Ding als eine deutsche Strickschule.

Monsieur Meuret bewegte sich in äußerst gemessenen, zierlichen Formen und schien das dreifache Maß seines äußerlich verlorenen Ranges innerlich in sich aufgenommen zu haben. Madame befliß sich minderer Feinheit, und das eheliche Verhältnis des edlen Paares, das sich spät und nach so langer Bekanntschaft verbunden, schien eben nicht das zärtlichste zu sein. Madame Meuret, eine geborene Elsässerin, hatte als deutsches Stammgut nichts behalten als deutsche Schimpfwörter, die sie in unglaublicher Anzahl vorrätig hatte und an ihren Eheliebsten sowie an ihre Zöglinge verschwendete, über welch letztere sie hie und da noch ein fühlbareres Regiment mit der Elle führte. Alle Tiernamen standen ihr zu Gebot, und sie stellte sie auf eine Weise zusammen, daß Linné und Buffon in Verlegenheit gewesen wären, die Geschöpfe zu klassifizieren, zum Beispiel: »Du Stockfischgans, du Kalbsluckel, du bist mit Spülwasser getauft!« usw. usw. Die Tugend der Unparteilichkeit mußte man ihr lassen, da sie die Töchterlein ihres Protektors höchstens mit noch stärkeren Ehrentiteln und häufigeren Ellmeßberührungen heimsuchte als die andern.

Das liebste Gesprächsthema des Ehepaars war natürlich ihre verlorene Herrlichkeit, die, wie es zu gehen pflegt, in der Erinnerung beträchtlich erhöht und verklärt wurde. Besonders[141] gründlich war Monsieur Meuret in der Schilderung seiner reichen Garderobe, die den kleinen Mädchen, denen er sie beschrieb, ganz fabelhaft erschien. Er hoffte auch immer wieder in den Besitz wenigstens dieses Teils seiner Habe zu kommen, den er, bereits in Kisten gepackt, auf der Flucht irgendwo in Verwahrung gegeben habe. Da aber nichts kam, ward die Geschichte von Herrn Meurets Kleidern allmählich zum Mythus.

Welcher Triumph war es nun für den verkannten Edeln, als eines Morgens durchs Städtchen die Kunde erscholl, Monsieur Meurets Kleider seinen angekommen! Die Schülerinnen, wohl auch die Mütter, eilten herbei, den Schatz in Augenschein zu nehmen. Ja, da war die ganze Herrlichkeit! Der unwiderlegliche Beweis, daß Monsieur Meuret daheim ein Mann comme il faut gewesen. Da lag ein geblümtes Sammetkleid, ein roter, ein apfelgrüner Frack; ein Staatsdegen, ein galonierter dreieckiger Staatshut, kurze Inexpressibles mit silbernen Knieschnallen, seidene Strümpfe, Schnallenschuhe, und über das alles noch ein Ludwigskreuz! Für welches Verdienst Monsieur Meuret dieses bekommen, da er, soviel bekannt, nichts getan hatte, als daß er davongegangen war, das wurde nie sicher erhärtet, wie es so oft bei Orden der Fall ist. Genug, der Orden war da, und Monsieur Meuret trug ihn von Stund an, zusamt dem geblümten Sammetkleid, Degen und Staatshut, obgleich alle diese Kleiderpracht zehn Jahre im Dunkel gelegen und gänzlich außer Kurs gekommen war. Hat jemals das Kleid den Mann gemacht, so war das hier der Fall; Meuret machte, gerade wegen der Seltenheit seines Kostüms, eine höchst respektable Figur, und er war in den Augen des ganzen Städtchens um viele Prozent gestiegen; ja, Madame selbst bekam ein Gefühl ihrer Würde, ihre Ausdrücke wurden feiner, und ihr Putz, der früher keineswegs französische Eleganz verraten hatte, wurde gewählter.

Außer der Garderobe mußte Herr Meuret nicht viel Besitztümer zurückgelassen haben, denn auch nach der Restauration bezeigte er kein Verlangen nach der Heimkehr; es scheint, der Vicomte habe sich nicht restauriert. Dagegen aber ging dem[142] würdigen Mann noch am Lebensabend ein andrer Glückstern auf: er wurde durch Vermittlung eines adeligen Gönners als Professor der französischen Sprache an die Landesuniversität berufen, eine Stelle, auf die er ungefähr so viel Ansprüche hatte als auf den Orden. – Gleichviel, er war's einmal und trug die Bürde dieser neuen Würde mit allerhöchstem Anstand. Madame schaffte sich augenblicklich ein neues schwarzes Seidenkleid an und nannte ihn von Stund an »mon cher«. Monsieur und Madame Meuret reisten ab und überließen es ihren teuern Schülerinnen, Französisch, Bildung und Fransenstricken zu lernen, wo sie wollten. – Ob und wie weit er seine neue Stelle ausgefüllt, ob das geblümte Sammetkleid bis an sein Lebensende ausgehalten, ob Madame das mon cher nicht wieder verlernt hat, darüber ist mir nicht viel zu Ohren gekommen. Aber der Großvater dachte sein Leben lang mit Vergnügen daran, wie er durch die Berufung des Emigré nach Kirchheim den Grund zu dessen Glück gelegt.

Quelle:
Ottilie Wildermuth: Ausgewählte Werke. Band 1, Stuttgart, Berlin und Leipzig 1924, S. 139-143.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Bilder und Geschichten aus Schwaben
Bilder Und Geschichten Aus Schwaben (Sammlung Zenodotbibliothek Der Frauen) (Paperback)(German) - Common
Bilder Und Geschichten Aus Schwaben (Hardback)(German) - Common
Bilder Und Geschichten Aus Schwaben (1 )
Ottilie Wildermuth: Bilder und Geschichten aus Schwaben mit den schwäbischen Pfarrhäusern
Bilder und Geschichten aus Schwaben mit den 'Schwäbischen Pfarrhäusern'