4. Der zerschnittene Fisch.

[105] Es war einmal ein Fischer, der hatte eine Frau. Eines Tages sagte die Frau zu ihm: »Lieber Mann, du verkaufst immerfort Fische, willst du nicht auch einmal einen für uns bringen?« Am andern Tage gieng er hin, um für zu Hause etwas zu fangen, und als er sein Netz ins Wasser warf, fieng er einen schönen Fisch. Aber dieser Fisch sprach zu dem Fischer: »Störe mich nicht, denn ich bin dein Schicksal, sondern lass mich frei und komm morgen wieder, um einen andern zu fangen, der für dich sein soll«. Da liess jener den Fisch frei und gieng leer nach Hause, wo die Frau bereits eine Bratpfanne aufs Feuer gesetzt hatte und auf den Fisch wartete. Die Frau fragte ihn: »Warum hast du keinen Fisch[105] gebracht, Mann?«, und er sagte ihr: »So und so ist es mir gegangen, Frau«.

Am folgenden Tage gieng er wieder hin und fieng einen grossen Fisch, welcher zu ihm sprach: »Du hast mich zu deinem Glücke gefangen; schneid mich in acht Stücke, zwei davon stecke bei deiner Thür in die Erde, zwei wirf deiner Stute vor, zwei deiner Hündin, und zwei gib deiner Frau«. Als er nach Hause gekommen war, theilte er den Fisch wirklich so, wie dieser ihn geheissen hatte. Und ohne dass er etwas wusste, sprossten bei der Thür zwei Cypressen hervor, die Stute warf zwei unvergleichlich schöne Zuchthengste, die Hündin zwei wunderbare Löwen, und die Frau gebar zwei starke und sehr schöne Knaben.

In einem Orte dort in der Nähe wohnte die schöne der Erde. Als der ältere Sohn des Fischers dies erfuhr, verlangte er so sehr nach ihr, dass er das Gelübde that, hinzugehen und sie zur Frau zu nehmen. Der Vater des Jünglings und die Mutter bemühten sich auf alle Weise ihn davon abzubringen, sie stellten ihm alles vor, auch die Gefahr für seinen Kopf, den er sicher verlieren würde, wenn er hingienge, aber er liess sich nicht überreden. Endlich sagte ihnen der Jüngling, wenn seine Cypresse zu verwelken und sich abwärts zu neigen begönne, dann sei er verloren. Und er machte sich auf und zog fort.

Als er in die Stadt der schönen der Erde gekommen war, gieng er mitsammt seinem Löwen grade auf das Haus derselben zu. Dort kam ihm eine alte Frau entgegen und fragte ihn: »Was willst du?« Und als er gesagt hatte: »Ich will die schöne der Erde,« machte ihn die alte mit ihrem Blicke zu Stein. Sofort verwelkte auch seine Cypresse bei seinem Vater und liess ihre Spitze1 sinken, und die armen Eltern fiengen an zu weinen, denn sie schlossen daraus, dass ihr Sohn verloren sei. Als dies der jüngere Bruder sah, rief er aus: »Ich will selbst hingehen, den Bruder zu retten und die schöne der Erde zu rauben«. Da begannen Vater und Mutter zu weinen und baten ihn immerfort, er solle sich nicht[106] verleiten lassen hinzugehen, denn es würde ihn dasselbe Schicksal treffen wie seinen Bruder. Aber trotz allem ihrem klagen wollte er ihren Bitten nicht gehorchen und machte sich auf und zog aus sammt seinem Löwen. Dem Löwen befahl er, wenn sie beim Hause der schönen der Welt angekommen wären und wenn die alte herauskäme (denn der Jüngling hatte alles erfahren, was die alte den Jünglingen anthat), solle er sie fassen, dass sie nicht Athem schöpfen könne, und sie stark würgen, bis sie entweder den Bruder lebendig machte und ihm die schöne der Erde gäbe, oder getödtet würde.

Sie kamen an der Thür derselben an, und als sie den Bruder mitsammt dem Löwen erstarrt und zu Stein geworden sahen, flossen die Thränen stromweis aus ihren Augen.2 Der Löwe packte, wie ihm befohlen war, die alte so fest und würgte sie so stark, dass sie sich nicht rühren konnte. Als sie sich nun in Bedrängniss sah, sagte sie dem Jüngling, er solle einen Wandschrank öffnen, der dort in der Nähe stand, und zwei Gläser herausnehmen, von denen das eine eine weisse, das andere eine rothe Flüssigkeit enthielte; und sie erklärte ihm, mit der weissen Flüssigkeit mache sie die Männer zu Stein und mit der rothen wieder lebendig. Sie gossen sogleich die rothe Flüssigkeit auf den Bruder und den Löwen, und sie wurden alsbald lebendig. Der Bruder wischte seine Augen aus und sagte: »Ach, wie lange habe ich geschlafen«. »Du hast nicht geschlafen,« antwortete jener, »lieber Bruder, sondern so und so –«. Gleichzeitig richtete sich auch die Cypresse zu Hause wieder auf, und die Eltern freuten sich, da sie daraus schlossen, dass ihr Sohn wieder lebendig geworden sei.


Vgl. meine Nachweise im Orient und Occident II, 118, zu Gonzenbach Nr. 39 und 40 und zu Bladé, Contes pop. rec. en Agenais, S. 148, die von Cosquin, Contes pop. lorrains Nr. 5 (Romania V, 336) und Nr. 37 (Romania VII, 563) und die von Wollner zu Brugmans Lit. M. Nr. 10 und 11 (Leskien und Brugman, Litauische Volkslieder u.M., S. 542). Ferner vgl. Pio, Contes pop. grecs, S. 60 (= Hahn Nr. 22); Mijatovics, Serbian Folk-lore, S. 256; M. Kremnitz, Rumänische M., Nr. 17; Coronedi Berti, Novelline pop. bolognesi,[107] Nr. 16 (II Propugnatore VIII, 2, 465); Visentini, Fiabe mantovane, Nr. 19; Nerucci, Novelle pop. montalesi, Nr. 8 (= Imbriani, Novellaja fiorentina, Nr. 28); Finamore, Tradizioni pop. abruzzesi, I, Nr. 22; Caballero, Cuentos, S. 27; Coolho, Contos populares portuguezes, Nr. 52; Sébillot, Contes pop. de la Haute-Bretagne, Nr. 18; Grundtvig, Danske Folkeæventyr, Nr. 8; Kamp, Danske Folkeæventyr, Nr. 13; Baltische Monatsschrift, Bd. XXIII, Riga 1874, S. 343 (drei lettische Versionen des Brüderm., mitgetheilt von A. Bielenstein). Die Gleichheit der Brüder fehlt in dem alb. M., und natürlich fehlen auch die damit zusammenhängenden Vorgänge.

Eigenthümlich dem alb. M. ist, dass der erste gefangene Fisch sagt, er sei das Schicksal des Fischers. Zu den Worten »Ach, wie lange habe ich geschlafen!« und der Antwort s. man meine Nachweise bei Schiefner, Awarische Texte, S. XV, die ich jetzt noch sehr vermehren könnte. Auch in Nr. 3 fragt der wieder zum Leben erwachte Held: »Ach, wie lange habe ich geschlafen!«, merkt aber dann gleich selbst, dass er nicht geschlafen hat.

R.K.

1

Kjáfẹn, wörtlich, »Hals«.

2

lješúan ljótet si bréšẹrẹ nka sutẹ, wörtlich: »sie liessen die Thränen wie Hagel aus den Augen«.

Quelle:
Meyer, Gustav: Albanische Märchen. In: Archiv für Litteraturgeschichte, 12 (1884), S. 105-108.
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