Dom. 3. Pentec

[265] Dictum.


Er ruffet seinen Schaafen mit Nahmen und führet sie aus.


Aria.


Komm, leite mich,

Es sehnet sich

Mein Geist auf grüne Weyde.

Mein Hertze schmacht,

Aechtzt Tag und Nacht:

Mein Hirte, meine Freude.


Wo find ich dich? ach! wo bist du verborgen?

O zeige dich mir bald

In lieblicher Gestalt,

Ich sehne mich, brich an erwünschter Morgen.


Aria.


Mir ist, als säh ich dich schon kommen,

Du gehst zur rechten Thür hinein,

Ich werd im Glauben aufgenommen.

Du wirst der wahre Hirte seyn.[266]

Wer wolte nicht die Stimme kennen,

Die voller Huld und Sanfftmuth ist

Und nicht so gleich vor Sehnsucht brennen,

Weil du der treuste Hirte bist.


Dictum.


Sie vernahmen aber nichts, was es war, das er zu ihnen gesaget hatte.


Ach ja! wir Menschen seynd gar offt,

Den Tauben zu vergleichen,

Wenn die verblendete Vernunfft nicht kan erreichen,

Was sein geheilgter Mund gesagt.


Arioso.


Ihr Thoren! mercket doch,

Wann Jesus mit euch spricht,

Daß es zu euren Heyl geschicht.


Aria.


Oeffnet euch, ihr beyden Ohren,

Jesus hat uns zugeschworen,

Daß er Sünd und Tod erlegt.[267]

Gnade, Gnüge, volles Leben,

Will er allen denen geben,

Wer mit ihm sein Creutze trägt.


Choral.


Nun werther Geist, ich folge dir, hilff daß ich suche für und für, nach deinem Wort ein ander Leben, das du mir wilst aus Gnaden geben. Dein Wort ist ja der Morgen-Stern, der herrlich leuchtet nah und fern, drum will ich, die mich anders lehren, in Ewigkeit, mein GOTT, nicht hören.[268]

1.

Welt, behalte deine Freude,

Mich ergötzt des Creutzes Stamm,

Da hängt meiner Augen Weyde,

Das gedultge Gottes Lamm,

Das erbärmlich zugericht,

Weil es Sünd und Schuld geschlicht.

Was die gantze Welt begangen,

Wird der Unschuld aufgehangen.


2.

Schaue, Sünder, was vor Schmertzen

Was erträgt es nicht vor Pein!

Rinnt das Blut nicht aus den Hertzen,

Wie muß seiner Seele seyn?

O! wie ächtzt der Lebens-Fürst,

Der, so hefftig ihn auch dürst,

Kaum kan, seinen Geist zu laben,

Eine Hand voll Eßig haben.


3.

Laß dich dieses doch bewegen,

Fleuch der Wollust Rosenthal,

Wann sich Fleisch und Blut will regen,

So bedencke seine Quaal.

Wie die Nägel scharff gespitzt

Ihm so Hand als Fuß durchritzt,[269]

Wie die Dörner den zerstochen,

Der nichts straffbares verbrochen.


4.

Schaue, was vor Striem und Strahlen

Findet man um Stirn und Haupt:

Muß der Heyland selbst bezahlen,

Was er niemahls hat geraubt;

O! wie wird es dir ergehn?

Was hast du nun auszustehn,

Wenn die Rache dich läst kommen,

Die dein Schuld-Buch vorgenommen.


5.

Doch verbanne Furcht und Zweifel,

Denn die Schuld ist abgethan,

So daß Rache, Tod, und Teufel

Sich an dir nicht kühlen kan.

Sein geheilgtes Blut und Göscht,

Hat die Handschrifft ausgelöscht,

Die dereinst nach deinen Tode

Mit dem ewgen Kercker drohte.

Quelle:
Christiane Mariane von Ziegler: Versuch In Gebundener Schreib-Art, Leipzig 1728, S. 265-270.
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