1. Das Kloster

[134] Das Kloster in Kirchheim hat aus seinen alten Tagen fast nur das Bequeme, Trauliche behalten: die weiten Räume, die bauschigen Gitterfenster, in die man sich ganz hineinlegen und wie aus einem luftigen Käfig in die sonnenbeschienene Welt hinausschauen konnte. Beinahe alles Grausige, Gespensterhafte war längst durch das geschäftige Treiben jüngerer Geschlechter weggeräumt. Nur in einer ungebrauchten Bodenkammer hing noch das geschwärzte Bild einer Nonne, dessen Original natürlich die Volkssage eingemauert worden sein ließ, und unten, wo es hinter der Treppe so dunkel ist, befindet sich eine eiserne Tür zu einem unterirdischen Gange, der, ich weiß nicht wie weit, sich erstrecken soll. Mit schauerlicher Lust wagten die Kinder des Hauses sich hie und da etwa zehn Schritte in dem Dunkel vorwärts; aber manche Tagesstunde, ja halbe Nächte lang unterhielten sie sich mit Plänen, wie der Klosterschatz, der sicher hier verscharrt sein mußte, zu heben, und vor allem, wie er zu verwenden sei. Goldene Luftschlösser erhoben sich, wenn sie in nächtlicher Stille flüsternd im Bett darüber plauderten. – Bis heute hat ihn aber noch keiner gehoben. Vor Zeiten waren wirklich Nachgrabungen angestellt worden, man war aber nur bis auf die Spur verschütteter Stufen gekommen. – Der Sohn des Hauses hatte in jüngeren Tagen mit seinen Kameraden die Grabung erneuert; das einzige Ergebnis aber waren beschmutzte Wämser und zerrissene Hosen, weshalb das Geschäft von seiten der Eltern niedergelegt wurde. – Von Gespenstern hat man nie viel vernommen. Die obbemeldete eingemauerte Nonne, ein unentbehrliches Zubehör eines alten Klosters, soll freilich zur Weihnachtszeit manchmal[134] mit gerungenen Händen sich haben blicken lassen; gesehen hat sie aber niemand und gefürchtet nur, soweit es zu einem behaglichen Grausen gehörte.

Am Eingang des Klosterhofs steht noch das kleine Torhäuschen, vom Torwart bewohnt, der da keine Amtsverrichtung, nur die Vergünstigung der freien Wohnung hatte. Es war ein eisgrauer, steinalter Invalide, der ganze sommerlange Tage im Sonnenschein vor seinem Häuschen sitzen konnte. Gesprächig war er gewöhnlich nicht; wenn aber einmal die Schleuse aufging, so wußte er viel zu erzählen von den Kriegstaten seiner jungen Jahre – er hatte noch unter Friedrich dem Großen gedient; für den gestrigen Tag hatte er kein Gedächtnis mehr. Der Großvater verehrte ihm allmonatlich ein Paket Tabak, das ihm die Kinder überbringen durften. Herzlich leid tat es ihnen, als der alte Stelzfuß begraben war und nur noch sein uralter, kindisch gewordener Pudel sich vor dem Häuschen sonnte.

Das Kloster war seit lange zu einer Beamtenwohnung eingerichtet, und der Großvater und die Großmutter haben darin gewohnt. Ich will den Leser nicht lange plagen mit genealogischen Erläuterungen über meine verschiedenen Großeltern väterlicher- und mütterlicherseits. Ist er doch selbst wohl so glücklich, solche zu haben oder gehabt zu haben, und wenn bei dem Namen Großvater und Großmutter eine recht freundliche, trauliche Erinnerung in ihm aufwacht, eine Erinnerung aus der ersten frischen Kindheit an einen Lehnstuhl und eine liebe, ehrwürdige Gestalt darin, an fröhliche Ferien, an Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke, so ist das vollkommen genug.

Der Großvater war, was man einen Mann von altem Schrot und Korn nennt, ungeschliffen im guten Sinne des Worts. Mit den Redensarten hat er es nie genau genommen, aber er war wohlmeinend in der Tat und Wahrheit. Des Großvaters erste Gattin war eine Frau, wie es nicht viele gibt, klein, geschäftig, beweglich, mit hellen Augen und offenem Herzen für alles, was schön und gut ist in der Welt und über die Welt[135] hinaus. Sie konnte ihren eigenen Sinn haben, ihr Hauswesen war ihr unbeschränktes Königreich, in dessen Regierung sie keine Eingriffe duldete, und so klein sie war, sie verstand sich in Respekt zu setzen; aber blieb sie unangefochten, so war sie auch eine gnädige Herrin. Sie war nun freilich nicht in allen Stücken mit dem Zeitgeist fortgeschritten. Von der Dienstbotenemanzipation wollte sie nicht viel wissen: »Laßt die Leute an ihrem Platz; haltet sie so, wie sie es sich in ihrem Heimwesen dereinst auch machen können; verwöhnt sie nicht unnötig!« Auch ihr literarischer Geschmack war nicht auf der Höhe der Zeit, und das Lied »Guter Mond, du gehst so stille« usw. hat ihr zeitlebens besser gefallen als das damals eben neu auftauchende Lied Goethes »Das Wasser rauscht, das Wasser schwoll«, dessen mystische Schönheit ihr niemals einleuchten wollte. Aber trotz alledem war sie das belebende Element ihres Hauses und zum Segen geschaffen für jede Zeit, in der sie gelebt und gewirkt hätte.

Der Großvater war ein rastlos betriebsamer Geist, der sich immer mit einer neuen Erfindung trug; und das weitläufige Klostergebäude war eben recht für die zahlreichen Versuche, die er anstellte, ohne jemals Chemie, Physik oder Technologie studiert zu haben. Bald erfand er neue Weinschöne, bald entdeckte er Torflager; dann machte er Baupläne, konstruierte Maschinen oder ließ Stahl fabrizieren; sogar mit der Alchimie hat er's versucht und Molche nebst Messingstücken in Schachteln gesperrt, weil er gehört hatte, daß sie dieses Metall verzehren und darauf als Gold von sich geben. Letzterer Versuch scheint keine glänzenden Ergebnisse geliefert zu haben; er wollte später nicht mehr daran erinnert sein. Auch als Schriftsteller versuchte er sich und schrieb zu seinem Privatvergnügen zahllose politische Aufsätze. Sein Stil war zu wenig gehobelt, als daß sie zur Veröffentlichung getaugt hätten, und so vermoderten sie in seinem Schreibtische. Obgleich er unter dem gar alten Regime und unter der Napoleonischen Herrschaft ein mächtiger Oppositionsmann gewesen, hatte er doch von den Freiheitsideen, wie sie sich von den dreißiger Jahren an regten, so wenig eine[136] Ahnung, daß der gute Großvater in unsern Tagen (1849) für ein Monstrum von Gesinnungsuntüchtigkeit, für den Kaiser aller Heuler erklärt worden wäre.

Weil er sich auf allen Gebieten versucht hatte, war ihm auch nichts neu auf der Welt. Nil admirari, das war, wenn auch unausgesprochen, sein steter Wahlspruch. »Hab's schon lang' gewußt – gerade so war's in den siebenziger Jahrgängen – wird ebenso sein wie selbiges Mal«, das waren seine Bemerkungen über alles, gleich dem alten Rabbiner in Gutzkows »Acosta«. – Sein Herz aber saß auf dem rechten Fleck bei all seinen rauhen Außenseiten. Bei Kranken war er hilfreich wie eine barmherzige Schwester, bei Kindern zärtlich und nachsichtig wie eine Mutter. Obgleich er auch in Ansehung des Geldes etwas konservativer Natur war, so war doch für die Enkel seine Hand stets offen; eigenhändig spickte er um Weihnachten und Ostern die roten Äpfel mit neuen Sechsern; die Gratulationsgedichte zum Geburtstag und Neujahr wurden anständiger honoriert als die manches Hofpoeten, und seine schlichte Gestalt mit dem schwarzen Käppchen auf dem kahlen Scheitel bleibt für uns der Mittelpunkt einer freudenreichen und sonnigen Kinderzeit.

Der Charakter seiner Bewohner brachte es mit sich, daß das Kloster, wie in der baulichen Einrichtung so auch in der Bestimmung, von den alten Tagen nur das beste und freundlichste Teil übrigbehalten hatte: das, eine Herberge der Verlassenen, eine Zuflucht der Heimatlosen zu sein. Nicht daß es just eine Anstalt für verwahrloste Kinder geworden wäre, oder ein Blindenasyl, oder ein Gutleuthaus; nein, es trug einen heiteren Charakter. Es gibt Verlassene, für die niemand sammelt und Feste hält und Häuser baut, und solche nahm das Kloster auf.

Da kam das eine Mal die arme Frau Base Klenker samt ihrem Hündchen und ihrer Schnupftabaksdose und siedelte sich beim Herrn Vetter an, um ein paar Monate Licht und Feuerung zu ersparen; dann kam in tiefer Nacht eine ehemalige Nachbarin, eine unglückliche Kaufmannsfrau, die ihrem rauhen Mann entlaufen war, samt Kind und Habe. Ein andermal[137] war's die Jungfer Hannebine (ihr Verwandtschaftsgrad konnte niemals ausgemittelt werden), die gerade kein Unterkommen als Hausjungfer hatte und die nun mittlerweile ihre Kochkünste im Kloster vorführte. Jetzt mußte Raum geschafft werden für die arme Pfarrwitwe, deren Habe verbrannt war, bis sie wieder ein Obdach hatte; dann zog ein armer Forstwart ab, bei dessen elf Kindern die Großmutter Patin war; zur Erleichterung der Eltern mußten sechs bis sieben Patchen beherbergt werden, und so ging's fort. Dabei werde nicht gedacht der unzähligen kürzeren Besuche von bestimmungslosen Vettern, ehemaligen Schreibern, ausgedienten Mägden und dergleichen.

Auch ergötzliche Gäste suchten das Kloster heim. So der Onkel von Pfullingen, der die Rolle des gutmütigen Polterers übernommen hatte, wie ein Heide fluchte, daneben aber ein herzguter Mann war und alle Taschen voll Geschenke für die Kinder mitbrachte. Wenn man ihn und den Großvater zusammen sprechen hörte, so meinte man, die zwei Brüder haben grimmige Händel, und doch waren sie die besten Freunde von der Welt. Den Kindern fast noch willkommener war's, wenn der dünne Herr Pater von N. in der schwarzen Kutte auf seinem zahmen Rößlein einhergeritten kam, gefolgt von der dicken freundlichen Marieliese, seiner Köchin, um sich seine Renten vom Großvater ausbezahlen zu lassen. Der Herr Pater hatte stets rührende Klosterbilder für die Kleinen, worauf eine heilige Theresia mit Augen wie Pflugräder zum Himmel starrte, oder ein heiliger Sebastian, mit klafterlangen Pfeilen gespickt. Der Herr Pater hatte keinerlei Verrichtungen in dem ganz protestantischen Dorfe; er lebte dort als der letzte Pensionär in einem alten Stifte und ließ sich's unter der Pflege seiner Marieliese recht wohl sein, war auch höchst tolerant und allenthalben gern gesehen. Alljährlich hielt er ein großes Fest, wenn der Karpfensee abgelassen wurde. Das war der Marieliese Ehrentag; sie lief ganz strahlend und glitzernd umher wie der fetteste geschmorte Karpfen. – Der Herr Pater pflegte sie vielfach mit einem Geschichtchen aus der Anfangszeit ihrer Küchenlaufbahn zu necken. Sie hatte in der Küche eines Prälaten ihre ersten[138] Studien gemacht und sollte bei einer großen Festlichkeit ein Spanferkel bereiten. Die Oberköchin sagte ihr: »Marieliese, wenn du das Spanferkel aufträgst, so tu auch Lorbeerblätter hinter die Ohren und eine Zitrone ins Maul.« Welche Heiterkeit verbreitete sich im Saal, als die gute Marieliese mit dem Spanferkel eintrat, Lorbeerbüschel hinter ihren Ohren und eine Zitrone im weitaufgesperrten Mund! –

Einige der jeweiligen Insassen des Klosters verdienen näher ins Auge gefaßt zu werden. Der erste derselben ist:

Quelle:
Ottilie Wildermuth: Ausgewählte Werke. Band 1, Stuttgart, Berlin und Leipzig 1924, S. 134-139.
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