5. Der Zauberer und sein Schüler.

[108] Es war einmal ein König, der war verheiratet, hatte aber keine Kinder. Da kam ein Zauberer1 zu ihm und sprach zu ihm: »Ich will machen, dass du Kinder bekommst, aber unter der Bedingung, dass du mir deinen ersten Sohn schenkst«. Und der König war schliesslich gezwungen auf diese Bedingung einzugehen und gab ihm sein Wort. Nach einiger Zeit wurde die Königin schwanger und gebar einen Knaben. Nach kurzer Zeit wurde sie zum zweiten Mal schwanger; und sieh, da kam der Zauberer und forderte von dem Könige den älteren Sohn, nach dem Vertrage, den sie geschlossen hatten. Und der König, er mochte wollen oder nicht, musste ihm endlich den Knaben geben. Der Zauberer nahm ihn und brachte ihn in sein Haus, welches neun und neunzig Zimmer hatte; er gab ihm die Schlüssel von allen Zimmern, ausser dem vom neun und neunzigsten, indem er ihm streng einschärfte dasselbe unter keinem Vorwande jemals zu öffnen. Er gewann den Knaben lieb und lehrte ihn auch einige Wissenschaften. Der Zauberer hatte die Gewohnheit, vier und zwanzig Stunden zu schlafen, vier und zwanzig Stunden wach zu sein, in vier und zwanzig Stunden einmal zu essen; und auch seine übrigen[108] Geschäfte betrieb er nach diesem Masse. In jenem Zimmer nun hatte er von allen lebendigen Dingen, die es auf Erden gibt, zum Beispiel Weidevieh, Vögel und so weiter. Wie nun der Knabe alle Zimmer öffnete, wenn er wollte, ausgenommen dieses (wie wir oben gesagt haben), so überlegte er eines Tages und sprach bei sich selber: »Ich will auch dies Zimmer öffnen, um zu sehen, was er darin hat«, und öffnete es. Als er sah, dass der Zauberer da drin schlief, und dass in dem Augenblicke, wo die Thür geöffnet wurde, die darin befindlichen Thiere zu schreien und zu lärmen begannen, erschrak er. Aber der Zauberer wachte trotz all dem Geschrei nicht auf, weil die vier und zwanzig Stunden noch nicht voll waren. Unter den Thieren, die er dort hatte, waren auch drei Stuten und drei Hunde, denen man das Futter verkehrt hingeworfen hatte: den Stuten Knochen und den Hunden Heu. Als der Knabe diese verkehrte Gebahrung sah, trat er hinzu und tauschte ihnen das Futter um. Hierauf erwachte der Zauberer und stürzte auf den Knaben los, um ihn zu ergreifen und zu tödten. Aber dieser nahm – so hatten es ihm die Stuten angegeben – ein Waschbecken mit Waschkanne, ein Stück Salz, einen Kamm, dazu auch die Stuten, und floh. Der Zauberer setzte ihm nach und verfolgte ihn schnell, und beinahe hätte er ihn erreicht; als aber der Knabe sah, dass jener näher kam, warf er, wie ihn die Stute gelehrt, das Stück Salz hinter sich, und sogleich entstand vor dem Zauberer ein hoher Berg. Bis er über diesen hinweg kam, wurde er genügend aufgehalten; und so blieb [eine Zeit lang] der Zauberer auf der einen Seite des Berges und der Knabe auf der andern, in ziemlicher Entfernung von einander. Trotz alledem aber kam der Zauberer, ihn eilig verfolgend, wieder näher; diesmal warf der Knabe den Kamm hinter sich, und sogleich entstand vor dem Zauberer ein Wald mit vielen Bäumen. Obgleich ihn dieser wieder eine Weile aufhielt, kam er doch schliesslich hindurch und dem Knaben wieder nahe. Nun warf dieser das Waschbecken und die Waschkanne hin, und es entstand vor dem Zauberer ein grosses Meer. Der Zauberer stieg ins Wasser und gieng bis zu einer Stelle, die sehr tief war; als er aber sah, dass der Knabe die Grenze überschritten hatte und zu[109] einem Puncte gekommen war, wo er keine Macht mehr hatte ihm zu schaden, kehrte er wieder um, und der Knabe entkam.


Vgl. zunächst Hahn Nr. 68 und Nr. 45.2 Andere zu vergleichende M.s. in meiner Anm. zu einem italienischen M. im Jahrb. für roman. u. engl. Litteratur VIII, 256, in Cosquins Anm. zu seinen Contes pop. lorrains Nr. 12 (Romania VII, 216 u. IX, 418) und in Wollners Anm. zu Brugmans litauischen M. Nr. 9. Ausserdem vgl. noch V. Pogatschnigg, Märchen aus Kärnten, Nr. 9), in der Carinthia 1865, S. 438 (kinderloser Kaufmann; Sohn dem Teufel versprochen; verbotener Stall; Esel hat Fleisch, Bär Heu vor sich; auf der Flucht auswerfen von einem Tuch, einer Peitsche, einem Kampel, die zu Eisfeld, Wald, gläsernem Berg werden); Prym und Socin, Syrische M., Nr. 58 (kinderlose Leute; Sohn einem Dämon versprochen; in einem Zimmer ein Pferd und ein Löwe, vor ersterem Fleisch, vor letzterem Gras); Finamore, Tradizioni popolari abruzzesi, I, Nr. 18 (kinderloser König; Sohn dem Teufel versprochen; verbotenes Fenster, welches in die Hölle sieht; verbotener Kasten, worin Sieb, Seife, Kamm, die auf der Flucht gebraucht werden; verbotener Stall, worin ein Pferd, auf dem der Königssohn entflieht).

R.K.

1

miék, gewöhnlich »Arzt«, aus lt. medicus.

2

Von ersterem ist die erste Hälfte (S. 33–36), von letzterem der mittlere Theil zu vergleichen.

Quelle:
Meyer, Gustav: Albanische Märchen. In: Archiv für Litteraturgeschichte, 12 (1884), S. 108-110.
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