Die Sage vom Chamäleon.1
Eine Geschichte des Haussastammes im Innern Afrikas.

[96] Der große Geist sandte einst das Chamäleon zu den Menschen.

»Sage ihnen,« sprach er, »wenn ein Mensch stirbt, so soll man ihn mit Brot berühren, damit er wieder lebe.«

Diese Worte hatte die Eidechse gehört; eilig lief sie zu den Menschen und sagte zu ihnen:

»Wenn ein Mensch stirbt, so sollt ihr ihn begraben.«

Auch das Chamäleon machte sich auf den Weg, schmückte sich mit bunten Farben und ging langsam zu den Menschen.

Der große Geist sagt zu euch: »Wenn ein Mensch stirbt, so sollt ihr ihn mit Brot berühren, damit er wieder lebe.«

Die Menschen aber schüttelten den Kopf und sagten:

»Was zuerst gesagt ist, muß gelten; wir glauben dir nicht.«

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Wie es kommt, daß die Nase des Hasen gespalten ist (Hottentotten); Warum es gut ist, daß die Menschen sterben (Sage vom Viktoriasee); Sage vom Chamäleon (Haussastamm); Warum der Mensch stirbt (Goldküste); Wie der Tod in die Welt kam (Zulu) sind alles Sagen des gleichen Inhaltes in mehr oder minder veränderter Form. Eine wunderbare Gleichheit der Mythologie der Bantuvölker in dem weiten afrikanischen Gebiet ist in diesen Sagen enthalten, in allen liegt der tiefe Gedanke an die Vergänglichkeit alles Bestehenden.

Quelle:
Held, T. von: Märchen und Sagen der afrikanischen Neger. Jena: K.W. Schmidts Verlagsbuchhandlung, 1904, S. 97.
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