1. Die Speckseite im rothen Thurme.

[5] Der Reisende, welcher sonst aus dem innern Deutschland sich der Kaiserstadt näherte, betrat sie durch dasjenige Thor, welches der rothe Thurm hieß. Dieser Thurm an sich war schon merkwürdig durch die an ihm angebrachte Steinbildnerei, die zum Träger einer Sage geworden. Man erblickte an ihm zwei steinerne Statuen, deren eine Herzog Leopold den Fünften von Oesterreich darstellte, die zweite[5] aber den vom Erstgenannten gefangen gehaltenen König von England, Richard Löwenherz, und es soll von dem Lösegelde des gefangenen Königs eben dieser Thurm erbaut worden seyn. Inwendig aber am Thorgewölbe hing eine Speckseite, von der wird Folgendes erzählt.

Man sagte sonst allgemein den guten Wienern nach, daß bei ihnen und über sie die Weiber das Regiment hätten und die Männer vor ihnen in beständiger Furcht lebten. Diesen Spott nahmen sich die Männer endlich dermaßen zu Herzen, daß sie sich darüber bei ihrer Obrigkeit beklagten und beschwerten, und um Abhülfe baten, da es doch gar nicht auszuhalten sey, in Aller Munde für Feiglinge und Leute zu gelten, die unterm Pantoffel. Da ließ der Magistrat eine rohe Speckseite unter das Thorgewölbe des rothen Thurmes hängen und zwei große Schrifttafeln daneben, auf welchen deutlich zu lesen war:


Befind't sich irgend hier ein Mann,

Der mit der Wahrheit sprechen kann,

Daß ihm sein' Heirath nicht gerauen

Und fürcht sich nicht vor seiner Frauen,

Der mag diesen Backen1 herunter hauen.


und:


Welche Frau den Mann oft rauft und schlägt,

Und ihn mit kalter Lauge zwägt2,

Der soll den Backen lassen henken,

Ihr ist ein andrer Kirch-Tag3 zu schenken.
[6]

Auch wurde durch die ganze Stadt Wien ausgerufen, daß dieses Zeichen aufgehangen sey, und jedermänniglich aufgefordert, sein Hausregiment zu documentiren, allein – die Männer schwiegen still und duckten, nach wie vor, – den Backen keiner holen will, er blieb im rothen Thor.

Endlich kam ein kecker, junger Ehemann, der sich einbildete, weil noch die Flitterwochen, und das Weiblein ihm aus Liebe Alles zu Liebe that, er sey ein rechter Hausherr, erbot sich demnach kecklich, die Speckseite herunterzuholen, nahm eine Leiter, rief viele Zeugen und klomm im Thorgewölbe empor. Da es aber gerade ein heißer Sommertag war und die Speckseite was weniges triefte, so stieg er rasch wieder von der Leiter und zog den saubern neuen Rock aus, den er trug. Auf Befragen, warum er denn seinen Rock ausziehe? antwortete er:

»Ei, ich will den Rock erst ausziehen, denn wenn ich ihn unsauber mache und heimkomme, so werde ich von meiner Frau übel gescholten.«

Da lachten alle Zuschauer laut auf, sahen, daß er ein Aufschneider und ein Pantoffelritter war, zogen ihn mit einigen trockenen Rippenstößen von der Leiter hinweg und litten nicht, daß er den Backen hole. Dieser blieb nachher noch ein Paar hundert Jahre hängen, wurde als ein Wahrzeichen gezeigt, darnach kein Wiener Mann Verlangen trüge, und kam hinweg, als im Jahr 1776 der rothe Thurm abgetragen wurde.

1

Backen, das halbe Hinterviertel, Schinken vom Hintertheil.

2

Zwägt, den Kopf wäscht.

3

Hochzeittag.

Quelle:
Bechstein, Ludwig: Die Volkssagen, Mährchen und Legenden des Kaiserstaates Oesterreich. 1. Band, Leipzig: B. Polet, 1840, S. 5-7.
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