Zweihundertachtundzwanzigste Geschichte

[288] geschah einmal an einem köstlichen Chossid, der hat drei Söhne. Un waren alle drei Rabbonim. Un der Chossid war ein sehr reicher Mann. Wie er nun wollt sterben, so schickt er noch um alle Leute von Kohel (der Gemeinde) un um seine drei Söhne. Un sagt wider seine Söhne: »Liebe Kinder, da laß ich euch großen Reichtum, der nit zu schätzen is. Un ihr werdet eure Tag genugen dran haben. Nun hab ich einen Kasten, der is zugeschlossen. Da begehr ich von euch allen dreien, un ihr sollt mir eure Hand drauf geben, daß ihr sie nit sollt auftan, außer es wäre, Gott bewahre, notdürftig. Un wenn einer den Kasten hat, da soll der andere den Schlüssel haben.« Also schwören sie vor der ganzen Gemeinde, daß sie solches halten wollten. Also sturb der Chossid und die drei Brüder teilten das Mammon un waren alle drei gar reich. Am Ende kam der Jüngste von seinem Mammon ab, un ward gar arm, denn er war ein großer Verbringer. Un begehrt von seinen Brüdern den Kasten auf zu tan un seinen Anteil dervon zu nehmen. Die Brüder grämten sich sehr, daß sie sollen ihres Vaters Zwoe (letzten Willen) brechen. Da sprach der älteste Bruder: »Eh daß ich will meines Vaters Zwoe brechen, so will ich dir fünftausend Gulden leihen. Bezahl mir sie, oder bezahl mir sie nit.« Der jüngste Bruder ließ sich abschweigen un nahm die fünftausend Gulden. Un wie nun das Geld auch auf war, so kam er wieder un wollt den Kasten aufmachen. Da sprach der andere Bruder: »Eh ich will meines Vaters Zwoe brechen, so will ich auch tun wie mein ältester Bruder auch getan hat.« Un leiht ihm auch fünftausend Gulden. Bezahl sie mir oder bezahl sie mir nit. Nun, der jüngste Bruder ließ sich wieder abschweigen von dem andern Bruder. Da er nun das auch aufgefressen hat, so gedacht er, was er tun wollt. So ging er hin, da der Schlüssel an ihn kam, also ließ er einen Schlüssel nachmachen derwartend, daß wenn über drei Jahr der Kasten an ihn wird kommen, so könnt er draus nehmen, was er wollt. Nun, über drei Jahr kam der Kasten an ihn. So versucht[288] er den Nachschlüssel. Da war er gar hübsch gerecht, also nahm er das Geld heraus. Un so schwer Geld als er herausnahm, so schwer Steine legt er wieder dergegen, daß man nix an dem Kasten merken sollt. Un hebt an zu handeln. Un die Brüder meinten, ihr Bruder würd sich wol anlassen un würd sich weiter bedenken. Aber sie wußten das rechte Geheimnis nit, wie er über den Kasten könnt gehen. Un er freßt das Geld, das im Kasten is gewesen, in vier Jahren auf. Nach den vier Jahren, so ging er wieder zu seinen Brüdern un sagt zu ihnen, er hätt gemeint, er wollt ihrer nit mehr bedürfen; aber ich seh wol, ich hab kein Masel (Glück) un er kam um alles das er hätt. Er mußt eines tun, er wollt den Kasten teilen. Auch hätt sein Vater Zwoe getan (befohlen), wenn man, Gott bewahre, notdürftig wär, so sollt man den Kasten auftan. So wär er nun notdürftig genugen, daß er es wol von Nöten hätt. So sahen die Brüder, daß es nit anderst kann gesein. So schickten sie nach Kol hakahal (der ganzen Gemeinde) in die Schul un ließen den Kasten in die Schul tragen, un hebten an vor der ganzen Gemeinde: »Ihr seht ja, daß sie recht zugeschlossen is, wie uns unser Vater gelassen hat nach seinem Tod.« Da war die ganze Gemeinde Zeuge drauf, daß es war der rechte Kasten, nun es is leider Gottes derzu gekommen, daß wir ihn müssen teilen, »denn unser jüngster Bruder, der will es mit Gewalt haben, wiewol wir haben ihm viel Mammon gegeben«. Un sagten vor der ganzen Gemeinde, wie ihr Bruder mit ihnen gehandelt hat. Also täten sie den Kasten auf. Da fanden sie eitel Steine. Da hebt der jüngste Bruder an mit großer Aseskeit (Frechheit): »Also ihr lieben Leut, da seht, wie sie mit mir umgegangen. Derhalben haben sie den Kasten nit wollen auftan un haben mir allezeit Geld gegeben. Derhalben sind sie reich un ich bin arm geworden. Un sie haben das Geld heraus genommen un haben Steine in den Kasten gelegt.« Wiewol sie keine Schuld daran gehabt haben, denn der jüngste Bruder hat es getan, noch dennoch sah einer den andern an un jeglicher meint jener hat es getan. Schließlich konnt Kohel nix derkennen wer zwischen ihnen der Ganew (Dieb) war, denn sie waren nit klug genug derzu. So sagt das Kohel: »Wir können euch keinen Spruch machen, denn wir sind nit klug genugen. Aber unsere Meinung is, ihr sollt zum Rabbi ziehn, der da is nit weit von hinnen. Derselbige is ein geschwinder Baalthauro (Schriftgelehrter), der wird euch helfen können, daß ihr voneinanderkommt.« So ziehten sie alle drei miteinander zu dem Raw. Un da sie nahend zu der Stadt kamen, da der Raw in wohnt, da kam ein Jud zu laufen un fragt sie, ob sie kein Pferd haben vernommen. Da hebt der Jüngste an: »Is es nit weiß gewesen?« Da sagt der Jud ja. Da sagt er: »Dorten in dem Wald is es gelaufen«, Da hebt der andere Bruder an: »Is es nit an einem Aug blind gewesen?« Da hub der jüngste Bruder an: »Hat es nit zwei Flaschen getragen, eine mit Öl und die[289] andere mit Wein?« Da hebt er an: »Ja, es is in jenen Wald gelaufen,« wiewol sie das Pferd mit Augen nit gesehen haben, noch gleichwol wußten sie, wie es war. Lesof (schließlich) lauft der Jud in jenen Wald nach seinem Pferd. Aber er konnt es nit finden. Da lauft er den drei Brüdern wieder nach, un fragt sie, wo sie in der Herberg waren. Da beschickt er sie vor den Raw. Also kamen sie vor den Raw. Da hebt der Jud an: »Rabbi, ich hab ein Pferd verloren un eine Satteltasch mit Geld. So bin ich meinem Pferd nachgelaufen. So sind mir die drei begegnet. So hab ich sie gefragt ob sie nit ein Pferd gesehen haben. Da haben sie gesagt, ja, un haben mir all die Simonim (Zeichen) gesagt, un sie haben mich geheißen in jenen Wald laufen, da werd ich mein Pferd finden. Also bin ich dem Pferd nachgelaufen, hab aber keines gefunden. Nun sagt ich, fürwahr, sie haben die Satteltasch genommen un haben das Pferd lassen laufen. Derhalben begehr ich mein Geld wieder. Un ich will auch wissen, wo sie mein Pferd haben hingetan.« Da hebten die drei Brüder an: »Lieber Rabbi, wir haben kein Pferd gesehen oder gehört.« Da fragt sie der Rabbi: »Wie habt ihr denn die Simonim gesehen?« Da sagten die drei Brüder: »Das wollen wir euch sagen. Ich hab gesehen, das Pferd is weiß gewesen. Das hab ich darum gewußt, derweil ich in seine Händ hab gesehen den Zaun tragen, so hab ich gesehen weiße Haare dran kleben, also muß es sein weiß gewesen.« Da hebt der andere Bruder an: »Daß ich hab gesagt, das Pferd is auf einem Aug blind gewesen, das hab ich gesehen an seinem Gang, denn wenn es hat Gras gessen, so hat es das böse Gras (Unkraut) gessen un das gute hat es stehn lassen, un das als auf einer Seit. Da hab ich mir wol gedacht, es muß blind an einem Aug sein gewesen.« Da hebt der Raw zu dem Jüngsten an: »Wie hast du gewußt, daß es zwei Legel getragen hat, eine mit Wein un eine mit Öl?« Da hebt der Jüngste an: »Das will ich euch sagen. Öl steht still un Wein trocknet ein. So muß er gewiß zwei Legel getragen haben. Den Handel haben wir als auf dem Weg gesehen. Aber daß wir es mit unsern Augen sollten gesehen haben, das wird sich nimmer mehr befinden.« So sah das Raw, daß sie große Chachomim (Weise) waren. Da schafft er den Jehuden ab un fragt, was sie miteinander zu tun hätten. Da sagten sie dem Raw, was sie für einen Zank miteinander hätten. Un er sollt ihnen einen Psak (Entscheidung) drüber geben. So hebten sie an zu erzählen, was jeder zu erzählen hat. Wie sie nun so erzählt hatten, da hebt der Raw an: »Liebe Leut, ihr müßt eine Weil hier bleiben, denn der Psak is nit aus einem Ärmel herauszuschütteln.« Aber doch verstund er den Handel gar wol, un sagt wider sie: »Ich seh wol, daß ihr drei kluge Männer seid. Darum muß ich euch ein Jnjen (Verhör) frägen, welcher mir von Mizrajim (Egypter) is hergeschrieben worden. Un ihr sollt mir ein Ezeh (Rat) dazu geben. Seht, in Mizrajim sind gewesen zwei[290] Baalbatim (Hausväter), sehr reiche Leute. Un ein jeder hat gehabt ein einziges Kind. Also sind sie miteinander versprochen worden, derweil sie noch beide in der Wiegen sind gelegen. Schließlich sind den Kindern ihre Vaters alle beide gestorben un ein jeder hat seinem Kind dreimalhunderttausend Kronen gelassen. Aber der Jung is gar ungeraten gewesen un hat all das Seinige vertan, daß er nit mehr hat gehabt einen Schuß (Maß zum Geld zählen) sogar. Aber das Maidel is ein Tachschit (Kleinod) gewesen mit allen Dingen, was man hat können derdenken. Sogar mit Schönheit is seinesgleichen nit gewesen. Nun, da es so weit kam, daß sie alle beide vierzehn Jahr alt waren, also haben sie sollen Chassene (Hochzeit) machen. Also ließ das Maidel dem Choßen (Bräutigam) entbieten, daß er sich rüsten soll auf die Broche (Hochzeit) gleich wie ihre Schtaroth (Ausweise) ausweisen. So hat der Jung dem Maidel wieder entboten, er wollt nit kommen, sie sollt in Gottes Namen einen andern nehmen, der ihr wollt gefallen. Denn es wär genugen, daß er das Seinige hätt durchgebracht. So dünkt ihm, es wär besser, daß er alleins sollt in Armut leben, als daß er sie auch sollt in Armut bringen. Schließlich ließ das Maidle einen armen Bocher (Jungen) rufen, der gar wol lernt, un sagt zu ihm: ›Sieh, ich will dich nehmen, aber doch will ich voraus nehmen, ich will vorher zu meinem vorigen Choßen dreimal gehn, un will ihn frägen, ob er unsere Vaters Befehl will halten un ob er mich jetzunder will entspusen (verloben). Un wenn er nit wird wollen, so sollst du mein rechter Choßen sein un will mit dir, will's Gott, zur Chuppe (Trauung) gehn.‹« Mein guter armer Choßen war die Akurd (Abmachung) gar wol zufrieden. So legten sie bemasel tow (zum guten Glück) das Knaß (Verlobungszeremonie). Nach dem Knaß legt sich das Maidel in Samt un Seide an un ging selbert zu ihrem ersten Choßen un sprach: »Lieber Choßen, ich bitt dich, brech nit unsere Vaters Zwoe, derweil sie uns beide zusammen gegeben haben. Du bedarfst nit zu sagen, ich hab Geld un Gut genugen, spielst du, wir uns wollen doch können dernähren. Wirst du wollen Huren nachgehn, so bin ich genugen für dich.« Da sagt der Choßen: »Ich kann meine niwsike (unschöne) Stück nit lassen, ich will dir deinen Mammon nit vertun, daß wir, Gott bewahre, alle beide in Armut kommen.« So ging das Maidel wieder seiner Straß. Über acht Tag kam die Kalle (Braut) wieder, un hat sich angetan in Silber un Gold un bittet den Choßen noch mehr, daß er doch den Befehl sollt halten. Der Choßen gab ihr die Antwort wieder wie vor. Über acht Tag ging die Kalle wieder zum Choßen in eitel Edelsteinen un Perlen un nahm ein Schuß voll mit Kronen, un ging zum ersten Choßen un sprach: »Ich bitt dich, nimm mich un halt unser Eltern Befehl, wir haben Geld genug.« Da sprach der Choßen: »Gott geb dir Glück un Segen, nimm du wen du willst, ich verzeih dir's, denn ich kann die Awere nit tun, daß ich dich[291] soll betrüben un dich um das Deinige soll bringen.« Schließlich, da das Maidel sah, daß ihr erster Choßen nit wollt, da ging das Maidel hin un macht mit dem Bocher Hochzeit un machten eine köstliche Chassene (Hochzeit) gleich wol zu gedenken is bei einem solchen Mammon. Endlich, da man sollt Choßen un Kalle schlafen führen, so mußt man sie über die Gaß führen, denn in dem Breiluft-Haus konnten sie nit liegen. Nun war zu Mizrajim viele Gaslonim (Räuber), die auf Choßen un Kalle warten. Un nahmen Choßen un Kalle mit Gewalt weg, daß niemand wußt wo sie sind hingekommen. Da war unter den Gaslonim ein Rosche, ein alter Bösewicht, der wollt die Kalle mit Gewalt nehmen. Die Kalle wollt ihn nit lassen bei sich liegen un sagt: »Willst du wegen einer kleinen Weile den Anteil an das Aulom habo (die künftige Welt) verlieren?« Schließlich derbarmt sich der Rosche über die Kalle un schickt sie wieder weg (mit Frieden, mit Gestilung, mit Versicherung) un mit allem ihren Gut. Nun hat mir der Raw von Mizrajim geschrieben, welcher unter den dreien der beste war gewesen: der Choßen, oder die Kalle, oder der Räuber? Nun weiß ich nit, welcher der beste is. Nun seh ich wol, daß ihr drei große Chachomim seid, so gebt mir eine Ezeh (Rat). Un dernach will ich euern Spruch geben. Da hebt der erste Bruder an: »Der erste Choßen is der Beste, daß er den Mammon nit hat wollen vertun.« Da hebt der mittelste Bruder an: »Die Kalle is die Beste, daß sie die Zwoe nit hat wollen brechen.« Da hebt der jüngste Bruder an: »Der Räuber is der Beste, daß er hat seinen Jezerhore (bösen Trieb) hat abgewiesen un hat sie friedlich heimgehn lassen. Un zum andern muß er ein großer Narr gewesen sein, daß er das Mammon nit genommen hat. Der Narr hätt wol das Geld können behalten.« Da hebt der Rabbi an: »Gelobt sei Gott, der nix unverschwiegen läßt. Hör, du junger Bösewicht, sieh das Geld, das du nit hast gesehen, hast du Lust derzu gehabt, um wie viel mehr das Geld, das du gesehen hast, da hast du gewiß Lust derzu gehabt. Derhalben fangt den Dieb. Denn er hat das Geld aus dem Kasten genommen.« So fingen sie un verhörten ihn. So hat er als gestanden, wie er den Schlüssel hat lassen nachmachen, un so schwer Geld er heraus genommen hat, so schwer Steine un Blei hat er wieder hinein gelegt. So kam der Raw durch seine Chochme auf den Schauresch (Wurzel, Grund) wer es getan hat. So kam der jüngste Sohn in große Armut. Un den andern Brüdern ging es wol, weil sie ihres Vaters Zwoe hatten gehalten.

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 288-292.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Holz, Arno

Die Familie Selicke

Die Familie Selicke

Das bahnbrechende Stück für das naturalistische Drama soll den Zuschauer »in ein Stück Leben wie durch ein Fenster« blicken lassen. Arno Holz, der »die Familie Selicke« 1889 gemeinsam mit seinem Freund Johannes Schlaf geschrieben hat, beschreibt konsequent naturalistisch, durchgehend im Dialekt der Nordberliner Arbeiterviertel, der Holz aus eigener Erfahrung sehr vertraut ist, einen Weihnachtsabend der 1890er Jahre im kleinbürgerlich-proletarischen Milieu.

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon