Wandervögel

[175] Wandergänse eilen/

Schnatterhaft Gewimmel

Huscht in Schattenkeilen

Über Mondscheinhimmel.

Weicher Seelenlaut

Bebt aus hartem Schnarren.

Süßer Trost, zu lauschen

Und emporzustarren!


Treue Sonnensehnsucht,

Die um Mitternacht

Bei des Mondes Dämmern

Rastlos suchend wacht!

Was ich stumm verschlossen

Hielt in meiner Klause,

Raunen Gramgenossen

In das Herbstgebrause.


Weil ihr Heimatland

Nebeltrübe worden,

Flüchten sie mit greller

Klage aus dem Norden.

Doch in lichten Träumen

Glaubt ihr fromm Gemüt

An ein Südenland,

Wo die Sonne blüht.
[176]

Von der Sehnsucht Schrei

Wie bezaubert, schwanken

Raschelnd vor dem Fenster

Wilden Weines Ranken.

Auch das arme Laub

Träumt von einem andern,

Milden Land und möchte

Mit den Vögeln wandern.


Durch die Adern schauert

Zehrende Fieberglut;

Und in Schwärmerwahn

Lodert es wie Blut.

Fliegen will's und/ taumelt

Todesmatt hinab ...

Ach, sein Südenland

Ist ein Modergrab.


Warum bangst du, Herz?

Hast du nun erkannt,

Daß mit Laub und Vogel

Schmachtend du verwandt?

Kommen wird ein Herbsttag,

Wo du glühst wie Laub

Und mit deiner Sehnsucht

Taumelst in den Staub.
[177]

Doch vor lauter Treue

Stirbt die Sehnsucht nicht;

Aus gesunknem Laube

Flattert sie zum Licht,

Flattert jauchzend/ wie ein

Vogel, der zum Land

Seiner Sonnenträume

Nun die Richtung fand.

Quelle:
Bruno Wille: Der heilige Hain. Jena 1908, S. 175-178.
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