Pilgerfahrt

[178] Durch dunkle Grabzypressen haucht

Geheimnisvolles Raunen;

Aus weißen Fliederdolden taucht

Der Mond mit scheuem Staunen.

Und sieh, vom frischen Grabe

Hebt sich der Marmelstein,

Die Höhlung klafft/ ein bleicher Mann

Ersteht im Silberschein.


An seine wirre Stirne greift

Der Tote schlummertrunken;

Und wie sein Blick die Tafel streift,

Da stutzt er, bohrt versunken

Das Aug in seine Grabschrift

Und starrt/ bis an sein Ohr

Ein Hahnenschrei vom Dorfe gellt;

Da fährt er jäh empor.


Zum Dörflein heimwärts will er gehn/

Wie ehedem/ und zaudert

Und bleibt am Friedhofzaune stehn,

Von fremder Scheu durchschaudert:

»O Pilger, laß, was drüben liegt,

Wo sattsam du gegangen!

Auf neuen Pfaden weide

Geläutertes Verlangen!«
[179]

Bei Büschen, Hügeln, Dorf und Au

Verweilt sein Aug mit Grüßen,

Ade! und schwimmt in Tränentau.

Und wie er nun dem süßen

Trostliede lauscht der Nachtigall,

Da sucht er eine Gruft

Und küßt von weißer Rose

Erinnerungsvollen Duft.


»Zur Rüste, Pilger! Was so schwer

Dir lastet auf dem Herzen,

Tu ab von dir! und schürfe leer

Dein Herz von Schutt und Erzen!

Was du gelebet/ Schutt und Erz/

Sei nun gerecht gerichtet

Und hier auf deiner Tafel,

Zwei Hüglein, aufgeschichtet!«


Er wiegt das Haupt in stummem Weh/

Das gilt dem Schlackenhügel.

Doch aus dem andern, rein wie Schnee,

Formt er zwei Schwanenflügel;

Die fügt er an die Schultern

Und spannt sie breit und hehr,

Ein kühner Weltensucher/

Hinaus zum Sternenmeer.

Quelle:
Bruno Wille: Der heilige Hain. Jena 1908, S. 178-180.
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