Anthropogeographie

[235] Anthropogeographie. Während noch bis in das vorige Jahrhundert die Geographie entweder als bloßes Anhängsel der angewandten Mathematik oder aber als trockener statistischer Notizenkram aufgefaßt ward, begründete zu Anfang unsers Jahrhunderts Karl Ritter eine neue wissenschaftliche Richtung, deren Endzweck es war, den Menschen selbst zum Mittelpunkte der geographischen Forschung zu erheben, und zu untersuchen, in welcher Weise Völkerleben und Völkergeschichte durch die geographischen Bedingungen, an die der einzelne Mensch wie die Gesamtheit vieler Menschen gebunden ist, beeinflußt werden. Man kann die so bestimmte Disziplin wohl auch als Kulturgeographie charakterisieren; den Namen Anthropogeographie, der jedenfalls als ein bezeichnender anerkannt werden muß, schuf Friedr. Ratzel, nachdem jedoch [235] schon früher Krause [1] eine »anthropologische Geographie« als besonderen Zweig der Erdkunde anerkannt wissen wollte.

Nach Ratzel [2], der den jungen Wissenszweig auch selbst eifrig und erfolgreich bearbeitet hat, umfaßt derselbe zwei Hauptabteilungen; die eine beschäftigt sich mit der »Lehre von den Faktoren der geographischen Verbreitung der Menschen und ihrer Werke«, die andre mit der »Lehre von der geographischen Verteilung, Form, Größe der Völker und ihrer Staaten«. Als ein Grenzgebiet der Anthropogeographie gegen die politisch-wirtschaftliche Geographie ist die Staatenkunde, als Grenzgebiet gegen die Geschichte ist die Völkerkunde anzusehen. So wird denn also untersucht, von welcher Bedeutung die Lage und Gestalt der menschlichen Wohnsitze ist (Kontinente, Halbinseln, Inseln, Gebirgsformen, Ebenen, Steppen, Wüsten), wie sich die Küsten vom Innenlande unterscheiden, wie Ströme hier trennend, dort vereinigend wirken, wie nicht minder auch vom Klima und der umgebenden organischen Natur gar vieles abhängt, wie sich die Dichte der Bevölkerung nach gewissen Gesetzen richtet, wie sich Wohnplätze unter gewissen natürlichen Voraussetzungen herausbilden, wie die Verkehrswege den örtlichen und zeitlichen Verhältnissen sich anpassen, wie endlich für das räumlich distante Auftreten zusammengehöriger Volksstämme die Kennzeichen aufzufinden sind. Ratzels Definition und Methode haben begeisterte Anhänger und entschiedene Gegner gefunden; unter allen Umständen ist dadurch ein bedeutsames Ferment in die Wissenschaft hineingetragen worden [3]. Die neue Auflage seines Werkes, die Ratzel späterhin erscheinen ließ [4], führt die von ihm aufgehellten Grundsätze noch weiter aus, indem insbesondere die Beziehungen der jungen Disziplin zu Bevölkerungslehre, Ethnologie und Soziologie nach verschiedenen Seiten hin der Untersuchung unterstellt werden. Die Bestimmung des Verhältnisses der Anthropogeographie zur Völkerkunde sucht man in neuester Zeit immer präziser zu gestalten (5). Durch Ratzels [6] schärfere Definition der »politischen« Geographie, einer für den Nationalökonomen und fortgeschrittenen Techniker große Bedeutung gewinnenden Disziplin, hat die Anthropogeographie eine nicht zu unterschätzende Konzentration erlangt.


Literatur: Krause, K.C.F., Aphorismen zur geschichtswissenschaftlichen Erdkunde, herausgegeben von Vetter, Berlin 1894, S. 4 ff. – [2] Anthropogeographie, Stuttgart 1882, Bd. 1; Bd. 2, ebend. 1892. – [3] Wagner, H., Geographisches Jahrbuch, Gotha 1883, Bd. 9, S. 695 ff.; Gerland, G., Beiträge zur Geophysik, Stuttgart 1897, Bd. 1, S. 31 ff. – [4] Anthropogeographie, 1. Teil, 2. Aufl., Stuttgart 1899. – [5] Günther, Ziele, Richtpunkte und Methoden der modernen Völkerkunde, Stuttgart 1904. – [6] Politische Geographie, München 1897.

Günther.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 1 Stuttgart, Leipzig 1904., S. 235-236.
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