Warum der Mensch stirbt

Warum der Mensch stirbt.1
Eine Sage von der Goldküste.

[97] Der erste Mensch auf Erden war unsterblich; es war ein Weib. Der große Geist aber sah, daß es nicht gut war, das Weib allein zu lassen; deshalb schuf er den Mann. Da fingen die Menschen an sich zu vermehren, aber nicht genug, um die Erde zu füllen! – Da sandte der große Geist das Schaf zu ihnen und ließ ihnen sagen:

»Die Menschen werden sterben, aber sie werden wiederkehren.« Das Schaf machte sich auf den Weg; als es aber an fetten Weiden vorbeikam, fing es an, auf ihnen zu grasen und verweilte sich und vergaß seine Botschaft.

Die Menschen vermehrten sich mehr und mehr; aber da sie unsterblich waren, fing es an, ihnen auf der Erde an Raum zu mangeln.

»Wenn wir unsterblich sind,« sagten sie, »so wer den unserer bald zu viele sein.«

Da sandte der große Geist die Ziege und befahl ihr, den Menschen zu sagen:

»Wenn der Mensch stirbt, wird er tot sein für immer.«

Eilig legte die Ziege ihren weg zurück, während das Schaf noch immer graste.[98]

»Wenn der Mensch stirbt, wird er tot sein für immer,« rief sie den Menschen zu.

Da endlich traf das Schaf ein; – aber seine Botschaft kam zu spät.

Wäre das Schaf schnell gewesen und vor der Ziege gekommen, so würde der Mensch vom Tode wiederkehren; nun aber muß er sterben.

1

Wie es kommt, daß die Nase des Hasen gespalten ist (Hottentotten); Warum es gut ist, daß die Menschen sterben (Sage vom Viktoriasee); Sage vom Chamäleon (Haussastamm); Warum der Mensch stirbt (Goldküste); Wie der Tod in die Welt kam (Zulu) sind alles Sagen des gleichen Inhaltes in mehr oder minder veränderter Form. Eine wunderbare Gleichheit der Mythologie der Bantuvölker in dem weiten afrikanischen Gebiet ist in diesen Sagen enthalten, in allen liegt der tiefe Gedanke an die Vergänglichkeit alles Bestehenden.

Quelle:
Held, T. von: Märchen und Sagen der afrikanischen Neger. Jena: K.W. Schmidts Verlagsbuchhandlung, 1904, S. 97-99.
Lizenz:
Kategorien: