Buß-Andacht über den 6ten Psalm

[101] Ach Herr! gerechter Gott, mit sehnlicher Begier,

Mit Andacht, Buß und Reu erscheine ich vor dir,

Und bitte, straf mich nicht im Zorn nach meinen Sünden.

Herr! schone meiner Schuld

Mit Gnade und Gedult,

Und laß mich deinen Zorn nicht nach Verdienst empfinden.


Herr! züchtge mich doch nicht in deinem grossen Grimm,

Sonst falle ich vor dir wie eine Blume üm,

Und muß vor deiner Macht verderben und vergehen.

Vergieb mir meine Sünd,

Die deinen Zorn entzündt,

Und laß mich deine Hand nicht fühlen, oder sehen.
[101]

Herr! der du gütig heist! Herr! der du gnädig bist,

Sieh meine Seele an, die voll Betrübniß ist;

Sieh Herr, wie schwach und matt ich jetzo vor dir liege.

Vergieb nach deiner Gnad

Mir meine Missethat;

Sey gnädig, daß mein Geist bald wieder Stärke kriege.


Herr! sieh mich gütig an! komm! heile meine Seel

In ihrem grossen Schmerz mit deinem Freuden-Oel!

Hilf meiner Schwachheit auf, denn ich bin sehr erschrocken.

Zieh mich nicht vors Gericht,

Verstosse mich doch nicht;

Sieh, mein Gebeth sucht dir die Gnade abzulocken.


Ach wie erschrocken ist mein Herz, mein Geist und Sinn!

Die Angst und Bangigkeit wirft meine Seele hin,

Und seufzt und girrt und fleht nach deiner grossen Gnade.

Herr! sieh mich liebreich an;

Vergieb was ich gethan,

Damit mir nicht der Biß der alten Schlange schade.


Ach du mein Lebens-Fürst! ach du mein Herr und Gott!

Erbarm dich über mich! ach sieh auf meine Noth![102]

Wie lange wartest du? wie lange soll ich klagen?

Wie lange soll ich schreyn?

Ach! komm und siehe drein!

Ach! komm! und laß mich nicht in meiner Angst verzagen!


Herr! kehre deinen Zorn und deinen Grimm von hier;

Zeig mir dein Angesicht, und wende dich zu mir,

Und sieh auf meinen Schmerz, und höre auf mein Schreyen!

Herr sey mir jetzt nicht fern!

Du hilfst ja sonsten gern,

Drum wollest du mich auch mit deiner Hülf erfreuen.


Du Allmachts-voller Gott! der du in Noth beschützt,

Hilf meinem armen Geist, der in Betrübniß sitzt,

Komm und errette mich, und meine arme Seele;

Befreye doch mein Herz

Von seinem herben Schmerz,

Damit es sich nicht mehr bekümmre oder quäle.


Um deiner Gnad und Huld, um deiner Güt und Treu

Steh mir in meiner Angst und meinem Elend bey!

Hilf mir, o Vater-Herz! um deiner Güte willen.

Du hast ja allezeit

Die Weinenden erfreut;

So hoff ich, wirst du auch dein Wort an mir erfüllen.
[103]

Kein Todter lobet dich in seiner dunklen Gruft;

Kein Abgeschiedner singt in seiner tiefen Kluft

Von deiner Gütigkeit und deinen Gnaden-Gaben.

Drum hilf mir, daß mein Geist

Dich rühmet, lobt und preist;

So solst; so kanst du auch von mir ein Danklied haben.


Von Seufzern und Geschrey bin ich ganz müd und schwach,

Von Thränen wird mein Bett zu einem Wasser-Bach.

Mein Antlitz und Gestalt ist jämmerlich verfallen.

Vor Trauren schein ich alt,

Von Kummer ungestalt;

Ich werd geängstiget: von wem? Ach Gott! von allen.


Ihr Ubelthäter weicht, verhöhnet mich nur nicht,

Der Herr wendt sich zu mir, sein gnädig Angesicht

Kehrt sich nach meiner Noth, und siehet auf mein Weinen.

Mein Elend sieht er an:

Er denket nun daran,

Wie er mir in der Noth mit Hülfe will erscheinen.


Mein Flehen hat der Herr in Gnaden angesehn;

Nunmehr wird meiner Seel was liebliches geschehn;

Nun hat der Herr mein Gott mein arm Gebeth erhöret.

Die ganze Sünden-Schuld

Hat er nach seiner Huld

Vergeben, und mein Herz durch seinen Geist bekehret.
[104]

Da mich nun Gottes Huld mit Hülf und Gnad bedacht;

So wird der Feinde Schwarm zu Schand und Spott gemacht;

Er zittert und erschrickt, und muß zurücke kehren.

So siege ich durch Gott,

Und mache sie zu Spott.

Davor will ich den Herrn mit Mund und Seele ehren.


Quelle:
Sidonia Hedwig Zäunemann: Poetische Rosen in Knospen, Erfurt 1738, S. 101-105.
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