Die drei Blinden.

[64] Es war einmal ein armer Mann, welcher das Gelübde that: »Wenn ich einmal viel Geld erhalten sollte,[64] werde ich zwei Teile machen; den einen werde ich den Armen geben, den andern für mich behalten.«

Er bekam Arbeit, verdiente acht Rupien und ging hin und gab vier Rupien einem Bettler und sagte ihm: »Ich habe ein Gelübde abgelegt, wenn ich zu Geld kommen sollte, würde ich es teilen und einen Teil einem Bettler geben.« Der blinde Bettler sagte darauf: »So gieb mir, was mir zukommt.« Als er es ihm hinreichte, ergriff der Bettler seine Hand und schrie und sagte: »Giebt's keine Obrigkeit hier in der Stadt? Dieser hat mir mein Geld gestohlen!« Da näherten sich Soldaten und ergriffen jenen jungen Mann und sagten ihm: »Schämst Du Dich nicht, einen Armen Gottes zu berauben?« Er sagte: »Ich habe ihn nicht beraubt.« Der Bettler erwiderte: »Das ist gelogen, er hat mir mein ganzes Geld, acht Rupien, gestohlen.« Und sie banden den jungen Mann und schlugen ihn sehr; er blieb jedoch dabei: »Ich habe ihn nicht bestohlen, Ihr straft mich ohne Grund.« Alsdann wurde er losgelassen und ging seiner Wege.

Der Bettler ging gleichfalls weg und der Jüngling folgte ihm, um zu wissen, wo dieser wohne. Plötzlich stand der Bettler still, öffnete die Thüre und ging hinein. Der junge Mann trat hinter ihm ein. Dann schloss der Bettler die Thüre zu und ging ins Zimmer; der junge Mann folgte ihm. Und er sah, wie der Bettler die Erde aufgrub und einen Topf mit Geld hervorholte und hundert Realen zusammenzählte. Alsdann vergrub er sein Geld wieder an derselben Stelle und scharrte das Loch zu.1[65]

Kurz darauf holte es der junge Mann wieder heraus, öffnete beide Thüren und rief dem Bettler zu: »Mein Geld habe ich mir selbst wiedergeholt.« Den Topf warf er ihm ins Gesicht. Da heulte der Bettler und machte grosses Geschrei in der Stadt. Die Leute hörten auf ihn und fragten: »Was hast Du denn, Bettler?« Er sagte: »Man hat mir mein Geld gestohlen, hundert Realen.« Sie aber sagten ihm: »Du Lügner, wenn Du Geld gehabt hättest, so würdest Du nicht gebettelt haben«; und sie hielten ihn für verrückt. Er aber weinte den ganzen Tag.

Am nächsten Morgen ging der Bettler wieder dorthin, wo die Armen zu betteln pflegten, und setzte sich hin. Der junge Mann war hinter ihm hergekommen und setzte sich neben ihn. Der Bettler erzählte nun seinen Freunden, dass ihm sein Geld gestohlen worden sei. »So erkläre uns, wie dies gekommen ist!« Und er sagte: »Ein Mann legte das Gelübde ab, wenn er zu Geld kommen sollte, einen Teil den Armen zu geben. Er bekam eines Tages acht Rupien und gab mir vier davon. Ich ergriff ihn bei der Hand, schlug Lärm und sagte, er habe mein Geld gestohlen. Da kam die Polizei, ergriff ihn und schlug ihn. So trug sich dies zu.«

Und sie sagten zu ihm: »Du bist ein Dummkopf, dein Geld zu vergraben; wenn Dein Haus in Flammen aufgehen würde, wie wolltest Du, der Du doch blind bist, dein Geld herausholen?« Der eine seiner Gefährten sprach weiter: »Ich habe mein Geld in meinem Stock versteckt.« Der junge Mann hörte das und behielt ihn im Auge.

Gegen Abend folgte er ihm bis zu seinem Hause und sie traten beide in's Haus ein. Dann setzte sich[66] der Bettler, holte seinen Stock hervor, legte ihn in den Arm und schlief ein. Der junge Mann öffnete zunächst leise die Thüre, zog den Stock hervor und machte sich schleunigst davon.

Als der Bettler aufwachte, schlug er Lärm und sagte: »Ein Dieb ist gekommen und hat mich bestohlen.« Es kamen viele Leute und fragten: »Was hast Du, Bettler? Du schreist wohl wieder ohne jeden Grund?« Er sagte: »Man hat mir mein Geld gestohlen, zweihundert Realen.« Sie aber sagten alle: »Du Lügner, wenn Du Geld gehabt hättest, würdest Du nicht gebettelt haben; man ist schon gewöhnt an Euch, dass Ihr um nichts Lärm schlagt; neulich erst hat ein Bettler mit seinen Lügen Skandal geschlagen.« Der Bettler weinte sehr.

Am nächsten Morgen ging er dorthin, wo die Bettler zu sitzen pflegen und traf einen älteren Freund, dem er alles, was ihm widerfahren war, mitteilte. Dieser lachte und sagte: »Ihr seid alle beide Dummköpfe.« Jener junge Mann aber war ihnen wieder gefolgt, hatte sich neben sie gesetzt und hörte jedes Wort, das sie sprachen. »Du bist ein Dummkopf, Du bist blind und gehst hin und versteckst Dein Geld in einen Stock. Nun ist es Dir geraubt worden und Du hast obendrein selbst noch Schläge bekommen. Ich trage mein Geld in einem Beutel auf dem Körper und darüber ziehe ich Hemd und Oberhemd an, damit es mir nicht gestohlen werde. Auch schlafe ich in der Moschee. Erst wenn alle dieselbe verlassen haben und es ganz Nacht geworden, lege ich mein Oberhemd ab.«

Der junge Mann hatte alles angehört; und er ging nach Hause und sagte zu seiner Mutter: »Backe mir ein Brot und thue viel Pfeffer hinein.« Er blieb zu[67] Hause bis zum Abend, dann spielte er selbst den Blinden, zog sich die Kleider eines Bettlers an, ging zur Moschee und sagte: »Ich bin ein Armer, ich möchte einen Platz zum Schlafen!« Der Blinde sagte ihm: »Schlafe hier.« Und er gab dem Bettler von seinem Brode, das soviel Pfeffer enthielt; und er ass. Doch bald wurde ihm zu warm, und da er mit den Kleidern nicht schlafen konnte, dachte er bei sich: »Ich werde warten, bis dieser eingeschlafen ist, dann gehe ich hin und bade.«

Der junge Mann that, als ob er schliefe. Der Bettler rief ihn dreimal, jedoch antwortete er nicht und er sagte bei sich: »Er ist fest eingeschlafen.« Dann stand er leise auf, ging zum Wasserbehälter, zog sein Oberhemd und die Unterkleider aus, legte die Geldtasche bei Seite und liess das Badewasser heraus. Der junge Mann war ihm gefolgt, nahm die Geldtasche an sich, ging hinaus und verschwand.

Als der Bettler nachher herumtastete und sein Geld nicht fand, schlug er grossen Lärm und die Leute kamen und sagten: »Seid Ihr Bettler denn verrückt geworden, macht Ihr wieder ohne Grund Skandal?« Er erwiderte: »Mein ganzes Geld ist mir gestohlen worden!« »Du Lügner Du, würdest Du betteln, wenn Du überhaupt Geld hättest?«

Dann schlief er bis zum Morgen und erzählte seinen Freunden alles, was ihm in der Nacht passiert war, und sagte: »Jetzt lasst uns hingehen und beim Sultan stehlen!« Das hatte der junge Mann wieder gehört und er wartete bis zum Abend. Und sie gingen hin und stahlen drei Geldsäcke und schleppten sie bis zum Kirchhofe am Walde; da setzten sie sich nieder. Der junge Mann war ihnen gefolgt. Der erste sagte nun: »Teile Du!«[68] »Nein, teile Du«, sagte der andere; so stritten sie hin und her. Schliesslich schlich sich der junge Mann heran, nahm alle Geldsäcke weg und versteckte sie.

Nachdem der Wortstreit beendet war, tasteten sie nach ihren Geldsäcken, fanden jedoch nichts. Und sie verdächtigten einander und hielten den ersteren für den Dieb und sagten: »Du bist ein ganz schlechter Geselle, Du hast uns um unser ganzes Geld gebracht!« Und sie schlugen ihn mit ihren langen Stöcken und er wehrte sich. Sie verfolgten ihn bis zur Stadt und hätten ihn beinahe totgeschlagen, jedoch entkam er.

Er verlief sich und geriet in ein Flussbett; und in dem Flusse war viel Wasser. Da kam ein Araber mit seiner Frau und seinem Sklaven und drei Pferden vorbei und sie fanden den Bettler weinend und fragten ihn: »Warum weinst Du?« Er sagte: »Ich weine vor Hunger, seit sieben Tagen habe ich nichts gegessen.« Sie gaben ihm Brot und Wasser und er ass. Alsdann fragte er sie: »Wo geht Ihr hin? Nehmt mich doch mit!« Sie sagten: »Wir ziehen nach Hause.« Er bat nochmals: »Nehmt mich doch mit.« Die Frau sagte jedoch zu ihrem Manne: »Nimm ihn nicht mit, denn ein Bettler taugt nichts, er verdient kein Vertrauen.« Darauf sagte ihr Mann: »Das ist schlecht von Dir, dieser Aermste steckt hier im Flussbett, er weiss weder vor noch rückwärts.« Und er setzte ihn auf ein Pferd und brachte ihn bis zur nächsten grossen Stadt eines Sultans.

Sie langten dort in einem Hause an und liessen sich nieder. Der Bettler fragte: »Ist das Haus des Sultans in der Nähe?« Sie antworteten: »Es ist hier nahebei.« »Dann führt mich zum Sultan.« Und die Kinder brachten ihn bis zum Hause des Sultans. Als er vor demselben ankam, fiel er nieder und heulte sehr.[69] Der Sultan kam heraus und fragte: »Warum weinst Du?« »Meine Frau, mein Teuerstes, ist mir gestohlen worden und mein Sklave und mein Geld obendrein, ich bitte, dass die Polizei hingehe und den Dieb ergreife.« Und die Soldaten gingen hin, ergriffen den Araber und führten ihn vor den Sultan. Dieser fragte: »Warum hast Du diesem seine Frau weggenommen?« Er bestritt dies jedoch und sagte: »Ich habe ihm seine Frau nicht geraubt, ich traf ihn dort am Flusse und nahm ihn aus Mitleid mit.« »Es ist nicht wahr, Herr«, sagte der Bettler, »er hat mir meine Frau geraubt.«

Darauf wurden alle vier festgenommen. Der Bettler wurde im Eselstall, der Araber im Rinderstall, die Frau im Ziegenstall und der Sklave im Schafstall untergebracht. Nachts schickte der Sultan in jeden Stall drei Soldaten hinein, um sie belauschen zu lassen.

Als es Nacht geworden, sagte die Frau: »Ich habe es meinem Manne doch gesagt, der Bettler taugt nichts, nimm ihn nicht mit; er widersprach mir jedoch und so sind wir nun ohne Grund festgenommen.« Der Sklave sagte: »Mein Herr war doch sehr eigensinnig, meine Herrin sagte ihm, nimm den Bettler nicht mit, er bestand jedoch darauf und nahm ihn mit, und jetzt sitzen wir unschuldig hier.« Der Bettler sprach ganz laut: »Mögen die Esel mich auch beschmieren und mir Fusstritte geben, morgen werde ich eine Frau bekommen.« Die Soldaten hörten jedes Wort, das gesprochen wurde.

Als die Zeit der Gerichtssitzung nahte, wurden die Soldaten alle herbeigerufen und ihnen gesagt: »Erkläret uns alles, was Ihr gehört habt!« Und sie erzählten, was die drei Leute gesagt hatten. Darauf wurde die Frau gefragt: »Ist jener Bettler Dein Mann?« Sie bestritt das und sagte: »Wir haben ihn am Flusse angetroffen.«[70] Dann wurde der Bettler ergriffen, gebunden und geschlagen, bis er zugab: »Es ist nicht meine Frau.«

Jener Araber aber durfte mit seiner Frau weiterziehen und der Sultan beschenkte ihn und sagte: »Verzeih mir, dass ich Dir Unrecht gethan, beunruhige Dich nicht zu sehr, dieser Bettler ist ein Lügner.« Er erwiderte: »Ich bin nun zufrieden.« Darauf machten sie sich auf und gingen ihrer Wege. Der Bettler blieb in der Stadt und bettelte wie zuvor.

1

Grössere Summen verwahren die Suaheli meist auf diese Weise.

Quelle:
Velten, C[arl]: Märchen und Erzählungen der Suaheli. Stuttgart/Berlin: W. Spemann, 1898, S. 64-71.
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