Die Sage von den wunderbaren Hörnern

Die Sage von den wunderbaren Hörnern.1
Ein Hottentottenmärchen.

[20] Es war einmal ein kleiner Knabe, dessen rechte Mutter war gestorben, und die anderen Weiber seines Vaters mißhandelten ihn. Deshalb entschloß er sich, seines Vaters Kraal zu verlassen. Eines Morgens setzte er sich auf den Ochsen, den sein Vater ihm geschenkt hatte, und ließ sich von ihm weiter landeinwärts tragen, ohne zu wissen, wohin er kommen würde. Als er mehrere Tagereisen von seinem väterlichen Dorfe entfernt war, traf er eine Vieherde, bei der war ein Bulle.

Der Ochse sprach: »Ich werde mit dem Bullen kämpfen und ihn toten.«

Da stieg der Knabe ab. Der Ochse und der Bulle kämpften miteinander, und es geschah, wie der Ochse gesagt hatte. Der Knabe ritt nun weiter, und als er hungrig war, schlug er mit der flachen Hand an das rechte Horn seines Ochsen; dasselbe öffnete sich und gab dem Knaben Speise. Nachdem er genug gegessen hatte und satt war, schlug er an das linke Horn. Es öffnete sich und verschlang[21] den Rest der Speise. Bald darauf sah der Knabe eine dunkelfarbige Viehherde in der Entfernung.

»Steige hier ab von meinem Rücken,« sprach der Ochse, »ich werde zu der Herde laufen; dort muß ich kämpfen und werde sterben. Brich mir meine beiden Hörner ab und nimm sie mit dir. Wenn du hungrig bist, so sprich zu ihnen; sie werden dich mit Nahrung versorgen.«

Wie der Ochse gesagt hatte, so geschah es. Er kämpfte und wurde getötet. Der Knabe nahm die Hörner und wanderte weiter.

Bald kam er in ein Dorf, in dem hatten die Leute nur wenig zu essen; denn es war eine Zeit großer Trockenheit.

Er ging in eine der Hütten des Dorfes, und mit Hilfe der Hörner hatte er genug Speise für den Besitzer dieser Hütte und sich selber.

Als er nun in der Nacht fest schlief, nahm ihm der, mit dem er sein Mahl geteilt hatte, die Hörner fort und legte statt ihrer andere auf den Platz, an dem sie gelegen hatten.

Der Knabe, der von dem Betruge nichts ahnte, stand am nächsten Morgen zeitig auf und zog weiter seines Weges.

Als er aber hungrig wurde und vergeblich zu den Hörnern sprach, merkte er, was geschehen war, und ging zurück zu dem Ort, an dem er geschlafen hatte. Ehe er noch die Hütte betrat, hörte er den Dieb seiner Hörner mit diesen reden; aber vergeblich.

Der Knabe nahm seine Hörner und schritt weiter. Am Abend kam er an eine Hütte. Er klopfte an und bat, die Nacht über dort bleiben zu dürfen. Aber man gewährte ihm seine Bitte nicht; denn sein Lenden-und[22] Schultertuch war zerfetzt und sein Körper bestaubt und schmutzig.

So zog er denn weiter und kam zu einem Fluß, in welchem er badete. Dann sprach er zu seinen Hörnern. Diese versorgten ihn mit neuen Tüchern und reichem Perlenschmuck und Halsketten aus den Zähnen wilder Tiere.

Nachdem er sich geschmückt hatte, ging er weiter und kam zu einer Hütte, in welcher ein sehr schönes Mädchen mit ihrem Vater und ihrer Mutter lebte. Man empfing ihn mit großer Freude, und er blieb dort. Seine Hörner gaben reichlich Speise, Trank und Kleidung für alle.

Kurze Zeit darauf heiratete er das schöne Mädchen und zog mit seinem jungen Weibe heim zu seinem Vater.

Wiederum sprach er zu den Hörnern, und sie beschenkten ihn mit einem schönen, großen Hause; in das zog er mit seiner Frau und war glücklich mit ihr.

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In der Sage von den »wunderbaren Hörnern« finden wir seltsame Anklänge an unser deutsches Märchen vom »Tischlein deck' dich«, wie überhaupt die Sagen aller Völker ganz seltsam gleichartige Grundideen haben. Überall finden wir sprechende Tiere, überall die Vorliebe für Rang, Stand und Reichtum.

Quelle:
Held, T. von: Märchen und Sagen der afrikanischen Neger. Jena: K.W. Schmidts Verlagsbuchhandlung, 1904, S. 20-23.
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