Fünftes Kapitel.
Das Gericht.

[96] Weder Magnus noch Herta schliefen in dieser Nacht. Jenen folterte gekränkte Eitelkeit und Durst nach Rache, diese entwarf menschenfreundliche Pläne zum Besten des armen leidenden Volkes und ließ ihre Gedanken in die Zukunft hinüberschweifen, wo ihren aufgeregten Sinnen und ihrer entzückten Phantasie das strahlende Bild einer Welt erschien, in der alle Menschen gleichermaßen in Glück und Freiheit schwelgten.

Die Drohungen ihres entarteten Vetters schreckten das muthige Mädchen nicht, denn sie lebte des festen Glaubens, daß Lug und Trug an dem silbernen Schilde der Wahrheit zerschellen müßten. Das angedrohte Rencontre vergaß[97] sie sogar vollständig, weil sie es durchaus nicht für möglich hielt, daß ein ehrenwerther Mann im Ernst einem Weibe solche Zumuthungen machen könne. Auch kannte Herta den abenteuerlichen Charakter ihres Vetters hinlänglich, um in seinem Vorschlage eben nichts als einen neuen romanesken Auswuchs seiner mittelalterlichen Ritterlichkeit zu erblicken. Hätte sie wirklich an Ausführung der Drohung glauben können, dann würde die gegen ihre schöne Brust gerichtete Mündung eines Pistols wahrscheinlich alle schelmischen Träumereien aus ihrer Seele verscheucht haben.

Am andern Morgen gab Herta dem fragenden Clemens zusagende Antwort und bestellte ihn mit seiner Geliebten am Tage nach dem Feste wieder aufs Schloß. – Da in der Zwischenzeit nichts Bedeutendes sich zutrug, übergehen wir dieselbe mit Stillschweigen. –

Zur festgesetzten Zeit wurden ihr am Tage nach Ostern die Wenden gemeldet und Herta ließ ihre Schutzbefohlene sogleich vor. Sie ward überrascht von der verschämten Lieblichkeit Haideröschens und konnte jetzt wohl begreifen, daß diese frische, naive Mädchenknospe die Sinne[98] ihres lockeren Vetters hatte bestricken und in Flammen setzen können.

Die Wendin hatte ihren besten Staat aufgelegt, der in jener einfachen Kleidung bestand, die wir schon früher beschrieben haben. Eine dichte Reihe goldener krauser Löckchen drang unter dem sauber geglätteten leinenen Spitzenhäubchen hervor und umsäumte die klare Stirn des lieblichen Kindes mit einer reizenden Glorie. Schüchtern und von Dankgefühl durchdrungen, warf sich Haideröschen vor Herta auf die Knie und stammelte unter Freudenthränen:

»Dank, tausend Dank, gütige Herrin, für so viel Gnade!«

»Steh' auf, mein Kind!« sagte Herta, der Wendin liebreich beide Hände reichend. »Umarme mich und betrachte mich wie eine Schwester. Auch mir nagt mancher Kummer am Herzen und die Bekümmerten sollen einander ja suchen, trösten und aufrichten. – Arme Kleine, wie Du zitterst! Wie Dein Herz schlägt! Bist Du allein gekommen oder hat Dich Dein Bräutigam begleitet?«

Bei dem Worte »Bräutigam« erröthete Haideröschen bis an die Stirn. Sie schlug die Augen[99] nieder und versetzte: »Wir sind noch nicht verlobt, gnädiges Fräulein, aber Clemens hat mir gesagt, daß er kein anderes Mädchen, als mich, zur Frau nehmen will.«

»Gewiß, so soll es geschehen! Ist Clemens im Schlosse?«

»Clemens, mein armer Vater und auch mein Pathe Ehrhold. Sie ließen sich nicht zurückhalten und warten draußen, um Ihnen für so viele unverdiente Gnade recht von Herzen zu danken.«

»Das ist mir lieb, arme Kleine, denn ich glaube, wir werden ihrer in Kurzem bedürfen. Dein Widersacher ist nämlich hier erschienen und hat Dich bei seinem Vater verklagt.«

»Graf Magnus?« rief Haideröschen erbleichend aus.

»Ja, gutes Mädchen, er selbst. Aber fürchte Dich nicht so, er kann Dir heut kein Leid zufügen. Sein Vater, der gerechtigkeitliebende Graf Erasmus und Dein eigentlicher Gebieter, hat mir zugesagt, Dich zu schützen. Du stehst also unter seiner Obhut, und wenn Du mir offen und wahrheitsgetreu den Vorgang mit dem bösen[100] Grafen Magnus erzählst, so kann Dir Niemand ein Haar krümmen.«

»Muß ich denn meinen Todfeind sehen?« fragte Haideröschen.

»Nicht blos sehen wirst Du ihn, Du mußt ihn auch als Deinen Verführer bezeichnen und genau Alles, was er Dir vorgespiegelt hat, im Beisein des alten Grafen erzählen.«

»Ach Gott, das kann ich ja nicht!«

»Warum nicht, mein liebes Röschen?«

»Das würde ja dem Herrn Grafen zur Unehre gereichen.«

»Eben deßhalb mußt Du es Wort für Wort erzählen. Der Elende soll entlarvt werden vor denen, die er beleidigt hat. Die armen Unterthanen sollen erfahren, daß er ein harter Tyrann, ein schlechter Mensch ist und daß, wenn er sich nicht bessert, ihm Niemand Gehorsam zu leisten braucht.«

»Wenn er seinen stechenden Blick auf mich richtet, vermag ich nicht zu reden.«

»Es wird schon gehen, gutes Röschen, nur Muth! Graf Erasmus will Dir wohl, Du bist von diesem Augenblicke an in meinen Diensten und darfst meinen Schutz in Anspruch nehmen.[101] Mit ein wenig Selbstvertrauen wird Alles zu Deinem Gunsten sich entscheiden.«

Niedergeschlagen neigte die Wendin ihr Köpfchen und weinte, daß die hellen Thränen über ihre Wangen herabliefen. Herta ließ inzwischen die Ankunft Röschens und ihrer Angehörigen dem Grafen anzeigen und um dessen fernere Befehle bitten. Bevor Antwort auf diese Anfrage erfolgt, wenden wir uns auf einige Minuten zu Magnus.

Der geneigte Leser erinnert sich aus dem vorigen Kapitel, daß die Zimmer des jungen Grafen, der ein seltener Gast im alten Schlosse war, in beträchtlicher Entfernung von den übrigen bewohnten Gemächern lagen und nur durch vielfach in einander laufende und sich kreuzende Corridore mit diesen in Verbindung standen. Eine Menge schmaler Treppen und finsterer Gänge, wie man sie in allen alten Feudalschlössern findet, fehlten auch auf Boberstein nicht und machten es dem, der sie genau kannte, leicht möglich, das ganze Schloß in seiner großen Ausdehnung von einem Flügel zum andern zu durchwandern. Magnus, in Boberstein erzogen, besaß diese Kenntniß, da er als Knabe die abgelegensten[102] Verstecke, die finstersten Treppen und geheimsten Thüren zu seinen Spielen aufgesucht und benutzt hatte. Wir erwähnen dies hier, weil es für unsere Erzählung alsbald von Bedeutung sein wird.

Der junge Graf hatte den größten Theil der Nacht in heftiger Aufregung verlebt, nicht aus Furcht vor dem nächsten Tage, der ihm eine Demüthigung prophezeite, die seinen Stolz tödtlich zu verwunden drohte, sondern von Gedanken gepeinigt, von Plänen und Entwürfen gefoltert, die er bei sich erwog und wieder verwarf. Er hatte einen Entschluß gefaßt, der ihn vor wilder Freude zittern machte, von dem er sich unaussprechlichen Genuß versprach, nur über die Art und Weise der Ausführung desselben war er mit sich noch nicht vollkommen im Klaren. Es war dazu nöthig, daß er vorerst, wie er dies als Knabe fast täglich gethan hatte, alle Verbindungsgänge des alten Schlosses genau wieder untersuchte und sich mit Schloß und Riegel so vieler nie geöffneter Thüren abermals bekannt machte. Denn um seinen Zweck zu erreichen, mußte jedes Hinderniß bei Zeiten entfernt werden.[103]

So schlich nun Magnus in der Nacht, welche dem Gerichtstage vorherging, als die tiefe Stille ihm sagte, daß alle Diener im Schlosse zur Ruhe gegangen seien, leise aus seinem entlegenen Zimmer. Er glich einem feigen Mörder, wie er das Licht mit vorgehaltener Hand schirmend, den blanken Hirschfänger unterm Arm, gebückt, mit falschem, funkelnden Auge, das bleiche Antlitz von dem schwarzseidenen Tuche umrahmt, die knisternden Stiegen auf und nieder wandelte, Thüren öffnete, die mit grauen Spinngeweben vergittert waren, und deren Bewohner, vom plötzlichen Lichtschein erschreckt, in schnellem Laufe nach allen Seiten hin auseinander stoben. Einige Thüren fand er geschlossen. Vor diesen blieb er lange stehen, während seine Hand die Thürschlösser prüfend untersuchte. Über dieser Nachtwanderung verstrich mehr als eine Stunde. Magnus hatte sie gegen eilf Uhr begonnen, und als die Schloßschelle dumpf dröhnend Mitternacht schlug, kehrte der finstere, entschlossene junge Mann eben zurück. Das lange schrille Austönen der Glocke machte ihn stehen bleiben. Ein dünner Luftzug, der von rechts durch eine schmale hohe Thür hereinblies[104] und die Flamme des Lichts niederwärts krümmte, erregte seine Aufmerksamkeit. Er stellte den Leuchter in eine Mauerblende zur Seite, drückte gegen die Pforte und öffnete sie. Der dunkle Nachthimmel mit seinen flimmernden Sternen fiel herein in den düstern Gang und übergoß mit weichem Glanz die dämonischen Züge des Grafen.

Magnus trat hinaus auf die Zinne des Schlosses, die rund um die weitläufige Burg lief und von einer ziemlich hohen Brustwehr geschirmt war. Unter ihm lag der See, schwarz und still, nur erleuchtet von den Sternbildern, die sich in ihm spiegelten. Darüber in unabsehbarer Ausdehnung dunkelte die Haide. Ein geisterhaftes Rauschen klang von ihr herüber und bewegte leis die dunklen Kronen ihrer Millionen Bäume. Hie und da schoß eine Sternschnuppe nieder, bei deren dunstigem Leuchten fern und nah grauweiße Rauchsäulen über dem endlosen Baummeere sichtbar wurden, die sich erst hoch in der Luft ausbreiteten und dann wie zartes Piniengeäst majestätisch in den Nachthimmel hinaufwuchsen. Von Zeit zu Zeit dröhnte ein dumpfes Krachen aus der Haide und erstarb in matten Echolauten.[105] Dann kreischten Uhu und anderes Gevögel laut auf und schwarzes Gefieder ward momentan sichtbar über den zitternden Wipfeln.

Graf Magnus ließ sein brennendes Auge bald auf dem See, bald auf dem schwarzen Saum der Haide ruhen, indem er langsam nach einem der vier Eckthürme ging, die mit ihrem braunen Mauerwerk weithin die Haide überragten. Bei jedem dieser Thürme wand sich in das Gestein gesprengt eine schmale Treppe bis auf die Felsen der Insel hinab, wo sie mit den tiefen Verließen und Kellern des Schlosses in Verbindung stand. Von Außen konnte auch das schärfste Auge diese Felsenstiege nicht entdecken, was in früher vorgekommenen Befehdungsfällen für die Bewohner der alten Burg sich als höchst vortheilhaft erwiesen hatte. Jetzt hatte Niemand mehr Acht auf diese feudalistisch-praktische Befestigungsart. Die Stufen waren zum Theil zerbröckelt und der ganze beschwerliche Weg nur mit einiger Anstrengung noch gangbar.

Magnus beschlich das Gelüst, auch diese Treppe wieder einmal zu betreten. Als er aber den Fuß auf die erste Stufe setzte, zitterte die Melodie eines Gesanges von der Haide herüber.[106] Er blieb stehen. Die Worte konnte er nicht vernehmen, allein Ton und Weise des Gesanges sagten ihm, daß ein später Wanderer eines jener zahllosen wendischen Lieder singe, die unter dem Namen »Feldlieder« bekannt sind und vom Volke bei der Arbeit auf Feld und Wiese erst gedichtet, dann nach selbst dazu erfundener Melodie gesungen werden. Der nächtliche Sänger hatte eine kräftige, klangreiche Tenorstimme, die mit dem heiligen Rauschen der Wälder eigenthümlich harmonirte. Nach einigen Minuten verhallte der Gesang in der Ferne und die vorige tiefe Ruhe trat wieder ein.

Den jungen Grafen überfiel plötzlich ein Frösteln. Er schauerte in sich selbst zusammen, und obwohl er von Natur durchaus nicht furchtsam war, kam es ihm auf der öden Zinne seines Stammschlosses jetzt doch unheimlich vor. Es war ihm, als habe der Schutzgeist der uralten Thürme und Giebel seine Stimme erschallen lassen und als fühle er noch seine unsichtbare Nähe. Schneller, als zuvor, ging Magnus zurück, schloß mit einiger Hast die Luckenthür und kam, in kalten Schweiß gebadet, auf seinem Zimmer an. Hier ging er noch lange auf und nieder, ehe er[107] sich ruhig genug fühlte, um sich den schirmenden Armen des Schlafes anvertrauen zu können.

Am nächsten Morgen erweckte ihn Hundegebell. Als er in den Schloßhof hinabsah, bemerkte er Haideröschen inmitten ihrer nächsten Anverwandten. Dieser Anblick jagte ihm das wilde Blut ins Gesicht und vergegenwärtigte ihm die vergangenen ärgerlichen Auftritte, die jetzt einen so peinlichen Ausgang verhießen.

Die Flucht der schönen Wendin von seinem Besitzthume war ihm in jeder Hinsicht verdrießlich, am meisten aber deshalb, weil es nach dem, was zwischen ihm und dem Mädchen vorgefallen war, ganz den Anschein haben mußte, als sei er ein verworfener Bösewicht. Ob ihn das Volk im Allgemeinen dafür hielt, darum kümmerte er sich nicht. Er machte überhaupt kein Geheimniß aus seinen Gelüsten. Daß er aber gerade in einer Angelegenheit, wo er sich einer bessern Absicht, wenigstens in jenem Augenblicke bewußt gewesen, als frevelhafter Verführer erscheinen mußte, dies verdroß ihn über die Maßen und erzeugte jetzt einen Haß gegen Haideröschen, wie er ihn gegen sonst Niemand empfand noch je empfunden hatte. Je mehr er sich dessen bewußt ward, desto[108] fester bildete sich in ihm ein Racheplan gegen das arme Mädchen aus, an dessen Verwirklichung er jedoch nur dann zu gehen sich gelobte, wenn seine eigene Ehre auch nur leise durch ihr Betragen gekränkt werden sollte. Dieß war indeß blos ein jesuitischer Kniff, mit dem er sein Gewissen retten wollte, in seinem geheimsten Innern war es längst fest beschlossen, die widerspänstige Leibeigene zu verderben, weil sie gewagt hatte, ihm zu widerstehen, ja ihn sogar zu verklagen und Schutz gegen ihn zu suchen.

Verächtlich ließ Magnus seine Blicke über die drei wendischen Männer gleiten, die unter dem gothischen Portal der Burgthür stehen blieben und leise mit einander sprachen, während Haideröschen allein das Innere des Schlosses betrat. Er kleidete sich gemächlich an, schellte dem Diener und befahl das Frühstück, das er mit gutem Appetit verzehrte. Er wunderte sich, daß sein pünktlicher, strenger Vater so lange auf sich warten ließ und glaubte schon, er könne sich wohl gar anders besonnen haben, als ein Bedienter ihm den Befehl des Grafen Erasmus überbrachte, sich schleunigst in die untere Schloßhalle zu verfügen. Magnus nickte vornehm mit dem[109] Kopfe beeilte sich aber keineswegs, dem erhaltenen Befehle pünktlich nachzukommen. –

Inzwischen waren die drei Wenden, Jan Sloboda, Ehrhold und Clemens, auf Erasmus Geheiß in die erwähnte Schloßhalle gerufen worden. Diese Halle lag im Erdgeschoß rechts von der Eingangspforte. Sie war gothisch gewölbt und erhielt durch drei schmale gothische Fenster mit runden erblindeten Scheiben ihr Licht. Eine große Flügelthür von gewaltigen eichenen Pfosten schied sie von der Flur. Doch war diese Thür in der Regel geöffnet, weil aus der Halle eine aus Eichenholz geschnitzte Wendeltreppe in Form eines runden Thurmes in das erste Gestock hinaufführte und dieser Aufgang zu den Zimmern des Burgherrn näher war als auf der breiten Freitreppe von Sandsteinquadern im Flur. Die Schloßhalle war mit bunten achteckigen Kacheln und Ziegeln gepflastert und an den Wänden etwa drei Ellen hoch mit einer Verschaalung von Eichenholz eingefaßt, an der sich breite Bänke hinzogen. In der Mitte stand ein großer langer Tisch, ebenfalls von Eichenholz und wie für die Ewigkeit gezimmert, und der hohen Eingangsthür gegenüber sah man an der Wand einen[110] langen über drei Fuß hohen eichenen Klotz aufgerichtet, der mehrere runde Öffnungen hatte, die etwa vier Zoll im Durchmesser halten konnten. Dieser Klotz war der »Stock,« das gewöhnliche Werkzeug, welches die ländliche Gerechtigkeitspflege bei Bestrafung leichter Vergehen damals anzuwenden pflegte, und das Vorhandensein dieses »Stockes« in der Halle bewies, daß man dieselbe in vorkommenden Fällen stets als Gerichtszimmer benutzte.

An der einen Wand der Halle, den Fenstern gegenüber war eine Art Empore oder Gallerie angebracht, zu welcher eine Treppe führte. Auf dieser pflegten sich bei solchen Gelegenheiten, wo der Schloßherr den Richtern der ihm untergebenen Ortschaften feierlich seine Verordnungen und Befehle bekannt machte, die Mitglieder seines Hauses zu versammeln. Dasselbe fand bei Gerichtsverhandlungen statt und auch jetzt nahmen die alte Gräfin nebst Herta bereits ein paar Stühle mit geschnitzten hohen Holzlehnen ein, die zu diesem Behufe auf der Gallerie vorhanden waren.

Der Graf selbst hatte sich von seinen Dienern in die Halle hinab tragen lassen und saß[111] als Richter an dem erwähnten eichenen Tische. Rechts von ihm unweit der Thür hatte Haideröschen bleich und zitternd Platz genommen, während die Wenden und die Dienerschaft an der Schwelle zur Halle mit entblößten Häuptern standen und ehrfurchtsvoll der Eröffnungen harrten, die ihnen der Graf machen würde.

Erasmus beauftragte so eben seinen Kammerdiener, nachzusehen, wo sein Sohn bleibe, als Magnus auf der Wendeltreppe erschien und dem Anscheine nach vollkommen harmlos in die Halle hinabstieg. Er trug sein gewöhnliches grünes Jagdkleid, der kleine dreieckige blaugraue Hut saß schief auf den Locken seines frisch gepuderten Haares. Erst als er in die Halle trat, nahm er ihn ab, grüßte mit verbindlichem Lächeln nach der Gallerie hinauf und verbeugte sich dann gegen den Grafen, indem er an die schmale Seite des Tisches trat und den Fenstern den Rücken zukehrte.

»Sie haben befohlen, mein Vater,« sagte Magnus, »und aus der Bereitwilligkeit, mit welcher ich Ihren Befehlen gehorche, mögen Sie ersehen, welches Vergnügen es mir gewährt, Ihnen gefällig zu sein.«[112]

Diese Worte, obwohl lächelnd und mit Grazie gesprochen, enthielten doch einen offenbaren Hohn, denn die Versammelten hatten geraume Zeit auf den jungen Grafen warten müssen und deutlich genug die langsamen Schritte gehört und das Zögern gesehen, womit er die Treppe herunterstieg. Erasmus gab sich nicht die Mühe, seinem ungerathenen Sohne zu antworten, da er voraussah, daß ein Wortkampf daraus entstehen würde, der hier zu nichts führen konnte. Er wendete sich vielmehr sogleich an die junge Wendin und redete sie freundlich und leutselig an:

»Sage mir jetzt, mein Kind, ganz offen und ohne Scheu, wie Du heißt?«

Furchtsam stammelte Haideröschen ihren Namen, die schönen Augen fest auf die bunten Ziegeln heftend.

»Du bist ihr Vater, Jan Sloboda?« fragte Erasmus weiter.

»Ja, ja, gnädigster Herr Graf, das arme Ding ist mein liebes liebes Kind. Ihre Mutter – tröst' sie Gott – war just eben so munter und zierlich, als ich sie kennen lernte vor einem Vierteljahrhunderte.«

Der Graf winkte dem Wenden, daß er[113] schweigen solle, und kehrte sich wieder zu dem zaghaften Mädchen.

»Kennst Du diesen jungen Mann?« fragte er, auf seinen Sohn zeigend.

»Ach gewiß kenne ich ihn!« seufzte Röschen. »Es ist ja Ew. Gnaden gnädiger Herr Sohn.«

»Ich höre, Röschen Sloboda, daß Du eine Klage gegen meinen Sohn angebracht hast, ich fordere Dich auf, diese in allen ihren Einzelnheiten jetzt hier zu wiederholen.«

Purpurgluth übergoß Gesicht und Nacken der Wendin, sie blickte einige Male scheu auf nach dem Grafen, schlug aber die Augen sogleich wieder zu Boden und schwieg. Magnus, der seinen scharfen Geierblick keine Sekunde von Röschen verwendete, lächelte ironisch.

»Rede, mein Kind, der gnädige Herr Graf will es,« flüsterte ihr Sloboda zu, allein dem geängstigten Mädchen war die Zunge wie gelähmt; sie brachte nur unverständliche, stotternde Worte heraus.

»Besinne Dich und nimm Dir Zeit,« redete sie Erasmus wieder äußerst freundlich an. »Ich will Dir wohl, arme Kleine, und verspreche Dir, geschehenes Unrecht so viel wie möglich wieder[114] gut zu machen. Hat Dich Graf Magnus unwürdig behandelt?«

»Ach nein, nein, Ew. Gnaden, wie wäre das möglich!« stieß Röschen heraus, während verdoppelte Gluth ihr zartes Kindergesicht überflammte.

»Ich sagte es ja,« fiel Magnus lächelnd ein.

»Hat Dich mein Sohn nicht aus der Mitte Deiner Freunde mit Gewalt entführt?«

»Das ist freilich wahr, aber nachher sagte mir der junge gnädige Herr, daß er es gethan habe, um mir schöne Kleider machen zu lassen.«

»Und hast Du ihm verziehen?«

»Warum nicht? Er war nachher recht gütig gegen mich.«

»Aber späterhin drohte er Dir, nicht wahr, und deshalb ergriffst Du einen Leuchter, um Dich gegen ihn zu vertheidigen?«

Hier stürzte Röschen auf die Knie, erhob flehend die gefalteten Hände zu dem Grafen und rief: »Sein Sie gnädig, Herr Graf, daß ich so arg gefehlt habe! Ich wußte ja nicht, daß ich den guten jungen Herrn treffen würde. Ich fürchtete mich so sehr!«[115]

Erasmus hieß die Wendin aufstehen und betrachtete sie schweigend. »Eine andere Klage hast Du also wirklich nicht gegen den Grafen Magnus vorzubringen?« fragte er nach einer Pause.

»Gewiß und wahrhaftig nicht!«

»Sie sehen, mein Vater,« fiel Magnus ein, »daß man Ihnen unartige Mährchen erzählt hat. Es ist vollkommen wahr, was die kleine Wendin behauptet. Ich entführte sie, wenn man einen Scherz Entführung nennen will, weil ich ihr eine ihren Naturgaben angemessene Erziehung zu geben gedachte, und, ich gestehe es, weil mich der offene Widerstand verdroß, den ihre Angehörigen meiner Forderung entgegensetzten. Als Ihr Sohn und Erbe, mein Vater, glaubte ich das Recht zu besitzen, eine Ihrer Leibeigenen gleichsam leihweise mir zur Dienerin auswählen zu dürfen. Diesen Eingriff in Ihre Rechte, wenn mein Verfahren ein solcher ist, hat sie hart an mir gerächt. Die Kopfwunde, welche ich trage, zeugt noch von der dämonischen Wuth, die in ihr kochte, und von der aufsätzigen Gesinnung, die seit einiger Zeit unter Ihren Knechten, mein Vater, sich geltend macht. Gern wollte ich der kleinen[116] schönen Sünderin ihr Unrecht gegen mich verzeihen, forderten nicht Gesetz und Recht, daß man ihr Verfahren bestrafe. Ein Leibeigener, der frevelnd seine Hand gegen den Herrn erhebt, darf nicht frei ausgehen, wenn ähnliche Verbrechen in Zukunft unterbleiben sollen. Aus keinem andern Grunde trage ich auf exemplarische Bestrafung des Mädchens an.«

Erasmus ward durch das furchtsame Schweigen der Wendin in nicht geringe Verlegenheit gesetzt, da es nicht nur nicht in seiner Macht stand, Haideröschen freizusprechen, sobald sie sich selbst schuldig bekannte, sondern ihm auch alle Aussicht sich als milden Gebieter seiner Unterthanen und als strengen Richter gegen sein eigenes Haus zu zeigen, damit gänzlich abgeschnitten ward. Er hatte grade auf das Gerechtigkeitsgefühl und die Naivetät des unverdorbenen Mädchens am meisten gehofft, und darauf hin allein diesen öffentlichen Weg eingeschlagen, und nun sah er seinen wohl überlegten Plan an der Schüchternheit und Herzensgüte der Wendin scheitern. Rechnen wir noch dazu, daß ihm die Richtigkeit der Bemerkungen seines Sohnes einleuchtete, und daß er, obwohl grade, bieder und durchaus rechtlich gesinnt,[117] keineswegs offenem Umsturze des Bestehenden und rohem Aufstande das Wort reden wollte, so blieb ihm nichts übrig, als sich den Umständen zu fügen und Haideröschen für ihr Vergehen wirklich zu bestrafen, obwohl dasselbe nur die allergerechteste Nothwehr gewesen war.

»Besinne Dich wohl, Röschen,« nahm er nach einiger Zeit wieder das Wort .. »Bist Du hart und unehrerbietig von diesem jungen Mann behandelt worden, so sage es mir. Es soll Dir Niemand ein Haar krümmen bei meinem gräflichen Wort!«

Allein auch auf diese nochmalige dringende und in väterlich bittendem Tone an die Wendin gerichtete Aufforderung schüttelte Haideröschen den Kopf, indem sie unter rinnenden Thränen sprach: »Seine Gnaden haben mich behandelt, wie eine Magd, nicht anders, aber ich fürchtete mich vor seiner flehenden Miene. und darum schlug ich ihn.«

Magnus triumphirte. Sein glänzendes Auge begegnete dem Blick seiner Mutter, die neben Herta auf der Gallerie saß und mit stolzer Verachtung auf die demüthigen Wenden hinabsah.

Ein vergnügtes Lächeln ging über ihr Gesicht und[118] grüßend erhob sie graziös die Hand mit dem Fächer, der häufig von ihr auf- und zugeklappt wurde.

»Es thut mir leid, mein Kind,« versetzte Graf Erasmus nach diesem Geständnisse des geängstigten Mädchens mit sichtbarem Verdruß, »daß ich Dir eine gelinde Strafe für das gewaltthätige Benehmen gegen meinen Sohn zuerkennen muß. Deine Jugend, Deine Unerfahrenheit und die offenbar ungewohnte Lage, in welcher Du Dich befunden, mildern mein Urtheil, das nach dem Buchstaben des Gesetzes weit härter lauten würde. Meine Frohnknechte werden Dich eine Stunde in den Stock legen, diese Strafe durch Anschlag an dem Burgthore und in Deinem Geburtsorte bekannt machen und Jedem freien Zutritt gestatten, der Dich in dieser demüthigen Lage sehen will.«

Bei diesem Urtheilsspruche stieß Herta einen lauten Schrei aus und fiel entkräftet Gräfin Utta auf die Schulter. Entrüstet über ihre empfindsame Nichte, rief die stolze Frau die Zofen herbei, um die Ohnmächtige deren Pflege zu übergeben.[119]

Zugleich trat Magnus seinem Vater einen Schritt näher.

»Wie,« sagte er, »eine Stunde im Stock soll die Strafe für diese freche Dirne sein, die mir den Hirnschädel mit dem gewichtigen Leuchter zerschmettern konnte? Ich protestire gegen diesen Spruch, mein Vater, im Namen aller Edlen, die sich in mir entehrt sehen. Den Pranger hat das ungehorsame Geschöpf verdient und eine Tracht Ruthenstreiche auf den entblößten Sclavenrücken unter Zusammenruf aller Leibeigenen auf dem Schloßhofe! Ich trage darauf an und erwarte, mein Vater, daß Sie meine Gründe berücksichtigen werden.«

Ruhig versetzte dagegen Erasmus: »Mein Urtheilsspruch bleibt in Kraft. Ich habe ihn gefällt nach reiflicher Überlegung und wünsche, daß Du die geheimen Beweggründe, die mich dazu veranlassen, Dir selbst sagst, damit ich mich nicht genöthigt sehe, sie Dir einzeln hier vor diesen Leuten ins Gedächtniß zu rufen. – Frohnknechte, vollzieht das Urtheil und legt die Wendin in den Stock!«

Bleich vor Zorn und mit zitternden Lippen trat Magnus zurück. Zugleich ergriffen zwei[120] Knechte des Grafen das schlanke Mädchen und führten es zu dem Eichenblocke, der an der Wand der Halle stand. Haideröschen folgte willig und schweigend wie ein Lamm, das man zur Schlachtbank schleppt. Nur die häufigen Thränen, die in schmalen Silberbächen über die mattrothen Wangen herabrieselten, zeugten von dem Kummer ihres Herzens, von der Schaam, die sie verzehrte. Denn im Stocke gelegen zu haben, war eine Schmach für Jeden, zumeist für ein junges Mädchen, das im Begriff stand, einem ehrlichen Burschen ihre Hand als Gattin zu reichen. Sie sah jetzt ihr ganzes kleines Glück zertrümmert, ihre Zukunft, die sie sich in rührender Genügsamkeit so freundlich ausgemalt hatte, für immer verdüstert. Kein ehrlicher Wende, glaubte sie, würde ihr jetzt einen Tanz mehr antragen, Clemens werde sie verlassen, sie fliehen, wie eine Aussätzige, und jedes Schutzes bar werde sie in die Schlingen des boshaften Blauhuts fallen, der sich, wie sie deutlich durch ihre Thränen bemerkte, an ihrem Jammer weidete.

Sie mußte sich Schuhe und Strümpfe ausziehen, während die Knechte den schweren Block abhoben. Dann nöthigte man das geduldige[121] Kind auf den kältenden Ziegelboden niederzusitzen und die zartgeformten Füße bis über die alabasterweißen Knöchel in die Löcher des Eichenpfostens zu legen, worauf die Knechte die abgenommene Hälfte des Blockes wieder aufsetzten, mit starken Klammern an den untern Klotz anschlossen und die arme kleine Wendin unbarmherzig zwischen beide Klötze einklammerten. Haideröschen ward durch diese Strafe in eine höchst unbequeme Lage versetzt. Da sie nur von mittlerer Frauengröße, der untere Theil des Stockes aber bis zu den Öffnungen fast eine halbe Elle vom Fußboden erhoben war, konnte sie sich nur mit großer Anstrengung aufrecht erhalten. Doch würde sie dies mit Geduld ertragen haben, da ihre Seele tausendmal mehr litt, als ihr Körper, daß aber durch diese Stellung ihre jungfräulichen Glieder bis an die Knie entblößt wurden und daß die lüsternen Blicke des schadenfrohen Grafen Magnus an ihren enthüllten schönen Formen sich ungestraft weiden durften, das preßte ihr Herz zusammen und raubte ihr beinahe alle Besinnung.

Sobald die Straffällige in den Stock gelegt war, ließ sich Erasmus zurück in sein Zimmer[122] tragen. Man sah es ihm an, daß er diesen Ausgang nicht erwartet hatte und sehr unzufrieden mit der Wendung war, die die ganze Angelegenheit genommen. Er zürnte sogar der kleinen Wendin, die ihre eigene Schüchternheit gegen seinen Willen so hart büßen mußte. Darum sah er sich auch weder nach ihr noch ihren Begleitern um, die mit entblößten Häuptern, den Riemen der Knechtschaft um die Stirn gewunden, lautlos auf der Schwelle standen und mit Betrübniß das weinende Mädchen im Stocke betrachteten. Glücklicherweise fanden sich außer der zahlreichen Dienerschaft des Grafen keine Neugierigen ein, um die Bestrafte anzuglotzen oder wohl gar zu verhöhnen. Nur Magnus blieb in der Halle und wanderte eine volle Stunde mit verschränkten Armen an Haideröschen auf und nieder, eben so begehrliche als wüthende Blicke auf sie heftend. Die Unglückliche fühlte die Gluth seiner bösen Augen, obwohl sie nicht zu ihm aufzublicken wagte, und weil sie ahnte, daß ihre Erniedrigung ihn ergetzte und die nackten Glieder seinem Herzen ein Labsal seien, that sie sich die entsetzliche Gewalt an, eine volle Stunde ohne die geringste Bewegung in derselben qualvollen Stellung zu verharren.[123] Man würde sie für todt gehalten haben, wäre nicht in bald längeren bald kürzern Pausen ihrer Brust ein schwerer Seufzer entschlüpft und hätte man nicht das heftige fieberhafte Klopfen des züchtig verhüllten jungen Busens gesehen.

Die Stunde dünkte Haideröschen allerdings eine Ewigkeit, indeß sie verging und mit einem unbeschreiblichen Wonnegefühl sah sie die Knechte wieder nahen und sie aus dem Blocke erlösen. Als sie sich aufrichtete, traf ihr scheues Auge wie ein Weheruf den jungen Grafen, der mit seinem kalten, festen Lächeln in den dämonisch schönen Zügen vor ihr stand und sich höflich verbeugte. Zu ihrem unsagbaren Erstaunen reichte ihr Blauhut die Hand und sagte:

»Jetzt Versöhnung, liebes Röschen! Ich trage keinen Groll mehr gegen Dich in mir. Du hast gebüßt, das genügt mir. Von heut an bin ich wieder Dein gnädiger, gütiger, Dir wohlwollender Herr!«

Haideröschen war sprachlos vor Erstaunen. Magnus mußte ihr seine Hand aufdringen, was sie zwar geschehen ließ, doch ohne den sanften Druck zu erwiedern, den sie fühlte. Selbst auf[124] den Gruß, mit dem er von ihr ging, zu danken, vergaß sie vor Verwunderung und Entsetzen.

Dagegen jauchzte sie innerlich auf vor Freude, und süße, fromme Klänge, wie heiliges Glockengeläut, das zur Kirche rief, ging durch ihre Seele, als sie jetzt eine Hand sich sanft auf ihre Schulter legen fühlte und beim Umwenden ihr noch von Thränen feuchtes Auge auf das gutmüthige Gesicht des Geliebten fiel, der, sie sanft rüttelnd, ausrief: »Arme Röse, nun hast Du's überstanden und bist wieder mein!«

Sie warf sich jubelnd an die breite Brust des jungen Wenden, und ohne daß er sie darum bat, drückte sie die heißen vor Schmerz und Wonne bebenden Lippen an seinen Mund. Dann fiel sie wieder in ein stilles Weinen. Clemens ließ sie gewähren und strich nur manchmal mit seiner flachen harten Hand über die duftigen Löckchen ihrer blüthenweißen Stirn.

Nachdem sich Haideröschen an der Brust des Geliebten ausgeweint hatte, bemerkte sie erst, daß sie barfuß auf den kalten Ziegeln der Halle stand. Schnell bückte sich das arme Kind, raffte die blauen Zwickelstrümpfe mit sammt den blanken[125] Bänderschuhen auf und lief der Thüre zu, wo ihr Vater und Ehrhold lehnten. Treuherzig reichte sie beiden Männern die Hand und bat sie flehentlich, sie möchten ihr die Schande nicht entgelten lassen, die sie unwillkürlich über ihre Angehörigen gebracht habe. Es hätte jedoch solcher Bitte nicht bedurft, denn den beiden ernsten Männern war es nie eingefallen, das arme Mädchen anzuklagen. Jan zog sie an sich und küßte sie auf die Stirn und Ehrhold nahm ihre kleine Hand und legte sie in die seines Sohnes, um der Zweifelnden durch die That zu beweisen, daß er sie gern und freudig als Tochter begrüßen wollte.

Beruhigt setzte sich nun Haideröschen auf die Holzbank, womit die Wände rundum bekleidet waren, und beeilte sich, die frierenden Füßchen mit Strümpfen und Schuhen wieder zu bekleiden. Noch damit beschäftigt, sagte sie zu ihrem Vater:

»Nicht wahr, ich darf wieder mit Euch heimgehen? Denn das liebe gnädige Fräulein wird mich jetzt, nun ich eine solche Strafe habe erleiden müssen, nicht mehr um sich sehen mögen.«[126]

»Ich werde Dich in der Haide verbergen, mein Kind,« versetzte Sloboda.

»Und Clemens sieht schon darauf daß mir der junge Herr nicht wieder nachstellt,« meinte Haideröschen lächelnd.

»Warum läßt unser Herrgott solche Menschen leben, und die besten, die frömmsten, die gütigsten sterben hin wie Mücken! Da kräht kein Hahn drüber.«

»Nach Regen folgt Sonnenschein, Jan! Laß uns hoffen und stark bleiben!« sagte Ehrhold.

Haideröschen hatte die Schuhe angezogen und strich die üppig vorquellenden goldenen Haare unter das reine Linnenhäubchen zurück.

»Nun da können wir aufbrechen, denk' ich,« sagte sie mit einem Anfluge von Munterkeit. »Ein Frühstück setzt uns die Herrschaft schwerlich vor.«

Jan schlang den Arm um den Nacken seiner Tochter und sah ihr still in die großen hellen Kinderaugen.

»Gott erhalte mir nur Dich!« sagte er gerührt.[127] »Ich wüßte nicht, was ich thäte, wenn Du mir genommen oder verführt würdest! Alles Andere, allen Kummer, Noth und Elend und Druck will ich ertragen, aber Dich, mein süßes, duftendes Veilchen, das einzige Erbe meines guten Weibes, Dich kann ich nicht entbehren, ohne den Verstand zu verlieren.«

Sloboda überschritt die Schwelle der Halle und wollte eben die wenigen Stufen hinabsteigen, die in die geräumige Flur der Burg führten. Da hörte er laut den Namen seiner Tochter von einem Bedienten hinter sich rufen, der eilenden Laufes die eichene Wendeltreppe herab stürmte. Die Wenden blieben stehen.

»Was befiehlt der gnädige Herr Graf?« fragte Clemens.

»Fräulein Herta will Röschen Sloboda sprechen.«

Die Augen des Mädchens glänzten vor Freude und Dank. »O sie ist gut!« rief sie aus, ihre Hände faltend. »Ihr dürfen wir und Alle, die unglücklich sind, vertrauen. Wartet auf mich, bis ich zurückkomme oder Euch Antwort sagen lasse.«[128]

Sloboda nickte beistimmend und Haideröschen stieg gesenkten Hauptes, fromme Wünsche für das gute Fräulein in sich tragend, hinter dem Bedienten die Wendeltreppe in das alte Schloß hinauf.

Quelle:
Ernst Willkomm: Weisse Sclaven oder die Leiden des Volkes. Theile 1–5, Leipzig 1845, S. 96-129.
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